»Und Sie sagen, Sie können sich hinaufwagen?«
»Ja, es sind ein oder zwei Fußpfade vorhanden, die ein sehr gewandter Mann benutzen kann. Ich habe sie aufgefunden.«
»Aber warum begeben Sie sich denn auf einen so fürchterlich gefährlichen Boden?«
»Je nun; sehen Sie die Hügel dahinten? Das sind richtige Inseln, seit Jahren auf allen Seiten von dem ungangbaren Sumpf umschlossen. Da findet man die seltensten Pflanzen und Schmetterlinge, wenn man hinzugelangen weiß.«
»Da werde ich auch nächstens mal mein Glück versuchen.«
Er sah mich mit ganz verdutztem Gesicht an und rief:
»Schlagen Sie sich um Gottes willen einen solchen Gedanken aus dem Sinn! Ihr Blut würde über mein Haupt kommen! Ich versichere Ihnen, Sie hätten nicht die geringste Aussicht, lebendig wieder zurückzukommen. Auch ich vermag das nur, indem ich mir mehrere sehr schwer zu beschreibende Kennzeichen gemerkt habe.«
»Hallo!«, rief ich. »Was ist denn das?«
Ein langes tiefes Stöhnen von unbeschreiblich traurigem Ausdruck schwebte gleichsam über das Moor zu uns heran. Es erfüllte die ganze Luft, und doch war es unmöglich, genau zu sagen, woher es kam. Erst war es wie ein eintöniges Geflüster, dann schwoll es an zu einem tiefen Brüllen und verhallte wieder zu einem melancholischen, zitterigen Flüstern. Stapleton sah mich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an und sagte:
»Sonderbarer Ort, dieses Moor!«
»Aber was ist es denn?«
»Das Landvolk sagt, es sei der Hund von Baskerville, der nach seiner Beute brüllt. Ich habe es bisher ein- oder zweimal gehört, aber niemals so laut.«
Ein Angstgefühl machte mir das Herz kalt, ich blickte rings um mich auf die gewaltige, von grünen Stellen übersprenkelte Ebene. Nichts regte sich auf der weiten Fläche als ein paar Raben, die mit lautem Gekrächz auf einer Felsspitze hinter uns saßen.
»Sie sind ein wissenschaftlich gebildeter Mann«, sagte ich. »Sie glauben doch nicht an einen solchen Unsinn? Was ist nach Ihrer Meinung die Ursache des seltsamen Tones?«
»Morastlöcher bringen manchmal sonderbare Geräusche hervor. Es kommt von herabsinkendem Schlamm oder vom aufsteigenden Wasser oder etwas anderem ähnlichen.«
»Nein, nein, das war die Stimme eines lebendigen Wesens!«
»Nun, vielleicht war es das. Haben Sie schon mal eine Rohrdommel brüllen gehört?«
»Nein, niemals!«
»Der Vogel ist in England jetzt sehr selten, man kann sagen, ausgestorben; aber auf dem Moor ist alles möglich. Ja, ich sollte mich nicht wundern, wenn sich feststellen ließe, dass der eben vernommene Ton der Schrei der letzten Rohrdommel war.«
»Ich habe nie in meinem Leben so etwas Sonderbares, Geisterhaftes gehört!«
»Ja, es ist eine recht unheimliche Gegend! Sehen Sie mal nach der Hügelreihe drüben. Was sehen Sie da?«
Der ganze steile Abhang war mit mindestens zwanzig ringförmigen grauen Steinbauten bedeckt.
»Was sind das denn für Dinger? Schafhürden?«
»Nein, es sind Heimstätten unserer würdigen Vorväter. In der vorgeschichtlichen Zeit war das Moor dicht von Menschen bevölkert, und da später niemand mehr da gewohnt hat, finden wir ihre ganze häusliche Einrichtung so, wie sie sie verlassen haben. Das sind ihre Wigwams ohne Dächer. Sie können sogar noch ihre Kochherde und ihre Lagerstätten sehen, wenn die Neugierde Sie hineinführt.«
»Aber das ist ja eine richtige Stadt! Wann war sie bewohnt?«
»In der neueren Steinzeit – Datum unbekannt.«
»Was taten die Menschen hier?«
»Sie weideten ihr Vieh auf diesen Abhängen; dann lernten sie nach Zinn graben, als das Bronzeschwert das Steinbeil zu verdrängen begann. Sehen Sie da die tiefe Grube am gegenüberliegenden Hügel? Das sind ihre Spuren. Ja, Sie werden allerlei absonderliche Sachen auf unserem Moor finden, Herr Doktor! Oh, entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ganz gewiss ist das ein Cyklopides!«
Ein kleiner Käfer oder Falter war vor uns über den Weg geflattert, und in einem Augenblick rannte Stapleton mit außerordentlicher Schnelligkeit und Gewandtheit hinter demselben her. Zu meinem Bedauern flog das kleine Ding auf den Morast zu, aber mein neuer Bekannter sprang, ohne sich zu besinnen, von einem Grasbüschel zum anderen, dass sein grünes Schmetterlingsnetz in der Luft flatterte. Ich sah ihm nach mit einem gemischten Gefühl von Bewunderung für seine außergewöhnliche Gewandtheit und von Furcht, er möchte den festen Grund unter den Füßen verlieren und in den trügerischen Morast hineingeraten. Plötzlich hörte ich Schritte und sah, als ich mich umdrehte, dicht vor mir auf dem Fußsteig eine weibliche Gestalt. Sie war aus der Richtung gekommen, in welcher, nach der Rauchsäule zu urteilen, Merripit House lag, aber die Bodenerhebung des Moores hatte sie meinen Blicken verborgen, bis sie ganz dicht bei mir war.
Ich konnte nicht daran zweifeln, dass ich Miss Stapleton, von der ich schon gehört hatte, vor mir sah; denn Damen mussten überhaupt sehr selten auf dem Moor sein, und ich erinnerte mich, dass von ihr als einer Schönheit gesprochen worden war. Eine Schönheit war die auf mich zukommende Frau ganz sicherlich, und zwar eine Schönheit ganz eigener Art. Man konnte sich keine größere Unähnlichkeit denken als zwischen diesem Geschwisterpaar; Stapleton hatte helles Haar und graue Augen, wie man’s jeden Tag sieht, sie dagegen war die dunkelste Brünette, die ich bis dahin in England gesehen hatte – schlank, groß, elegant. Ihr stolzes, feingeschnittenes Antlitz war so regelmäßig, dass man es hätte für ausdruckslos halten können, wären nicht die schönen Lippen und die lebhaften dunkeln Augen gewesen. Mit ihrer tadellosen Figur und eleganten Toilette war sie in der Tat eine eigenartige Erscheinung auf einem einsamen Moorfußpfad. Ihre Augen folgten ihrem Bruder, als ich mich umdrehte; dann beschleunigte sie ihren Schritt und kam auf mich zu. Ich hatte meinen Hut gelüftet und wollte einige erklärende Worte sagen, aber ihre Anrede lenkte alle meine Gedanken in eine neue Bahn.
»Reisen Sie ab!«, sagte sie. »Reisen Sie augenblicklich wieder nach London!«
Ich starrte sie völlig verblüfft und sprachlos an. Ihre Augen blitzten mich an, und sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.
»Erklärungen kann ich nicht geben.«
Sie sprach schnell, mit tiefer Stimme, an der ein eigentümliches Lispeln mir auffiel.
»Um des Himmels willen, tun Sie doch, worum ich Sie bitte! Reisen Sie ab und setzen Sie niemals wieder Ihren Fuß auf das Moor!«
»Aber ich bin ja gerade erst angekommen!«
»Mann, Mann!«, rief sie. »Können Sie nicht auf eine Warnung hören, die zu Ihrem eigenen Besten ist? Gehen Sie wieder nach London! Reisen Sie heute Abend noch ab! Entfernen Sie sich unter allen Umständen von diesem Ort ... Schscht! Da kommt mein Bruder. Lassen Sie von meiner Warnung kein Wort gegen ihn verlauten. Wollen Sie so freundlich sein, mir die Orchidee dort hinten zwischen den Schachtelhalmen zu pflücken? Wir sind hier auf dem Moor sehr reich an Orchideen; freilich sind Sie ein bisschen spät im Jahr gekommen, um noch alle Schönheiten unserer Gegend sehen zu können.«
Stapleton hatte die Jagd aufgegeben und kam mit heißen Wangen und schwerem Atem zu uns zurück.
»Sieh da, Beryl!«, sagte er, und es kam mir vor, als klänge der Ton seiner Begrüßung nicht gerade sehr herzlich.
»Nun, Jack, du bist ja recht erhitzt!«
»Ja, ich war auf der Jagd hinter einem Cyclopides. Er ist sehr selten, besonders im Spätherbst. Schade, dass ich ihn nicht fangen konnte!«
Er sprach in gleichgültigem Ton, aber seine kleinen, hellen Augen wanderten dabei fortwährend zwischen dem Mädchen und mir hin und her.
»Sie haben sich selbst bekannt gemacht, wie ich sehe«, fuhr er fort.
»Ja. Ich sagte gerade zu Sir Henry, er sei ein bisschen spät gekommen, um die eigenartige Schönheit des Moors zu sehen.«
»Sir Henry? Für wen hältst du denn den Herrn hier?«
»Ich denke, er muss Sir Henry Baskerville sein.«
»Nein, nein!«, rief ich. »Ich bin ein schlichter Bürgerlicher; aber ich bin sein Freund. Mein Name ist Dr. Watson.«
Eine Blutwelle des Ärgers schoss über ihr ausdrucksvolles Gesicht, und sie sagte: »Unser Gespräch war also ein Missverständnis.«
»Na, zu einem Gespräch hattest du nicht viel Zeit«, bemerkte ihr Bruder, wieder mit einem forschenden Blick.
»Ich sprach, als wäre Dr. Watson ein Bewohner unserer Gegend statt eines Besuchers«, sagte sie. »Ihm muss es ziemlich gleichgültig sein, ob die Jahreszeit früh oder spät für Orchideen ist ... Aber Sie kommen doch gewiss mit nach Merripit House?«
Es war nur noch ein kurzer Weg bis zu dem nüchtern aussehenden echten Moorlandhaus, das früher der Gutshof eines wohlhabenden Viehzüchters gewesen, jetzt aber im Innern zu einem modernen Wohnhaus umgebaut war. Ein Obstgarten umgab es, aber die Bäume waren verkümmert und verkrüppelt, und das Ganze machte einen ungemütlichen und melancholischen Eindruck. Der alte verschrumpfte Diener in schlecht sitzender Livree, der uns empfing, passte zu seiner Umgebung.
Das Haus enthielt indessen geräumige Zimmer, die mit einer Eleganz eingerichtet waren, in der ich den Geschmack einer Dame zu erkennen glaubte. Ich warf durch das Fenster einen Blick auf das unendliche, mit Granitblöcken übersäte Moor, das sich ohne Unterbrechung bis zum fernen Horizont erstreckte, und ich musste unwillkürlich bei mir denken: was kann denn nur einen feingebildeten Mann und ein schönes Mädchen veranlasst haben, sich eine solche Gegend als Wohnort auszusuchen?
»Nicht wahr, ein sonderbarer Wohnsitz?«, fragte er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Und trotzdem fühlen wir uns hier ganz hübsch glücklich – was, Beryl?«
»Sehr glücklich«, erwiderte sie; aber ihre Worte klangen nicht eben überzeugend.
»Ich hatte eine Schule«, fuhr Stapleton fort, »da oben im Norden. Die eintönige Arbeit war für einen Mann von meiner Geistesanlage nicht gerade interessant, aber ich empfand es doch als ein großes Glück, täglich mit dem jungen Volk zu verkehren, die Knabenseelen zu formen und sie mit meinen eigenen Idealen zu erfüllen. Leider war das Schicksal uns feindlich gesinnt. Eine gefährliche Epidemie brach in der Schule aus, und drei von den Knaben starben uns. Von diesem Schlag vermochte die Anstalt sich nicht wieder zu erholen, und der größte Teil meines Kapitals war unwiederbringlich verloren. Der Verlust des prächtigen Umgangs mit meinen Jungen war mir sehr schmerzlich; aber davon abgesehen möchte ich mich über mein Missgeschick beinahe freuen, denn ich finde hier ein unbegrenztes Arbeitsfeld für mein großes Interesse an Botanik und Zoologie, und meine Schwester liebt die Natur ebenso wie ich. Diese lange Rede, Herr Doktor Watson, hat sich nun über Ihrem Haupt entladen, weil sie mit so nachdenklicher Miene auf das Moor hinaussahen.«
»Es ging mir allerdings durch den Sinn, es möchte hier wohl ein bisschen langweilig sein – weniger vielleicht für Sie als für Ihre Schwester.«
»O nein, ich langweile mich niemals!«, rief sie schnell.
»Wir haben unsere Bücher, unsere Studien, und wir haben interessante Nachbarn. Dr. Mortimer ist in seinem Fach ein sehr gelehrter Herr. Der arme Sir Charles war ebenfalls ein prächtiger Gesellschafter. Wir kannten ihn gut und vermissen ihn mehr, als ich Ihnen sagen kann. Glauben Sie, dass ich ungelegen käme, wenn ich schon heute Nachmittag nach Baskerville Hall ginge und Sir Henrys Bekanntschaft machte?«
»Gewiss nicht; er wird im Gegenteil sich sehr freuen.«
»Dann sind Sie vielleicht so gut, ihm zu sagen, dass ich die Absicht habe. Wir können vielleicht unser Teilchen dazu beitragen, ihm die Eingewöhnung in der neuen Umgebung zu erleichtern. Wollen Sie mit nach oben kommen, Herr Doktor, und sich meine Schmetterlingssammlung ansehen? Ich glaube, sie ist die vollständigste im südwestlichen England. Bis Sie damit fertig sind, wird das Essen wohl bereit sein.«
Aber es trieb mich, wieder zu Sir Henry zu kommen. Die Melancholie der Moorlandschaft, der Tod des armen Pferdes, der geisterhafte Ton, der am hellen Mittag die grausige Sage von dem Höllenhund wieder heraufbeschworen hatte – dies alles gab meinen Gedanken einen traurigen Anstrich. Dann war zu allen diesen mehr oder weniger unbestimmten Eindrücken Miss Stapletons deutliche und gar nicht misszuverstehende Warnung gekommen; sie hatte mit so eindringlichem Ernst gesprochen, dass ohne Zweifel gewichtige Gründe dazu vorhanden waren. Ich lehnte deshalb trotz allem Drängen die Einladung zum Frühstück ab und machte mich sofort auf den Rückweg.
Ich ging den grasbewachsenen Fußsteig, auf welchem wir gekommen waren; es musste aber doch wohl noch einen kürzeren Richtweg geben, der den Eingeweihten bekannt war; denn bevor ich die Landstraße wieder erreicht hatte, sah ich zu meinem Erstaunen Miss Stapleton auf einem großen Stein neben dem Fußweg sitzen. Ihr Gesicht war von eiligem Lauf gerötet, wodurch sie übrigens noch schöner erschien, und sie hielt ihre Hand auf das Herz gepresst.
»Ich bin den ganzen Weg gelaufen, um Sie zu überholen, Herr Doktor«, sagte sie. »Ich hatte nicht mal so viel Zeit, um mir meinen Hut aufzusetzen. Lange darf ich mich nicht aufhalten, sonst würde mein Bruder meine Abwesenheit bemerken. Ich wollte Ihnen sagen, wie leid mir mein dummes Versehen tut, dass ich Sie für Sir Henry hielt. Bitte vergessen Sie meine Worte, die für Sie durchaus keine Bedeutung haben.«
»Aber ich kann sie nicht vergessen, Miss Stapleton!«, antwortete ich. »Ich bin Sir Henrys Freund, und sein Wohlergehen liegt mir sehr am Herzen. Sagen Sie mir, warum Sie so dringend auf Sir Henrys Rückkehr nach London bestanden?«
»Eine Weiberlaune, Herr Doktor! Wenn Sie mich näher kennen, werden Sie sehen, dass ich nicht immer imstande bin, für meine Worte oder Handlungen Gründe anzugeben.«
»Nein, nein! Der Ton Ihrer Stimme klingt mir noch in den Ohren! Ihr Blick steht mir noch vor Augen! Bitte, bitte, seien Sie offen gegen mich, Miss Stapleton; denn seit meiner Ankunft hier fühle ich mich von seltsamen Schatten umgeben. Das Leben kommt mir vor wie das große Grimpener Moor mit seinen unzähligen grünen Morastfleckchen, in die man versinken kann. Und nirgends ein Führer, um uns den Pfad zu weisen! Bitte sagen Sie mir, was Ihre Worte bedeuteten, und ich verspreche Ihnen, Ihre Warnung an Sir Henry zu bestellen.«
Ein Ausdruck von Unentschlossenheit glitt einen Augenblick über ihr Gesicht; aber ihre Augen hatten bereits wieder ihren harten kalten Glanz gewonnen, als sie mir antwortete:
»Sie legen meinen Worten eine zu große Bedeutung bei, Herr Doktor. Meinem Bruder und mir ging Sir Charles’ Tod sehr nahe. Wir hatten sehr vertrauten Umgang mit ihm, denn sein Lieblingsweg führte ihn über das Moor nach unserem Haus. Er fühlte sehr tief den Fluch, der über seinem Geschlecht hing; als dann sein tragisches Ende kam, da hatte ich den ganz natürlichen Eindruck, seine oftmals geäußerten Befürchtungen könnten nicht ganz unbegründet gewesen sein. Es machte mir daher Angst, dass wiederum ein Angehöriger seines Geschlechtes hier wohnen wollte, und ich hatte das Gefühl, ich müsste ihn vor der ihm drohenden Gefahr warnen. Weiter beabsichtigten meine Worte nichts.«
»Aber worin besteht die Gefahr?«
»Sie kennen die Geschichte von dem Hund?«
»An solchen Unsinn glaube ich nicht!«
»Aber ich! Wenn Sie irgendwelchen Einfluss auf Sir Henry haben, bringen Sie ihn weg von einem Ort, der seinem Geschlecht stets verhängnisvoll gewesen ist. Die Welt ist groß. Warum soll er denn gerade an einem so gefährlichen Ort leben wollen?«
»Eben weil der Ort gefährlich ist. Das ist Sir Henrys Natur. Ich befürchte, wenn Sie mir keine bestimmtere Auskunft geben, werde ich ihn keinesfalls zum Fortgehen bewegen können.«
»Irgendetwas Bestimmtes kann ich nicht sagen, denn ich weiß nichts.«
»Ich möchte an Sie noch eine Frage richten, Miss Stapleton. Wenn Sie mit Ihren ersten Worten, die Sie zu mir sagten, nur eine so unbestimmte Warnung beabsichtigten, warum waren Sie denn so ängstlich besorgt, Ihren Bruder nichts davon hören zu lassen? Es liegt in ihnen nichts, wogegen er oder sonst ein Mensch etwas einwenden könnte.«
»Meinem Bruder liegt viel daran, dass Baskerville Hall bewohnt ist; er glaubt, das sei zum Vorteil unserer armen Moorleute. Er würde sehr ärgerlich sein, wenn er wüsste, dass ich irgendetwas sagte, was Sir Henry zum Fortgehen veranlassen könnte ... Aber ich habe jetzt meine Pflicht getan und will nichts mehr sagen. Ich muss jetzt nach Hause; sonst merkt er, dass ich fort war, und wird mich im Verdacht haben, dass ich mit Ihnen gesprochen habe. Leben Sie wohl!«
Sie drehte sich um und war in wenigen Minuten hinter den Granitblöcken verschwunden. Ich dagegen setzte meinen Weg nach Baskerville Hall fort, das Herz von unbestimmten Befürchtungen erfüllt.
Von jetzt an will ich dem Gang der Ereignisse anhand meiner an Sherlock Holmes gerichteten Briefe folgen. Sie liegen vor mir auf meinem Schreibtisch. Ein Blatt fehlt; sonst aber teile ich sie genau so mit, wie sie geschrieben wurden, denn sie geben meine wechselnden Gefühle und Verdachtsgründe getreuer wieder, als es meinem Gedächtnis möglich wäre, obwohl auch dieses die tragischen Ereignisse klar und deutlich aufbewahrt hat:
Baskerville Hall, den 13. Oktober.
Mein lieber Holmes,
meine bisherigen Briefe und Depeschen haben Sie so ziemlich auf dem Laufenden gehalten, und Sie wissen wohl alles, was in diesem höchst gottverlassenen Erdenwinkel vorgeht. Je länger man hier bleibt, desto tiefer drückt sich der Geist des Moors der Seele ein, seine Ode und auch sein schauriger Reiz. Hat man sich ihm einmal zu eigen gegeben, ist man vom modernen England völlig abgeschnitten; dafür lernt man aber die Wohnstätten und den Tageslauf des vorgeschichtlichen Menschen umso genauer kennen. Wohin man geht, überall stößt man auf die Häuser dieses längst verschollenen Volkes, auf ihre Gräber und die großen Steinblöcke, die man für die Markstätten ihrer Tempel hält. Sieht man ihre grauen Steinhütten an den Hügelabhängen, vergisst man die Zeit, worin man selber lebt; und käme aus der niederen Tür ein fellbehangener, behaarter Mann herausgekrochen, der seinen Pfeil mit Flintsteinspitze auf die Bogensehne legte – seine Anwesenheit würde einem ganz natürlich vorkommen. Das Sonderbarste ist die Frage, wie sie so dicht gedrängt auf einem Boden haben leben können, der zu allen Zeiten höchst unfruchtbar gewesen sein muss. Ich bin kein Altertumsforscher, aber ich möchte glauben, sie waren ein unkriegerisches, von vielen Feinden geplagtes Volk, das wohl oder übel mit dem zufrieden sein musste, was kein anderer begehrte.
Doch dies alles hat mit der mir von Ihnen übertragenen Sendung nichts zu tun und wird wahrscheinlich Ihrem streng aufs Praktische gerichteten Geist sehr wenig interessant vorkommen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie völlig gleichgültig es Ihnen war, ob die Sonne sich um die Erde oder ob die Erde sich um die Sonne bewegt. Ich will mich also wieder den mit Sir Henry Baskerville in Verbindung stehenden Tatsachen zuwenden. Dass Sie in den letzten Tagen keinen Bericht erhielten, erklärt sich daraus, dass nichts von Bedeutung zu melden war. Dann aber trat ein ganz überraschender Umstand ein, mit welchem ich Sie im Verlauf meiner Darstellung bekannt machen werde. Vor allen Dingen aber muss ich Sie mit einigen anderen Momenten in Fühlung bringen. Eines von diesen ist die von mir bisher nur flüchtig erwähnte Entweichung des Zuchthäuslers von Princetown. Er hatte das Moor erreicht; jetzt ist aber mit gutem Grund anzunehmen, dass er die Gegend gänzlich verlassen hat, was für die einsam wohnenden Landleute dieser Gegend eine froh empfundene Erleichterung von schwerer Sorge ist. Seit seiner Flucht sind zwei Wochen vergangen, und während dieser ganzen Zeit hat man von ihm weder etwas gesehen noch gehört. Dass er diese vierzehn Tage über sich auf dem Moor habe halten können, erscheint ausgeschlossen. Verbergen hätte er sich natürlich mit der größten Leichtigkeit können. Jede beliebige Steinhütte von dem prähistorischen Volk könnte ihm als Versteck dienen. Aber er würde nichts zu essen finden, wenn er nicht etwa ein Moorschaf finge und schlachtete. Wir glauben daher, dass er fort ist, und die Pächter am Moorrand schlafen jetzt wieder viel besser.
Wir im Schloss sind vier rüstige Männer, könnten uns also eines Angriffes leicht erwehren; aber ich gestehe, dass ich mir um die Stapletons Unruhe und Sorge gemacht habe. Sie wohnen meilenweit von jeder menschlichen Hilfe entfernt. In ihrem Haus sind ein Dienstmädchen, der alte Diener, die Schwester und der Bruder, und dieser letztere ist kein sehr kräftiger Mann. Sie wären widerstandsunfähig, sobald ein verzweifelter Bursche, wie der Mörder von Notting Hill, in ihr Haus eingedrungen wäre. Sir Henry begriff ebenso gut die Gefährlichkeit ihrer Lage und schlug ihnen vor, den Stallknecht Perkins zu ihnen zu schicken, um in Merripit House zu schlafen, aber Stapleton wollte nichts davon wissen.
Es lässt sich nicht leugnen, dass unser Freund, der Baronet, ein bedeutendes Interesse an unserer schönen Nachbarin zu zeigen beginnt. Das ist auch kein Wunder, denn einem so sehr an Tätigkeit gewöhnten Mann wie Sir Henry muss hier wohl die Zeit lang werden, und sie ist ein bezaubernd schönes Weib. Sie hat etwas Tropisches, Exotisches an sich, was in eigenartiger Weise von dem kühlen und verstandesmäßigen Wesen ihres Bruders absticht. Doch muss ich manchmal denken, dass auch in ihm verborgenes Feuer glüht. Ganz gewiss übt er auf sie einen sehr bedeutenden Einfluss aus, denn ich habe bemerkt, dass sie beim Sprechen fortwährend nach ihm hinsieht, als wollte sie bei jedem Wort, das sie sagt, sich seines Einverständnisses versichern. Ich will hoffen, dass er sie freundlich behandelt. In seinen Augen liegt ein kalter Glanz, und um seine dünnen Lippen zeigt sich ein fester Zug; beides lässt auf einen bestimmten und möglicherweise etwas herben Charakter schließen. Sie würden ihn mit Interesse näher studieren.
Schon am ersten Tag machte er Sir Henry seinen Besuch, und gleich am anderen Morgen nahm er uns mit zu der Stelle, wo der Sage nach der verruchte Hugo seinen Tod fand. Der Ort liegt ein paar Meilen jenseits des Moors und macht einen so traurigen Eindruck auf das Gemüt, dass man das Entstehen der Sage sehr wohl begreift. Zwischen schroffen Felsen führt ein kurzes Tal auf einen offenen grasbewachsenen Raum, in dessen Mitte zwei große Steine mit scharfen Spitzen wie die riesigen Fangzähne eines ungeheuren Raubtiers aus dem Boden emporragen. Der Platz entspricht in jeder Beziehung der Szene der alten Tragödie, wie die Sage sie überliefert hat. Sir Henry fragte Stapleton mehr als einmal, ob er wirklich an die Möglichkeit glaube, dass übernatürliche Mächte sich in die Geschicke sterblicher Menschen einmischen könnten. Er sagte das in scherzendem Ton, aber es war leicht zu merken, dass er die Sache vollkommen ernst meinte. Stapleton war in seinen Antworten vorsichtig; er sagte offenbar nicht alles, was er dachte, und hielt mit seiner wahren Meinung aus Rücksicht auf die Gefühle des Baronets zurück. Er erzählte von ähnlichen Fällen, wobei Familien unter solchen Verfolgungen zu leiden gehabt hätten, und wir hatten den Eindruck, dass er den Volksglauben in diesem Fall vollkommen teile.
Auf dem Rückweg kehrten wir zum Frühstück in Merripit House ein, und hier machte Sir Henry Miss Stapletons Bekanntschaft. Vom ersten Augenblick an schien er sich stark zu ihr hingezogen zu fühlen, und ich müsste mich sehr irren, wenn das Gefühl nicht gegenseitig ist. Auf dem Heimweg fing er immer wieder an, von ihr zu sprechen, und seitdem ist kaum ein Tag vergangen, an dem wir das Geschwisterpaar nicht gesehen haben. Heute Abend speisen sie hier, und es ist davon die Rede, dass wir nächste Woche zu ihnen eingeladen werden sollen. Man sollte denken, eine solche Partie müsste Stapleton sehr willkommen sein, indessen habe ich mehr als einmal auf seinem Gesicht einen Ausdruck schärfster Missbilligung gelesen, wenn Sir Henry seiner Schwester irgendein Kompliment machte. Stapleton ist ihr freilich ohne allen Zweifel sehr zugetan und sein Leben würde ja sehr einsam werden, wenn sie von ihm ginge, aber es wäre doch der Gipfel der Selbstsucht, wenn er ihr bei einer so überaus glänzenden Heirat Hindernisse in den Weg legen wollte. Aber so viel steht für mich fest: Er wünscht nicht, dass ihr vertrauter Verkehr sich zu Liebe entwickelt, und ich habe verschiedene Male bemerkt, dass er sich bemühte, ein Zusammensein unter vier Augen zu verhindern. Nebenbei bemerkt, wird Ihre Weisung, ich dürfte Sir Henry niemals allein ausgehen lassen, noch viel lästiger werden, wenn zu unseren anderen Schwierigkeiten auch noch eine Liebesgeschichte hinzukäme. Meine Beliebtheit würde sehr bald ins Wanken geraten, wenn ich Ihre Vorschriften in diesem Punkt buchstäblich ausführte.
Neulich – um den Tag ganz genau zu bezeichnen: am Donnerstag – frühstückte Dr. Mortimer bei uns. Er hat in Long Down einen Grabhügel untersucht und einen prähistorischen Schädel gefunden, der ihn mit großer Freude erfüllt. Er ist ein ganz einzig dastehender Enthusiast! Nach dem Essen kamen auch die Stapletons, und der gute Doktor führte uns alle zur Taxusallee, um uns auf Sir Henrys Bitten genau zu erklären, wie der Vorgang in der verhängnisvollen Nacht sich abspielte.
Die Taxusallee ist ein langer öder Weg zwischen zwei hohen geschorenen Wänden; ein schmaler Grasstreifen befindet sich an jeder Seite. Ungefähr auf halbem Weg ist die Moorpforte, wo der alte Herr seine Zigarrenasche abgestreift hatte. Es ist eine weiße Lattentür, die mit einem Riegel verschlossen ist. Dahinter erstreckt sich das weite Moor. Ich erinnerte mich der von Ihnen aufgestellten Mutmaßung über den Hergang und versuchte mir ein Bild davon zu machen. Als der alte Herr an der Pforte stand, sah er irgendetwas über das Moor kommen, irgendein Etwas, das ihn so in Schrecken setzte, dass er die Besinnung verlor und rannte und rannte, bis er vor reiner Angst und Erschöpfung tot hinfiel. Was verfolgte ihn? Ein Schäferhund vom Moor? Oder ein schwarzer, schweigender, ungeheurer Gespensterhund? Waren Menschenhände dabei im Spiel? Wusste der wachsame blasse Barrymore mehr, als er sagen wollte? Alles ist schwankend und unbestimmt, aber überall steht der dunkle Schatten eines Verbrechens hinter diesem Rätsel.
Seitdem ich meinen letzten Brief schrieb, habe ich noch einen anderen Nachbarn kennengelernt: Mr Frankland von Laster Hall, vier Meilen von uns in südlicher Richtung gelegen. Er ist ein älterer Herr mit rotem Gesicht, weißem Haar und höchst cholerischer Gemütsanlage. Seine Leidenschaft ist das britische Recht, und er hat ein bedeutendes Vermögen in Prozessen draufgehen lassen. Er kämpft aus reiner Lust am Kampf und ist stets bereit, die eine oder die andere Seite eines Rechtsstreites zu seiner Sache zu machen; kein Wunder daher, dass er sein Vergnügen als recht kostspielig befunden hat. Zuweilen erlässt er ein Verbot, irgendeinen Weg zu benutzen; dann muss die Gemeinde erst einen Prozess führen, um die Öffnung desselben durchzusetzen. Dann wieder reißt er eigenhändig irgendein anderen Leuten gehörendes Torgatter nieder und behauptet, es habe seit undenklichen Zeiten an der betreffenden Stelle ein freier Weg existiert. Dann muss der Eigentümer ebenfalls erst einen Prozess führen, um ihn zur Buße zu ziehen.
Er besitzt bedeutende Kenntnisse von alten Rechten der verschiedenen Gemeinden und Gutsherrschaften und verwendet diese Kenntnisse zuweilen zu Gunsten der Einwohner von Fernworthy, zuweilen aber auch gegen sie. Gegenwärtig soll er sieben Prozesse schweben haben, die wahrscheinlich den Rest seines Vermögens verschlingen werden; dann wird ihm der Stachel genommen und er in Zukunft ein harmloser alter Herr sein. Abgesehen von seiner Prozesssucht macht er den Eindruck eines freundlichen und gutmütigen Menschen, und ich erwähne ihn nur, weil Sie mir besonders einschärften, ich sollte die Personen unserer Umgebung genauer beschreiben.
Gegenwärtig hat er eine sonderbare Beschäftigung: Er ist Amateur-Sterngucker und besitzt in dieser Eigenschaft ein ausgezeichnetes Fernrohr. Mit diesem liegt er nun den ganzen Tag auf dem Dach seines Hauses und sieht auf das Moor hinaus in der Hoffnung, den entsprungenen Zuchthäusler zu entdecken. Wollte er seine Tatkraft hierauf beschränken, wäre alles schön und gut, aber wie das Gerücht wissen will, beabsichtigt er dem Dr. Mortimer wegen seiner Ausgrabung des vorgeschichtlichen Schädels in Long Down einen Prozess anzuhängen, weil er ohne Einwilligung des nächsten Anverwandten ein Grab geöffnet habe! Mr Frankland bringt ein bisschen Abwechselung in unser gar zu eintöniges Leben hier und sorgt für etwas Komik, die wir hier wirklich recht nötig haben.
Und nun, nachdem ich Ihnen über den entsprungenen Sträfling, über die Stapletons, Dr. Mortimer und Mr Frankland von Laster Hall alles mir Bekannte mitgeteilt habe, will ich mich zum Schluss dem wichtigsten Teil meines Berichtes zuwenden und Ihnen einiges Neue über die Barrymores melden, besonders eine überraschende Wendung, die die vorige Nacht gebracht hat.
Zunächst noch einiges über das Telegramm, das Sie von London aus sandten, um Gewissheit zu erlangen, ob Barrymore in Wirklichkeit hier anwesend wäre oder nicht. Wie ich bereits auseinandersetzte, geht aus dem Zeugnis des Postmeisters von Grimpen hervor, dass in keiner Weise ein gültiger Beweis für den einen oder für den anderen Fall erbracht worden ist. Ich sagte Sir Henry, wie die Sache stände, und in seiner geraden offenen Art ließ er sofort Barrymore rufen und fragte ihn, ob er das Telegramm selber in Empfang genommen hätte. Der Kammerdiener bejahte die Frage.
»Lieferte der Junge es zu Ihren eigenen Händen ab?«, fragte der Baronet weiter.
Barrymore machte ein überraschtes Gesicht, dachte eine kleine Weile nach und sagte dann:
»Nein; ich war in dem Augenblick gerade auf dem Boden und meine Frau brachte es mir herauf.«
»Beantworteten Sie es selber?«
»Nein, ich sagte meiner Frau, was zu antworten sei, und sie ging hinunter, um es aufzuschreiben.«
Am Abend kam Barrymore von selber auf den Gegenstand zurück, indem er sagte:
»Ich konnte nicht recht verstehen, welche Absicht Ihre Fragen von heute früh verfolgten, Sir Henry. Es war damit doch gewiss nicht bezweckt, mir eine Täuschung Ihres Vertrauens zur Last zu legen?«
Sir Henry musste ihm versichern, dies sei nicht der Fall, und gab ihm schließlich, um ihn nur wieder zu beruhigen, einen beträchtlichen Teil seiner alten Sachen; die in London bestellte neue Ausrüstung ist nämlich jetzt eingetroffen.
Mrs Barrymore interessiert mich. Sie ist eine derbe, grobschlächtige Person, sehr beschränkt, durch und durch ehrenwert und mit einer Neigung zum Puritanischen. Rührselig ist sie sicherlich nicht im Geringsten. Und doch hörte ich sie in der ersten Nacht meines Hierseins schluchzen, wie ich Ihnen bereits schrieb, und seitdem habe ich mehr als einmal auf ihrem Gesicht die Spuren von Tränen bemerkt. Irgendein tiefer Kummer nagt ihr am Herzen. Manchmal frage ich mich, ob vielleicht ein schuldbeladenes Gewissen sie quält, manchmal habe ich Barrymore im Verdacht, ein Haustyrann zu sein. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass sein Charakter seltsam und fragwürdig sei, aber mein Erlebnis von voriger Nacht gibt meinem Verdacht eine bestimmte Richtung – obgleich es Ihnen vielleicht an und für sich unbedeutend vorkommen wird.
Wie Sie wissen, habe ich keinen sehr festen Schlaf, und seitdem ich hier auf meinem Beobachtungsposten bin, ist mein Schlummer leiser denn je. Heute Nacht – es war gegen zwei Uhr morgens – weckte mich das Geräusch verstohlener Schritte auf dem Korridor. Ich stand auf, öffnete meine Tür und lugte hinaus. Ein langer schwarzer Schatten schwebte den Gang entlang. Es war ein Mann, der mit einer Kerze in der Hand behutsam den Korridor hinunterging. Er war in Hemd und Hosen und barfüßig; ich konnte nur die Umrisse seiner Gestalt sehen, merkte aber an der Größe, dass es Barrymore war. Er ging sehr langsam und vorsichtig und seine ganze Erscheinung hatte etwas unbeschreiblich Scheues und Schuldbewusstes an sich.
Wie ich Ihnen bereits schrieb, wird der Korridor von dem rund um die große Halle laufenden Balkon unterbrochen, hat aber eine Fortsetzung jenseits desselben. Ich wartete, bis Barrymore verschwunden war und ging ihm dann nach. Als ich am Balkon vorbei war, hatte er bereits das andere Ende des Korridors erreicht und war, wie ich an einem aus einer offenen Tür herausfallenden Lichtscheine sehen konnte, in eines der Zimmer eingetreten. Da nun alle diese Räume unbewohnt und unmöbliert sind, wurde sein Vorhaben immer rätselhafter für mich. Der Lichtschein blieb immer auf einer Stelle, woraus man schließen konnte, dass Barrymore still stand. Ich schlich mich so geräuschlos wie möglich den Gang entlang und sah in das Zimmer hinein.
Barrymore hockte am Fenster und hielt sein Licht an die Scheibe. Sein Profil war mir halb zugewandt und sein Gesicht war starr gespannt; er spähte in die auf dem Moor liegende Finsternis hinaus. Mehrere Minuten lang wartete er; dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und löschte das Licht. Sofort ging ich nach meinem Zimmer zurück, und ganz wenige Augenblicke darauf kamen wieder die verstohlenen Schritte an meiner Tür vorbei.
Lange Zeit nachher, als ich in einen leichten Schlummer gefallen war, hörte ich einen Schlüssel sich in einem Schloss drehen, konnte aber nicht feststellen, aus welcher Richtung der Laut kam.
Was dies alles bedeutet, davon kann ich mir keine Vorstellung machen, aber so viel ist sicher: Etwas Geheimnisvolles geht in diesem Hanse vor, und früher oder später werden wir dahinterkommen. Ich will Sie nicht mit Theorien behelligen, denn Sie baten mich ja, bloß Tatsachen mitzuteilen. Ich habe heute früh ein langes Gespräch mit Sir Henry gehabt, und wir haben auf Grund meiner in der vorigen Nacht gemachten Beobachtungen einen Feldzugsplan entworfen. Ich will heute nichts mehr darüber sagen, um nicht das meinem nächsten Bericht zukommende Interesse vorwegzunehmen.
Baskerville Hall, den 15. Oktober.
Mein lieber Holmes!
Wenn ich in den ersten Tagen meiner hiesigen Tätigkeit genötigt war, Sie mit recht spärlichen Nachrichten abzuspeisen, müssen Sie zugeben, dass ich das Versäumte jetzt nachhole, denn die Ereignisse drängen und jagen jetzt einander. Der Höhepunkt meines letzten Berichtes war die Überraschung Barrymores am Fenster; und heute habe ich wieder einen ganzen Vorrat an Neuigkeiten, von denen ich annehmen darf, dass sie Ihnen nicht wenig überraschend kommen werden. Die Ereignisse haben eine Wendung genommen, die sich gar nicht vorhersehen ließ. Die Verhältnisse sind in den letzten achtundvierzig Stunden in mancher Beziehung viel klarer, in mancher Beziehung aber auch viel verworrener geworden. Aber ich will Ihnen das Ganze berichten, und Sie können dann selber urteilen.
Ehe ich mich am anderen Morgen zum Frühstück begab, ging ich in den Korridor hinunter und untersuchte das Zimmer, worin Barrymore die Nacht vorher gewesen war. Das Fenster in der Westwand, durch welches er mit so gespannter Aufmerksamkeit in die Nacht hinausgespäht hatte, zeichnet sich, wie ich sofort bemerkte, vor allen anderen Fenstern des Gebäudes durch eine ganz besondere Eigentümlichkeit aus: Man hat von dort einen vollkommenen Überblick über das Moor. Durch eine Lücke zwischen zwei Bäumen sieht man es ganz nahe und deutlich vor sich liegen, während man von den anderen Fenstern aus nur entferntere Partien des Moors in verschwommenen Umrissen sieht. Da also nur dies eine Fenster die erwähnte Eigenschaft aufweist, so folgt daraus, dass Barrymore irgendwen oder irgendwas auf dem Moor suchte. Die Nacht war sehr finster, ich kann mir daher kaum vorstellen, wie er hoffen konnte, jemanden in der Dunkelheit zu sehen. Mir war der Gedanke gekommen, es könnte sich möglicherweise um irgendeine Liebesintrige handeln. Das hätte sein heimliches Umherschleichen und zugleich auch die niedergedrückte Stimmung seiner Frau erklärt. Der Mann ist ein auffallend hübscher Bursche, von dem man sich wohl denken kann, dass er einem Landmädel das Herz zu stehlen vermag; die Annahme erschien daher nicht ganz unbegründet. Das Öffnen der Tür, das ich später im Halbschlummer gehört hatte, ließ sich damit erklären, dass er zu einem heimlichen Stelldichein ins Freie gegangen war. Mit diesem Gedanken beschäftigte ich mich den Morgen über, und ich wollte Ihnen meinen Verdacht doch jedenfalls mitteilen, wenngleich der Lauf der Ereignisse wohl dargetan haben dürfte, dass derselbe unbegründet war.
Aber mochte nun Barrymores nächtliches Herumwandern hiermit oder auf eine andere Weise zu erklären sein – ich fühlte, dass die Verantwortlichkeit, das Rätsel so lange für mich allein zu behalten, bis ich selber die Lösung gefunden, zu schwer auf mir lasten würde. Ich suchte also nach dem Frühstück den Baronet in seinem Arbeitszimmer auf und teilte ihm alles mit, was ich gesehen hatte. Er war weniger überrascht, als ich es erwartet hatte.
»Ich wusste bereits«, sagte er, »dass Barrymore nächtlicherweile herumgeht, und hatte die Absicht, mit ihm darüber zu sprechen. Zwei- oder dreimal habe ich, gerade um die von Ihnen genannte Stunde, seine Schritte im Korridor kommen und gehen hören.«
»Dann macht er also vielleicht jede Nacht den Gang zu jenem Fenster?«
»Kann sein. Wenn es der Fall wäre, könnten wir ihm ja heimlich nachgehen und sehen, was er dort treibt. Was würde wohl Ihr Freund Holmes tun, wenn er hier wäre?«
»Vermutlich genau dasselbe, was Sie soeben anregten«, antwortete ich. »Er würde Barrymore nachgehen und mit eigenen Augen sehen, was er macht.«
»Dann wollen wir zusammen gehen!«
»Aber er würde uns ganz gewiss hören!«
»Der Mann ist ziemlich schwerhörig – aber einerlei, wir müssen es darauf ankommen lassen. Wir wollen heute Nacht aufbleiben und in meinem Zimmer warten, bis er vorbeikommt.«
Sir Henry rieb sich vergnügt die Hände; augenscheinlich begrüßte er das Abenteuer als eine Abwechslung in seinem so ruhigen Leben auf dem Moor.
Der Baronet hat sich mit dem Baumeister, der für Sir Charles die Pläne entworfen hatte, und auch mit einem Londoner Bauunternehmer in Verbindung gesetzt; wir können daher erwarten, dass hier in kurzer Zeit große Veränderungen platzgreifen. Möbellieferanten und Tapezierer waren von Plymouth hier, und es geht aus allem hervor, dass unser Freund sich mit großen Plänen trägt, und weder Geld noch Mühe zu sparen gedenkt, um den alten Glanz seiner Familie wiederherzustellen. Wenn das Haus umgebaut und neu eingerichtet ist, fehlt bloß noch eine Frau, um es vollständig zu machen. Unter uns gesagt: Es geht aus recht deutlichen Anzeichen hervor, dass es daran nicht fehlen wird, wenn nur die Dame will, denn ich habe selten jemand so verliebt gesehen, wie er’s in unsere schöne Nachbarin, Miss Stapleton ist. Es geht jedoch mit dieser Liebe nicht so sacht und eben, wie man’s den Umständen nach erwarten sollte. Heute zum Beispiel kam ganz unerwartet etwas in die Quere, was unseren Freund sehr überrascht und geärgert hat.
Nach der soeben geschilderten Unterhaltung betreffs Barrymores setzte Sir Henry seinen Hut auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Natürlich tat ich dasselbe.
»Was, gehen Sie auch aus, Watson?«, fragte er, indem er mich ganz sonderbar ansah.
»Das kommt darauf an, ob Sie aufs Moor hinausgehen«, antwortete ich.
»Jawohl, das tue ich.«
»Nun, Sie wissen, was für Vorschriften ich habe. Es tut mir leid, mich aufzudrängen, aber Sie hörten ja selbst, wie ernstlich Holmes darauf bestand, dass ich Ihnen nicht von der Seite gehen, und besonders, dass ich Sie nicht allein aufs Moor hinauslassen dürfte.«
Sir Henry legte mit einem freundlichen Lächeln seine Hand auf meine Schulter und sagte:
»Mein lieber Junge, Holmes hat in aller seiner Weisheit gewisse Dinge nicht vorausgesehen, die sich während meines Aufenthaltes hier auf dem Moor zugetragen haben. Sie verstehen mich! Ich bin gewiss, Sie sind der Letzte, der den Spielverderber machen möchte. Ich muss allein gehen.«
Das brachte mich in eine höchst unangenehme Lage. Ich wusste nicht, was ich sagen oder machen sollte, und bevor ich mit mir selbst im Reinen war, hatte er seinen Stock aus der Ecke genommen und war gegangen.
Als ich mir dann aber die Sache recht überdachte, machte ich mir in meinem Gewissen die bittersten Vorwürfe, dass ich ihn unter irgendwelchem Vorwand aus den Augen gelassen hatte. Ich malte mir aus, mit welchen Gefühlen ich Ihnen vor Augen treten würde, wenn ich bekennen musste, es hätte sich durch meine Vernachlässigung Ihrer Vorschriften irgendein Unglück zugetragen. Ich kann Ihnen sagen, bei dem bloßen Gedanken errötete ich! Dann fiel mir ein, es könnte vielleicht noch nicht zu spät sein, ihn einzuholen; ich machte mich daher unverzüglich in der Richtung nach Merripit House auf den Weg.
So schnell ich laufen konnte, eilte ich die Straße entlang, konnte aber von Sir Henry nichts entdecken, bis ich an die Stelle kam, wo der Fußweg über das Moor sich abzweigt. In der Befürchtung, ich wäre vielleicht überhaupt auf ganz falschem Weg, erstieg ich einen Hügel, von welchem aus ich eine weite Aussicht haben musste. Wirklich sah ich ihn sofort. Er ging ungefähr eine Viertelmeile entfernt auf dem Moorweg, und an seiner Seite befand sich eine Dame, die nur Miss Stapleton sein konnte. Offenbar herrschte bereits ein Einverständnis zwischen ihnen; sie mussten sich auf Verabredung getroffen haben. In ihr Gespräch vertieft, gingen sie langsam auf dem Fußpfad weiter. Oft machte sie rasche, kleine Handbewegungen, wie wenn sie etwas mit besonderem Nachdruck sagte; er hingegen hörte sie mit gespannter Aufmerksamkeit an und schüttelte ein paar Mal in energischer Verneinung den Kopf. Hinter einem Felsblock verborgen, beobachtete ich sie mit größter Aufmerksamkeit; ich war ganz ratlos, was ich weiter tun sollte. Wäre ich ihnen nachgegangen und hätte mich in ihre vertrauliche Unterhaltung eingemischt, wäre das eine beleidigende Taktlosigkeit gewesen; dabei aber schrieb mir meine Pflicht klar und deutlich vor, ihn keinen Augenblick aus dem Gesicht zu verlieren. Einen Freund auszuspionieren, war eine erbärmliche Aufgabe. Ich fand jedoch keinen anderen Ausweg, als ihn von meinem Hügel aus zu beobachten und hinterher ihm dies einzugestehen und dadurch mein Gewissen zu reinigen. Wäre er von einer plötzlichen Gefahr bedroht worden, dann war ich freilich zu weit entfernt, um ihm von Nutzen sein zu können; Sie werden mir aber gewiss zugeben, dass ich in schwieriger Lage, und dass eine andere Handlungsweise für mich nicht möglich war.
Unser Freund Sir Henry und die Dame waren stehen geblieben und hatten augenscheinlich über ihrem Gespräch die ganze Außenwelt vergessen; plötzlich bemerkte ich, dass ich nicht der einzige Zeuge ihrer Zusammenkunft war. Es flatterte irgendetwas Grünes in der Luft und als ich näher hinsah, bemerkte ich, dass dieses Grüne an einem Stock befestigt war, und dass diesen Stock ein Mann trug, der sich schnell über den Moorgrund bewegte. Es war Stapleton mit seinem Schmetterlingsnetz.
Er war viel näher bei dem Paar als ich und ging augenscheinlich geraden Weges auf die beiden jungen Leute zu. In diesem Augenblick zog plötzlich Sir Henry Miss Stapleton an sich. Sein Arm hielt sie umschlungen, aber es kam mir vor, als suchte sie sich mit abgewandtem Antlitz von ihm loszumachen. Er beugte sein Gesicht zu dem ihrigen herunter, und sie hob die eine Hand auf, wie wenn sie ihm wehren wollte. Unmittelbar darauf sah ich sie auseinanderfahren und sich schnell umdrehen. Stapleton war der Störenfried. Er sprang in wilden Sätzen auf sie zu, wobei sein Schmetterlingsnetz in lächerlicher Weise hinter ihm in der Luft flatterte. Die Bedeutung des ganzen Vorganges konnte ich mir nicht erklären, aber mir kam es vor, als ob Stapleton Sir Henry heftige Vorwürfe machte. Dieser gab, wie es schien, Erklärungen ab und wurde dann auch ärgerlich, als der andere davon nichts hören wollte. Die Dame stand in stolzem Schweigen dabei.
Zuletzt drehte Stapleton sich kurz um und winkte mit gebieterischer Gebärde seiner Schwester; diese warf noch einen unentschlossenen Blick auf Sir Henry und entfernte sich dann an der Seite ihres Bruders. An den ärgerlichen Gestikulationen des Naturforschers ließ sich erkennen, dass er auch mit seiner Schwester unzufrieden war. Der Baronet sah ihnen etwa eine Minute lang nach, dann ging er gesenkten Hauptes langsam den Weg zurück, den er gekommen war; offenbar war er in tiefer Niedergeschlagenheit.
Die Bedeutung des Vorfalls war mir, wie gesagt, unklar, aber ich schämte mich aufs tiefste, ohne Wissen meines Freundes einem nicht für Zeugen bestimmten Auftritt beigewohnt zu haben. Ich eilte daher den Hügel hinunter und traf unten mit dem Baronet zusammen. Sein Gesicht war vor Ärger gerötet und seine Augenbrauen waren in scharfem Nachdenken zusammengezogen, als wüsste er nicht, welchen Entschluss er fassen sollte.
»Hallo, Watson!«, rief er, als er mich bemerkte. »Wo kommen Sie denn hergeschneit? Sie sind mir doch nicht etwa trotz alledem nachgegangen?«
Ich gab ihm eine offene Erklärung, dass es mir unmöglich gewesen wäre, zurückzubleiben, dass ich ihm deshalb gefolgt wäre und den ganzen Vorfall mit angesehen hätte. Zuerst sah er mich mit funkelnden Augen an, aber meine Freimütigkeit entwaffnete seinen Zorn, und zuletzt brach er in ein allerdings ziemlich trauriges Lachen aus und sagte:
»Man hätte doch denken sollen, dass mitten auf dieser Ebene jemand ungestört seinen Privatangelegenheiten nachgehen könnte; aber, zum Donnerwetter, die ganze Nachbarschaft scheint sich auf die Beine gemacht zu haben, um sich meine Liebeswerbung anzusehen – freilich, eine recht klägliche Liebeswerbung. Welchen Platz hatten Sie denn, Doktor?«
»Ich war da oben auf dem Hügel.«
»Also Stehplatz ganz hinten. Dafür aber war ihr Bruder ganz vorn, sozusagen Orchesterfauteuil. Sahen Sie ihn auf uns loskommen?«
»Ja.«
»Machte er je auf Sie den Eindruck, dass er verrückt ist – ich meine ihren Bruder?«
»Das kann ich nicht von ihm sagen.«
»Ich auch nicht. Ich hielt ihn bis heute für vollkommen vernünftig, aber glauben Sie mir, entweder er oder ich gehören in eine Zwangsjacke. Nun, wie steht’s denn mit mir? Sie haben jetzt mehrere Wochen in meiner Gesellschaft gelebt, Watson. Sagen Sie mir frei heraus: Ist an mir irgendetwas, das mich verhindern würde, für das Weib, das ich liebe, ein guter Gatte zu sein?«
»Das kann man ganz gewiss nicht behaupten!«
»Gegen meine Stellung in der Welt kann er nichts einzuwenden haben, also muss ich selber ihm nicht recht sein. Was hat er gegen mich? Ich habe, so viel ich weiß, meiner Lebtage weder Mann noch Weib was zuleide getan. Und dabei will er mich nicht mal ihre Fingerspitzen anrühren lassen.«
»Sagte er das?«
»Das und noch viel mehr. Wissen Sie, Watson, ich habe sie erst diese paar Wochen gekannt, aber vom ersten Augenblick an fühlte ich, dass sie für mich geschaffen war, und auch sie – sie war glücklich, wenn sie mit mir zusammen war, darauf will ich schwören. In einem Frauenauge ist ein gewisser Glanz, der deutlicher spricht als Worte. Aber er ließ uns nie ungestört beisammen sein und heute zum ersten Mal ergab sich die Möglichkeit, ein paar Worte mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Sie freute sich ebenfalls, mit mir zusammen zu kommen, aber als wir uns dann trafen, wollte sie nichts von Liebe hören, geschweige denn selbst davon sprechen. Fortwährend kam sie darauf zurück, dass die Gegend gefahrvoll wäre und dass sie nicht mehr glücklich sein könnte, als bis ich den Ort verlassen hätte. Ich sagte ihr: Seit ich sie gesehen, hätte ich’s mit der Abreise durchaus nicht eilig, und wenn sie wirklich wünschte, dass ich ginge, gebe es kein anderes Mittel, als wenn sie mit mir ginge. Und ich bot ihr in beredten Worten mich als Gatten an; aber bevor sie antworten konnte, kam ihr Bruder auf uns losgesprungen mit einem Gesicht wie ein Irrsinniger. Er war kreideweiß vor Wut, und seine hellblauen Augen schleuderten Blitze. Was machte ich da mit der Dame? Wie könnte ich’s wagen, ihr Aufmerksamkeiten zu erweisen, die ihr nicht willkommen wären. Glaubte ich vielleicht, weil ich Baronet wäre, könnte ich tun, was mir gefiele?
Wäre er nicht ihr Bruder gewesen, hätte ich wohl die richtige Antwort für ihn gehabt. So begnügte ich mich damit ihm zu sagen, meine Gesinnungen gegen seine Schwester wären von der Art, dass ich mich ihrer nicht zu schämen brauchte, und ich hoffte, sie würde mir die Ehre erweisen, mein Weib zu werden. Diese Erklärung hatte aber anscheinend keine Wirkung; da verlor auch ich die Geduld und antwortete ihm hitziger, als ich’s wohl eigentlich hätte dürfen, da sie ja neben uns stand. Das Ende vom Lied war, dass er mit ihr fortging, wie Sie sahen, und hier stehe ich nun und bin ganz außer Rand und Band. Sagen Sie mir doch um Gottes willen, Watson, was dies alles bedeutet!«
Ich versuchte ein paar Erklärungen des Rätsels zu geben, aber ich war in der Tat selber vollkommen verblüfft. Unseres Freundes Adelstitel, sein Vermögen, sein Alter, sein Charakter, seine äußere Erscheinung – dies alles spricht zu seinen Gunsten, und ich weiß nicht, was man überhaupt gegen ihn anführen könnte – abgesehen etwa von dem düsteren Verhängnis, das seine Familie verfolgt. Dass seine Anträge so schroff zurückgewiesen werden, ohne dass die Dame überhaupt nur um ihre Meinung gefragt wird, und dass die Dame sich ohne ein Wort des Protestes in diese Lage fügt – das ist sehr überraschend. Wir wurden indessen der Beschäftigung mit unseren Mutmaßungen bald überhoben, indem der Bruder noch am selben Nachmittag einen Besuch auf Baskerville Hall machte. Er kam, um sich wegen seines ungezogenen Benehmens zu entschuldigen, und das Endergebnis einer langen Unterredung, die er mit Sir Henry unter vier Augen in dessen Arbeitszimmer hatte, ist, dass der Bruch vollkommen wieder ausgeglichen ist und dass wir zum Zeichen der Versöhnung am Freitag nach Merripit House zum Essen kommen sollen.
»Ich will nicht behaupten, dass er nicht verrückt ist!«, sagte Sir Henry zu mir. »Ich kann den Ausdruck nicht vergessen, der in seinen Augen lag, als er heute früh auf mich losstürzte, aber ich muss zugeben, dass niemand eine bessere Entschuldigung vorbringen konnte, als er es getan hat.«
»Gab er irgendeine Erklärung für sein Benehmen?«
»Er sagt, seine Schwester sei alles und jedes in seinem Leben. Das ist ja auch ganz natürlich, und ich freue mich sogar darüber, dass er ihren Wert zu schätzen weiß. Sie sind immer zusammen gewesen, und er war, wie er sagt, jederzeit ein einsamer Mann, der niemals andere Gesellschaft hatte außer ihr; der Gedanke, sie verlieren zu müssen, sei für ihn daher geradezu fürchterlich gewesen. Er hätte nichts davon gemerkt, dass sich ein Verhältnis zwischen uns anbahnte, als er es dann aber mit eigenen Augen gesehen hätte und ihm zum Bewusstsein gekommen wäre, dass sie ihm vielleicht genommen würde, da hätte ihm das einen solchen Stoß gegeben, dass er eine Zeit lang nicht gewusst hätte, was er sagte oder tat. Der ganze Vorfall täte ihm außerordentlich leid, und er müsste zugeben, dass es töricht und selbstsüchtig von ihm sei sich einzubilden, dass er ein schönes Mädchen wie seine Schwester ihr ganzes Leben lang für sich behalten könnte. Wenn sie ihn denn doch verlassen müsste, wäre es ihm noch lieber, ein Nachbar wie ich bekäme sie als sonst jemand. Aber jedenfalls wäre es ein harter Schlag für ihn, und er bedürfte einer gewissen Zeit, um sich damit abzufinden. Er wollte seinerseits auf jeden Widerstand verzichten, wenn ich dafür verspräche, drei Monate lang die Angelegenheit ruhen zu lassen, um mich damit zu begnügen, während dieser Zeit der Dame meine Freundschaft zu bezeigen und nicht um ihre Liebe zu werben. Das versprach ich ihm, und somit ist die Sache vorläufig erledigt.«
So ist also eines von unseren kleinen Geheimnissen aufgeklärt! Es ist immerhin schon etwas, in diesem Morast, worin wir uns bewegen, wenigstens an einer Stelle auf festen Grund gekommen zu sein. Wir wissen jetzt, warum Stapleton mit so scheelen Blicken auf seiner Schwester Freier sah, obwohl dieser Freier ein so begehrenswerter Mann ist wie Sir Henry.
Und nun komme ich zu dem anderen Faden, den ich aus dem wirren Knäuel frei gemacht habe, zu dem Geheimnis der nächtlichen Seufzer, der Tränenspuren auf Mrs Barrymores Gesicht, der verstohlenen Wanderungen des Schlossverwalters zu dem Fenster an der westlichen Seite des Hauses. Wünschen Sie mir Glück, mein lieber Holmes, und sagen Sie mir, dass ich Sie in meiner Tätigkeit als Ihr Abgesandter nicht enttäuscht habe – dass Ihnen das Vertrauen, das Sie mir mit Übertragung dieser Sendung bezeigten, nicht leid tut. Alle diese dunklen Punkte sind durch die Tätigkeit einer einzigen Nacht vollkommen aufgeklärt worden.
Ich sagte: ›durch die Tätigkeit einer einzigen Nacht‹, aber in Wirklichkeit brauchten wir zwei Nächte dazu, denn in der ersten war unsere Mühe völlig vergeblich. Ich saß mit Sir Henry bis gegen drei Uhr früh in seinem Zimmer auf, aber kein Laut irgendwelcher Art ließ sich vernehmen; nur die Wanduhr auf dem Treppenflur hörten wir schlagen. Es war eine höchst melancholische Nachtwache, die damit endete, dass wir alle beide in unseren Stühlen einschliefen. Zum Glück waren wir durch unseren Misserfolg nicht entmutigt, sondern beschlossen, noch einen Versuch zu machen. Am nächsten Abend schraubten wir wieder unser Lampenlicht niedrig und saßen Zigaretten rauchend in lautloser Stille da. Die Stunden schlichen mit unglaublicher Langsamkeit dahin; doch half uns eine Art von geduldiger Neugier darüber hinweg, wie wohl der Jäger sie spüren mag, der neben einer Falle, in der er ein wildes Tier zu fangen hofft, auf der Lauer liegt.
Es schlug eins – dann zwei – und wir hätten es beinahe zum zweiten Mal, am Erfolg verzweifelnd, aufgegeben – da plötzlich richteten wir uns beide zugleich kerzengerade in unseren Stühlen auf; alle unsere Sinne waren aufs schärfste angespannt: wir hörten auf dem Gang das leise Geräusch eines Schrittes!
Ganz leise, leise hörten wir den Mann entlangschleichen, bis das Geräusch in der Ferne erstarb. Dann öffnete der Baronet leise die Tür, und wir machten uns zur Verfolgung auf. Unser Mann war bereits bei der Galerie um die Ecke gebogen, und der Korridor lag in tiefer Finsternis da. Leise schlichen wir uns den Gang entlang zum anderen Flügel. Wir erhaschten gerade noch den Anblick der langen, schwarzbärtigen Gestalt, die vornübergebeugt und auf den Zehenspitzen gehend den Korridor entlangschlich. Dann trat er in dieselbe Tür ein wie das vorige Mal, und in dem Kerzenlicht zeichnete sich der viereckige Türrahmen mit gelbem Schein auf dem schwarzen Korridor ab. Wir tasteten uns vorsichtig nach jener Stelle hin; jedes Brett untersuchten wir erst mit dem Fuß, ehe wir wagten, es mit unserem ganzen Gewicht zu belasten. Aus Vorsicht hatten wir auch unsere Stiefel vorher ausgezogen, aber trotzdem ächzten und knarrten die alten Bretter unter unseren Tritten. Zuweilen dachten wir, es wäre unmöglich, dass er unsere Annäherung nicht hörte. Aber der Mann ist zum Glück wirklich recht schwerhörig, und zudem waren seine Gedanken völlig von seinem Tun in Anspruch genommen. Nachdem wir endlich die Tür erreicht hatten und durch die Öffnung in das Zimmer spähten, sahen wir ihn mit der Kerze in der Hand vor dem Fenster hocken, das blasse Gesicht mit einem Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit gegen eine der Scheiben gepresst. Es war genau dieselbe Stellung, in der ich ihn zwei Nächte vorher überrascht hatte.
Wir hatten uns keinen bestimmten Plan gemacht, aber dem Wesen des Baronets entspricht es, stets den geradesten Weg zu gehen. Er betrat das Zimmer, und sofort sprang Barrymore mit einem scharfen, keuchenden Atemzug von seinem Platz am Fenster auf und stand bleich und zitternd vor uns. Seine dunklen Augen glühten aus der Blässe seines maskengleichen Gesichtes hervor und blickten voll von entsetzter Überraschung auf Sir Henry und mich.
»Was machen Sie hier, Barrymore?«
»Nichts, Herr!«
Seine Aufregung war so groß, dass er kaum sprechen konnte; er zitterte so stark, dass die Kerze, die er hielt, hüpfende Schatten an die Wand warf.
»Es war wegen des Fensters, Herr! Ich mache nachts die Runde, um nachzusehen, ob sie auch fest geschlossen sind.«
»Im zweiten Stock?«
»Jawohl, Herr, ich untersuche alle Fenster!«
»Hören Sie zu, Barrymore!«, sagte Sir Henry ernst. »Wir sind entschlossen, die Wahrheit aus Ihnen herauszubekommen. Sie sparen sich also Unannehmlichkeiten, wenn Sie sofort die Wahrheit sagen, anstatt noch länger damit zu warten. Also vorwärts! Keine Lügen! Was wollten Sie an diesem Fenster?«
Der Mann sah uns mit einem hilflosen Ausdruck an und krampfte die Hände zusammen, wie wenn er im höchsten Grad verzweifelt wäre.
»Ich tat nichts Böses, Herr. Ich hielt bloß ein Licht an das Fenster.«
»Und warum hielten Sie ein Licht an das Fenster?«
»Fragen Sie mich nicht danach, Sir Henry – bitte fragen Sie mich nicht! Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr, dass es nicht mein Geheimnis ist und dass ich es also nicht sagen kann. Wenn es nur mich selber beträfe, würde ich nicht versuchen, es Ihnen vorzuenthalten.«
Ein plötzlicher Gedanke durchfuhr mich, und ich nahm die Kerze von dem Fensterbrett, worauf der Mann sie gestellt hatte.
»Er muss die Kerze als ein Zeichen ans Fenster gehalten haben«, sagte ich. »Wir wollen doch mal sehen, ob nicht irgendeine Antwort darauf gegeben wird.«
Ich hielt das Licht genau so, wie Barrymore es getan hatte, und spähte in die nächtliche Finsternis hinaus. Nur undeutlich konnte ich die schwarze Masse der Baumwipfel unterscheiden und dahinter die hellere Fläche des Moors, denn der Mond war hinter den Wolken verborgen. Dann auf einmal stieß ich einen triumphierenden Ruf aus, denn ein feines, nadelförmiges Lichtpünktchen durchbrach plötzlich den schwarzen Schleier und glühte, auf demselben Fleck bleibend, in dem dunklen, vom Fenster eingerahmten Viereck.
»Da ist’s!«, rief ich.
»Nein, nein, Herr; es ist nichts, wirklich nichts!«, fiel der Diener ein. »Ich versichere Ihnen, Herr ...«
»Bewegen Sie Ihr Licht vor dem Fenster hin und her, Watson!«, rief der Baronet. »Sehen Sie, das andere bewegt sich ebenfalls! Nun, Sie Schurke, leugnen Sie immer noch, dass es ein Signal ist? Vorwärts, heraus mit der Sprache! Wer ist Ihr Mitverschworener da draußen, und was für ’ne Verschwörung ist hier im Gange?«
Barrymores Gesicht nahm plötzlich einen trotzigen Ausdruck an; er sagte:
»Das ist meine Sache und nicht Ihre. Ich sage nichts!«
»Dann verlassen Sie auf der Stelle meinen Dienst.«
»Sehr wohl, Herr. Wenn es sein muss, tu ich’s!«
»Und mit Schimpf und Schande gehen Sie aus meinem Haus! Zum Donnerwetter, Sie sollten sich doch schämen! Ihre Familie hat mit der meinigen seit einem Jahrhundert unter diesem Dach gewohnt, und hier finde ich Sie in eine lichtscheue Verschwörung gegen mich verwickelt!«
»Nein, Herr, nein! Nicht gegen Sie!«
Es war eine weibliche Stimme, die diese Worte sprach, und als wir uns umdrehten, sahen wir Mrs Barrymore noch bleicher und verstörter, als ihr Mann es war, in der Tür stehen. Ihre vierschrötige Gestalt, die in einen Unterrock und ein Umschlagetuch gehüllt war, machte fast einen komischen Eindruck; dieser verschwand jedoch sofort, wenn man den Ausdruck tiefer Angst auf ihrem Gesicht bemerkte.
»Wir müssen gehen, Eliza. Das ist das Ende vom Lied. Du kannst unsere Sachen packen!«, sagte der Mann.
»Oh, John, John, habe ich dich dahin gebracht? Es ist meine Schuld, Sir Henry – nur meine ganz allein. Er hat nichts getan, als um mir zu Gefallen zu sein, und weil ich ihn darum bat.«
»Dann heraus mit der Sprache! Was bedeutet dies alles?«
»Mein unglücklicher Bruder irrt hungernd auf dem Moor umher. Wir können ihn nicht unmittelbar vor unserer Tür umkommen lassen. Das Licht ist ein Zeichen für ihn, dass wir Lebensmittel für ihn bereithalten, und das Licht dort drüben bezeichnet die Stelle, wohin wir das Essen bringen müssen.«
»Dann ist also Ihr Bruder ...?«
»Der entsprungene Sträfling, ja, Herr ... der Verbrecher Selden.«
»Das ist die Wahrheit, Herr«, bestätigte Barrymore. »Ich sagte Ihnen, es wäre nicht mein Geheimnis, und ich könnte Ihnen nichts sagen. Aber nun haben Sie es selber gehört, und Sie werden einsehen, dass gegen Sie keine Verschwörung vorhanden war, wenn überhaupt von einer solchen die Rede sein kann.«
Das also war die Erklärung des heimlichen nächtlichen Herumschleichens und des an das Fenster gehaltenen Lichtes! Sir Henry und ich starrten ganz verdutzt die Frau an. War es möglich, konnte diese augenscheinlich beschränkte, aber dabei ehrbare Person vom selben Fleisch und Blut sein wie einer der berüchtigtsten Verbrecher im ganzen Land?
»Ja, Herr!«, fuhr sie fort. »Ich hieß früher Selden, und er ist mein jüngerer Bruder. Wir verzogen ihn zu sehr, als er ein kleiner Knirps war, und ließen ihm in allem seinen Willen, bis er zuletzt dachte, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da, und er könne tun, was ihm gefiele. Als er dann älter wurde, kam er in schlechte Gesellschaft, und der Teufel wurde Herr über ihn, bis er zuletzt meiner Mutter Herz brach und unseren guten Namen in den Dreck zog. Von Verbrechen zu Verbrechen sank er immer tiefer und tiefer, und nur Gottes Gnade hat ihn vor dem Galgen bewahrt. Für mich aber, Herr, war er immer der krausköpfige kleine Junge, den ich als ältere Schwester aufgezogen und mit dem ich gespielt hatte. Deshalb brach er aus dem Zuchthaus aus, Herr. Er wusste, dass ich hier war und ihm nicht meine Hilfe verweigern würde. Und als er sich dann eines Nachts abgemattet und halb verhungert an unsere Tür schleppte und die Aufseher ihm dicht auf der Spur waren – ja, was konnten wir da tun? Wir ließen ihn ein und gaben ihm zu essen und pflegten ihn. Dann kamen Sie hierher, Herr, und mein Bruder dachte, es wäre sicherer für ihn draußen auf dem Moor, bis der erste Lärm und die Hetzjagd vorüber wäre; deshalb verbarg er sich draußen. Aber jede zweite Nacht vergewisserten wir uns, ob er noch da wäre, indem wir ein Licht ins Fenster stellten, und wenn er auf dieses Zeichen antwortete, brachte mein Mann ihm Brot und Fleisch hinaus. Jeden Tag hofften wir, er wäre fort, aber so lange er noch hier war, konnten wir ihn nicht im Stich lassen. Das ist die ganze Wahrheit – so war ich eine ehrliche Christin bin, und Sie werden einsehen, wenn dabei jemand zu tadeln ist, fällt der Vorwurf nicht auf meinen Mann, sondern nur auf mich allein, denn nur um meinetwillen hat er alles getan.«
Die Frau sprach mit solchem Ernst, dass man von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt sein musste.
»Ist dies wahr, Barrymore?«
»Ja, Sir Henry! Vom ersten bis zum letzten Wort!«
»Nun, ich kann Sie nicht dafür tadeln, dass Sie Ihrer Frau geholfen haben. Vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Gehen Sie mit Ihrer Frau in Ihr Zimmer; morgen wollen wir weiter darüber sprechen.«
Als sie fort waren, sahen wir wieder aus dem Fenster. Sir Henry hatte es aufgestoßen, und der kalte Nachtwind schlug uns ins Gesicht. In der finsteren Ferne glomm noch immer das gelbe Lichtpünktchen.
»Ich wundere mich, dass er das wagt!«, rief Sir Henry.
»Vielleicht ist das Licht so aufgestellt, dass es nur von hier aus sichtbar ist.«
»Höchstwahrscheinlich. Wie weit ist es Ihrer Meinung nach entfernt?«
»Es scheint mir bei Clest Tor zu sein.«
»Also nur eine oder zwei Meilen von hier?«
»Kaum so weit!«
»Jedenfalls kann es nicht sehr weit sein, da Barrymore die Lebensmittel hinauszubringen hatte. Und da draußen wartet der Schurke, neben seinem Licht! Zum Donnerwetter, Watson, ich will hinaus und den Kerl festnehmen!«
Derselbe Gedanke war auch mir schon gekommen. Es konnte nicht davon die Rede sein, dass die Barrymores uns ins Vertrauen gezogen hatten. Ihr Geheimnis war ihnen mit Gewalt entrissen worden. Der Mann war eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft, ein unbarmherziger Schurke, für den es kein Erbarmen und kein Mitleid gab. Wir taten nur unsere Pflicht, wenn wir ihn an den Ort zurückbrachten, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Ließen wir diesen rohen, gewalttätigen Verbrecher aus den Händen, würden andere dafür büßen müssen. Jede Nacht waren zum Beispiel unsere Nachbarn, die Stapletons, durch einen Angriff von ihm bedroht; vielleicht war es dieser letztere Gedanke, der Sir Henry so besonders erpicht auf das Abenteuer machte.
»Ich werde mitkommen«, sagte ich.
»Dann holen Sie Ihren Revolver und ziehen Sie Ihre Stiefel an. Je eher wir uns auf den Weg machen, desto besser, sonst bläst der Kerl vielleicht sein Licht aus und macht sich davon.«
Keine fünf Minuten später waren wir draußen. Schnell durchschritten wir den finsteren Baumgarten; der Nachtwind brauste eintönig, die fallenden Blätter raschelten. Die Nachtluft war drückend schwer von Nebel und Dunst. Ab und zu wurde der Mond für einen Augenblick sichtbar, aber der Himmel war dicht von eilenden Wolken überzogen, und gerade als wir auf das Moor hinaustraten, begann ein feiner Regen zu fallen. Das Licht brannte noch immer gerade vor uns auf demselben Fleck.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte ich.
»Ich habe einen Reitstock mit Bleiknopf.«
»Wir müssen blitzschnell über ihn herfallen, denn er soll ein ganz verzweifelter Geselle sein. Wir werden ihn überraschen und ihn wehrlos machen, ehe er nur an Widerstand denken kann.«
»Na, Watson«, sagte der Baronet, »was würde Holmes hierzu sagen? Wie war’s doch mit der Stunde der Finsternis, da die Macht des Bösen entfesselt ist?«
Gleichsam als Antwort auf diese Frage erhob sich plötzlich aus der düsteren weiten Fläche des Moors jener seltsame Schrei, den ich schon einmal, am Rand des großen Grimpener Sumpfes, vernommen hatte. Der Wind trug ihn durch das nächtliche Schweigen zu uns heran – ein langes, tiefes Stöhnen, dann ein anschwellendes Heulen und dann das grausige Seufzen, worin es ausklang. Immer und immer wieder erhob sich der Laut, die ganze Luft schien von dem wilden, drohenden, durchdringenden Klang erfüllt zu sein. Der Baronet packte mich am Ärmel, und ich sah trotz der Finsternis, dass sein Gesicht leichenblass geworden war.
»Um Gottes willen, was ist das, Watson?«
»Ich weiß es nicht. Es ist ein Laut, der dem Moor eigentümlich ist. Ich hörte ihn früher schon einmal.«
Der Ton verstummte, und tiefstes Schweigen umhüllte uns. Wir lauschten mit Anspannung aller unserer Gehörnerven, aber es kam nichts mehr.
»Watson«, sagte der Baronet, »es war das Geheul eines Hundes.«
Mir erstarrte das Blut in den Adern, denn seine Stimme klang ganz gebrochen; offenbar hatte ihn ein plötzliches Entsetzen gepackt.
»Wie nennt man diesen Laut?«, fragte er.
»Wer?«
»Nun, die Leute hier in der Gegend.«
»Ach, das ist ja unwissendes Volk. Was kümmert es Sie, was die Leute darüber sagen?«
»Sprechen Sie, Watson! Was sagen sie darüber?«
Ich zauderte, aber ich konnte der Beantwortung der Frage nicht ausweichen.
»Man sagt, es sei das Geheul des Baskerville-Hundes.«
Er stöhnte und schwieg einige Augenblicke. Endlich sagte er:
»Ein Hund war es; aber das Geheul schien aus weiter Ferne zu kommen; von dort drüben her, glaube ich.«
»Es lässt sich schwer angeben, woher es kam.«
»Es schwoll an und wurde schwächer mit dem Wind. Liegt nicht in jener Richtung der große Grimpener Sumpf?«
»Ja.«
»Hm, dorther kam es. Seien Sie offen, Watson! Glauben Sie nicht selber, es war das Geheul eines Hundes? Ich bin kein Kind. Sie können ohne Furcht die Wahrheit sagen.«
»Stapleton war bei mir, als ich es das vorige Mal hörte; er sagte, es könnte möglicherweise der Schrei eines seltenen Vogels sein.«
»Nein, nein, es war ein Hund. Mein Gott, kann denn wirklich was Wahres an all diesen Geschichten sein? Ist es möglich, dass wirklich eine so geheimnisdunkle Gefahr mich ernstlich bedroht? Sie glauben doch nicht daran, Watson, nicht wahr?«
»Nein, nein!«
»Und doch, in London konnte man wohl darüber lachen, aber es ist was anderes, hier in der Finsternis auf dem Moor zu stehen und ein solches Geheul zu hören. Und mein Onkel! Neben der Stelle, wo er lag, war die Fußspur eines riesigen Hundes. Es stimmt alles zusammen. Ich glaube, kein Feigling zu sein, Watson, aber bei jenem Ton war es mir, als gefröre das Blut in meinen Adern. Fühlen Sie meine Hand!«
Sie war so kalt wie ein Stück Marmor.
»Morgen wird Ihnen wieder ganz wohl sein.«
»Ich glaube, das Geheul werde ich nicht so leicht wieder aus den Ohren los. Was sollen wir nach Ihrer Meinung jetzt zunächst tun?«
»Sollen wir umkehren?«
»Zum Donnerwetter, nein! Wir sind herausgekommen, um den Kerl zu fangen, und wir werden ihn fangen. Wir sind hinter dem Sträfling her, und ein Höllenhund ist ohne Zweifel hinter uns her. Vorwärts! Wir wollen die Sache zum Ende führen, und wenn alle Teufel der Hölle auf das Moor losgelassen wären!«
Wir tappten langsam in der Finsternis vorwärts, rings um uns war der schwarze Kranz der zerklüfteten Felsenhügel, vor uns brannte, immer auf demselben Fleck, der gelbe Lichtpunkt. Über nichts täuscht man sich so leicht wie über die Entfernung eines Lichtes in pechfinsterer Nacht; zuweilen sah es aus wie ein Flimmern am fernen Horizont, dann wieder schien es ein paar Ellen vor uns zu sein. Schließlich aber sahen wir, woher der Schein kam, und erkannten zugleich, dass wir ganz dicht dabei waren. Eine tropfende Kerze war in eine Felsenspalte gestellt; das Gestein beschützte die Flamme auf beiden Seiten gegen den Wind und bewirkte zugleich, dass der Lichtschein nur von Baskerville Hall her gesehen werden konnte. Ein Granitblock ermöglichte uns, ungesehen näher zu kommen; wir kauerten uns hinter dieser Deckung zusammen und spähten nach dem Signallicht. Einen seltsamen Anblick bot diese einsame Kerze, die hier mitten auf dem Moor brannte. Kein Zeichen des Lebens ringsum – nur diese eine gelbe Flamme und der Widerschein des Lichtes auf dem Gestein zu beiden Seiten.
»Was sollen wir jetzt zunächst tun?«, flüsterte Sir Henry.
»Hier warten! Er muss in der Nähe seines Lichtes sein. Wir wollen versuchen, ob wir ihn nicht zu Gesicht bekommen können.«
Ich hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als wir ihn beide sahen. Über den Felsen, in der Spalte, worin das Licht brannte, streckte sich ein fahlgelbes Gesicht vor, ein scheußlich viehisches Gesicht, von niedrigen Leidenschaften verzerrt und durchfurcht. Von dem Morast besudelt, von zottigem Bart und wirrem Haar umgeben, hätte man es wohl für das Gesicht eines jener vorgeschichtlichen Wilden halten können, die in den Höhlen am Hügelabhang gelebt hatten. Das unter ihm brennende Licht spiegelte sich in seinen kleinen schlauen Augen, die mit wildem Blick sich nach rechts und links durch die Finsternis bohrten, wie die Augen eines listigen Raubtiers, das den Schritt des Jägers gehört hat.
Augenscheinlich hatte irgendetwas seinen Verdacht erregt. Vielleicht hatte sonst Barrymore irgendein anderes Zeichen gegeben, das wir natürlich nicht kannten, vielleicht hatte der Mann sonst einen Grund, anzunehmen, dass nicht alles in Ordnung war. Die Furcht war deutlich auf seinem Verbrechergesicht zu lesen. Jeden Augenblick konnte er mit einem Sprung sich aus dem Bereich des Lichtes entfernen und in der Dunkelheit verschwinden. Ich sprang deshalb auf ihn zu, und Sir Henry folgte meinem Beispiel. Im selben Augenblick schrie der Zuchthäusler uns einen wütenden Fluch entgegen und schleuderte einen großen Stein, der an dem uns bisher zur Deckung dienenden Granitblock in Stücke zerschellte.
Als er auf die Füße sprang und sich zur Flucht wandte, konnte ich einen kurzen Blick auf seine kurze, stämmige und kräftige Gestalt werfen. Im selben Augenblick hatten wir das Glück, dass der Mond die Wolken durchbrach. Wir sprangen eiligst auf den Gipfel des Hügels hinauf, und da sahen wir unseren Mann mit großer Schnelligkeit auf der anderen Seite herunterrennen und die Steine, die ihm im Weg waren, mit der Gewandtheit einer Bergziege überspringen. Ein glücklicher Schuss meines Revolvers hätte ihn vielleicht zum Krüppel machen können, aber ich hatte die Waffe nur zu meiner Verteidigung mitgenommen und nicht, um auf einen unbewaffneten und fliehenden Menschen damit zu schießen.
Wir waren beide gute Läufer und beide gesund und kräftig, aber wir fanden bald, dass wir keine Aussicht hatten, ihn einzuholen. Lange sahen wir ihn im Mondschein vor uns her rennen, bis er endlich nur noch wie ein kleiner Punkt zwischen den Granitblöcken am Abhang eines entfernten Hügels sich in eiligem Lauf hindurchwand. Wir rannten und rannten, bis uns der Atem völlig ausging, aber der Abstand wurde nur immer größer. Schließlich gaben wir die Verfolgung auf und setzten uns keuchend auf zwei große Steine; von hier aus sahen wir ihn in der Ferne verschwinden.
Und in diesem Augenblick trat etwas ganz Seltsames und Unerwartetes ein. Wir waren von unseren Steinblöcken aufgestanden, um nach Hause zu gehen, denn die Verfolgung hatten wir als gänzlich hoffnungslos aufgegeben. Zu unserer Rechten stand der Mond niedrig am Himmel, und die zackige Spitze eines Granitfelsens hob sich von dem unteren Rand der silbernen Mondscheibe ab. Und in scharfen Umrissen, schwarz wie eine Ebenholzstatue von dem leuchtenden Hintergrund sich abhebend, sah ich die Gestalt eines Mannes auf der Felsspitze stehen.
Glauben Sie ja nicht, Holmes, es sei eine Augentäuschung gewesen! Ich versichere Ihnen, ich habe nie in meinem Leben etwas klarer und deutlicher gesehen. Soweit ich es beurteilen konnte, war es die Gestalt eines großen, schlanken Mannes. Er stand mit etwas auseinandergespreizten Beinen, mit gefalteten Armen und gesenktem Kopf, als betrachte er grübelnd die ungeheure Einöde von Moor und Granit, die da vor ihm lag. So konnte man sich den bösen Geist denken, der an diesem furchtbaren Ort gebot. Der Sträfling war es nicht. Dieser Mann stand weit von der Stelle ab, wo Selden verschwunden war. Außerdem war er viel größer. Mit einem Ausruf der Überraschung streckte ich meinen Arm aus, um ihn dem Baronet zu zeigen; aber in dem Augenblick, wo ich mich zu Sir Henry umgedreht hatte, war der Mann verschwunden. Die scharfe Granitspitze hob sich noch immer vom unteren Rand der Mondscheibe ab, aber von der schweigenden und regungslosen Gestalt war jede Spur verschwunden.
Ich wäre gern hingegangen und hätte die Felsspitze untersucht, aber die Entfernung bis dahin war ziemlich groß. Des Baronets Nerven waren noch von jenem Geheul angegriffen, das ihm die düstere Geschichte seiner Familie zum Bewusstsein gebracht hatte, und er war nicht in der Stimmung, noch neue Abenteuer aufzusuchen. Er hatte den einsamen Mann auf der Felsenspitze nicht gesehen und hatte den Schauer nicht gefühlt, der bei dem Anblick der seltsamen, mächtigen Gestalt mich durchrieselt hatte.
»Ohne Zweifel einer von den Zuchthausaufsehern!«, bemerkte Sir Henry. »Seit der Flucht dieses Kerls hat das Moor von ihnen gewimmelt.«
Nun, vielleicht mag er mit dieser Erklärung recht haben, aber es wäre mir doch lieb, noch weitere Beweise dafür zu erhalten. Heute gedenken wir, den Beamten von Princetown mitzuteilen, wo sie nach ihrem Flüchtling suchen müssen, aber es tut uns doch außerordentlich leid, dass wir nicht den Triumph gehabt haben, ihn als unseren eigenen Gefangenen einzuliefern.
Dies sind die Abenteuer der letzten Nacht, mein lieber Holmes, und Sie werden anerkennen, dass ich Sie mit meinem Bericht sehr gut bedient habe. Ohne Zweifel wird vieles von dem Angeführten ohne jede Bedeutung sein, ich bin aber überzeugt, es ist das Beste, wenn ich Ihnen alle Tatsachen ohne Ausnahme überliefere und Sie selber Ihre Auswahl treffen lasse, um Ihre Schlüsse zu bilden. Ganz sicherlich machen wir Fortschritte. In Bezug auf die Barrymores haben wir den Beweggrund ihrer Handlungsweise ausfindig gemacht, und das hat die Lage ganz bedeutend aufgeklärt.
Aber das Moor mit seinen Geheimnissen und seinen seltsamen Bewohnern bleibt unergründlich wie immer. Vielleicht kann ich in meinem nächsten Brief auch diese Dunkelheit ein wenig aufhellen. Am allerbesten aber wäre es, Sie kämen selber zu uns herüber.