Bei meiner Auswahl der Fälle, welche dazu dienen sollen, dem Leser ein Bild von den eigentümlichen Geistesgaben meines Freundes Holmes zu geben, bin ich auf mancherlei Schwierigkeiten gestoßen. Seine merkwürdigsten Schlussfolgerungen und scharfsinnigsten Untersuchungen bezogen sich meist auf Begebenheiten, die an sich so geringfügig und alltäglich waren, dass sie kein allgemeines Interesse beanspruchen konnten. Andererseits kam es auch wieder häufig vor, dass er bei hochwichtigen Angelegenheiten, die einen besonders dramatischen Verlauf nahmen, zurate gezogen wurde, ohne dass er doch an der Erforschung ihrer Ursachen einen so hervorragenden Anteil hatte, wie es mir als seinem Biografen wünschenswert erscheinen musste. Auch bei der hier folgenden Geschichte hat er keine entscheidende Rolle gespielt, und doch möchte ich sie, der seltsamen Umstände wegen, die damit verknüpft sind, nicht in dieser Sammlung missen.
Es war an einem schwülen Regentag im September. Wir hatten unsere Läden halb geschlossen, und Holmes lag auf dem Sofa, beschäftigt, einen Brief, den er am Morgen erhalten, immer von Neuem durchzulesen. Ich selbst litt zwar seit meiner Dienstzeit in Indien stets weniger unter der Hitze als der Kälte, doch fühlte ich mich auch zu nichts recht aufgelegt. Selbst die Zeitung langweilte mich. Die Parlamentssitzungen waren zu Ende, alle Welt hatte die Stadt verlassen, und ich sehnte mich nach Berg und Wald oder dem Seestrand. Meinen Freund quälte kein solches Verlangen; mich veranlasste nur die Ebbe in meiner Kasse, den beabsichtigten Ferienausflug zu verschieben, aber für ihn hatten Naturgenüsse überhaupt keinen Reiz. Er blieb am liebsten mitten in der Millionenstadt London, der er mit allen Fasern seines Wesens angehörte, und es brauchte nur irgendein Gerücht oder der leiseste Verdacht eines noch unaufgeklärten Verbrechens zu entstehen, so war er gleich Feuer und Flamme. Zur Abwechslung pflegte er wohl dann und wann einmal, statt dem Übeltäter in der Stadt nachzuspüren, einer geheimnisvollen Fährte auf dem Land zu folgen, aber der Sinn für Naturschönheit fehlte ihm gänzlich, wie groß auch seine Begabung im Übrigen war.
Als ich sah, dass Holmes sich zu sehr in seinen Brief vertieft hatte, um mit mir zu plaudern, ließ ich das uninteressante Zeitungsblatt zur Erde gleiten, lehnte mich in den Armstuhl zurück und begann in wachem Zustand zu träumen. Plötzlich schreckte mich die Stimme meines Gefährten aus diesen Fantasien auf.
»Sie haben ganz recht, Watson«, sagte er, »es ist vollkommen widersinnig, derartige Streitfragen auf solche Weise schlichten zu wollen.«
»Die reinste Torheit!«, rief ich – da wurde mir auf einmal klar, dass er meinen innersten Gedanken Ausdruck gegeben hatte. Ich fuhr in die Höhe und starrte ihn in maßloser Verwunderung an.
»Aber Holmes«, rief ich, »wie ist das möglich? Das geht doch über alle Begriffe.«
Er lachte herzlich, als er mein erstauntes Gesicht sah.
»Sie erinnern sich wohl noch«, sagte er, »dass ich Ihnen kürzlich eine Stelle aus Edgar Allen Poes Schriften vorlas, wo erzählt wird, wie ein kluger Kopf den unausgesprochenen Gedanken seines Gefährten folgt? Sie waren geneigt, das nur für ein vom Verfasser erdachtes Kunststück zu halten, und wollten mir nicht glauben, als ich behauptete, ich täte das auch ganz unwillkürlich und fast ohne Unterlass.«
»Habe ich das gesagt?«
»Nicht mit Worten, mein lieber Watson, aber es stand Ihnen auf der Stirn geschrieben. Als ich nun soeben sah, wie Sie die Zeitung hinwarfen, um in Nachdenken zu versinken, benutzte ich mit Freuden die Gelegenheit, Ihrem Gedankengang zu folgen, und erlaubte mir schließlich, ihn zu unterbrechen, um Ihnen einen Beweis unseres geistigen Zusammenhangs zu geben.«
Die Erklärung genügte mir keineswegs. »In dem Beispiel, das Sie erwähnten, hat der kluge Kopf seine Schlüsse aus den Handlungen des Mannes abgeleitet, den er beobachtete. Wenn ich mich recht entsinne, stolperte er über einen Steinhaufen, sah nach den Sternen empor und dergleichen. Ich dagegen habe hier ruhig auf dem Stuhl gesessen und Ihnen keinerlei Anhaltspunkte für Ihr Gedankenlesen gegeben.«
»Da tun Sie sich unrecht. Die Gemütsbewegungen des Menschen spiegeln sich in seinen Gesichtszügen, und auch die Ihrigen sind ihr treues Abbild.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie mir die Gedanken vom Gesicht abgelesen haben?«
»Jawohl; besonders am Ausdruck Ihrer Augen. Vielleicht erinnern Sie sich selbst gar nicht mehr, wie Sie in die Träumerei geraten sind.«
»Nein, ich weiß es nicht.«
»Ich will es Ihnen sagen: Dass Sie die Zeitung hinwarfen, erregte meine Aufmerksamkeit. Sie saßen eine Minute lang gedankenlos da, dann schweiften Ihre Augen zum Bild des Generals Gordon hinüber, das Sie sich neu haben einrahmen lassen, und ich sah an der Veränderung Ihres Ausdrucks, dass Ihre Gedanken eine bestimmte Richtung annahmen, die Sie jedoch nicht lange verfolgten. Ihr Blick flog zu Henry Ward Beechers Porträt hinüber, das ohne Rahmen auf Ihrem Büchergestell steht; dann schauten Sie wieder zur Wand. Es war leicht zu erkennen, dass Sie dachten, Beecher würde ein gutes Seitenstück zu Gordon abgeben, wenn er auch eingerahmt wäre.«
»Das haben Sie merkwürdig gut erraten.«
»So weit war kaum ein Irrtum möglich. Aber nun kehrten Sie zu Beecher zurück und schienen ganz in seinen Anblick vertieft. Sie zogen die Augenbrauen nicht mehr zusammen, sahen aber immer noch sinnend zu ihm hin – Sie überdachten seinen Lebenslauf. Dabei konnten Sie nicht umhin, sich zu erinnern, welche Aufgabe er während des amerikanischen Bürgerkriegs für die Sache des Nordens übernommen hatte; ich entsinne mich noch, wie entrüstet Sie sich darüber aussprachen, dass ein großer Teil des englischen Volkes ihm damals einen so schlechten Empfang bereitete. Als Sie gleich darauf von dem Bild fortsahen, vermutete ich, dass Ihnen nun der Bürgerkrieg selbst in den Sinn kam; Sie pressten die Lippen zusammen, Ihr Auge blitzte, unwillkürlich ballten Sie die Hände, und ich zweifelte nicht, dass Sie der tapferen Taten gedachten, die in dem grimmigen Kampf auf beiden Seiten vollbracht worden waren. Aber dann sprach tiefe Trauer aus Ihren Zügen, und Sie schüttelten den Kopf. Ihre Gedanken weilten bei den Schmerzen, dem Grauen, dem nutzlosen Blutvergießen. Sie pressten die Hand auf Ihre alte Wunde, und ein Lächeln spielte um Ihre Lippen. Ihnen war plötzlich aufgegangen, wie lächerlich es doch im Grunde sei, internationale Fragen auf solche Art entscheiden zu wollen. In diesem Augenblick sprach ich Ihnen meine Zustimmung aus und freute mich zu sehen, dass alle meine Schlussfolgerungen richtig gewesen waren.«
»Vollkommen richtig«, sagte ich, »aber nachdem Sie mir alles erklärt haben, ist mir die Sache durchaus nicht verständlicher geworden.«
»Es war nur ein kleiner Zeitvertreib, mein lieber Watson, von dem ich Ihnen gar nichts verraten haben würde, hätten Sie nicht neulich etwas ungläubig dreingeschaut. – Aber mir scheint, draußen erhebt sich ein frischer Luftzug. Wollen wir nicht noch einen Abendspaziergang in den Londoner Straßen machen?«
Ich hatte es herzlich satt, in unserem engen Wohnzimmer zu sitzen, und folgte bereitwillig seiner Aufforderung. Drei Stunden lang streiften wir in Fleet Street und dem Strand umher und betrachteten das vielgestaltige Menschengetriebe, das dort fortwährend auf und nieder wogt. Holmes ließ seiner Beobachtungsgabe freien Lauf; seine anziehenden Gespräche und scharfsinnigen Bemerkungen fesselten und belustigten mich in hohem Grad.
Erst gegen zehn Uhr kehrten wir in die Baker Street zurück. Ein Einspänner wartete vor unserer Tür.
»Hm! Ein Arztwagen, wie ich sehe«, sagte Holmes. »Offenbar ein praktischer Arzt – erst kurze Zeit im Beruf, hat aber schon viel zu tun. Er will sich vermutlich Rat bei uns holen. Ein Glück, dass wir rechtzeitig nach Hause gekommen sind.«
Ich kannte meinen Freund genugsam, um mich über seine Schlüsse nicht sonderlich zu verwundern. Ein Korb mit chirurgischen Instrumenten, der im Innern des Wagens hing und von den Laternen beschienen wurde, hatte ihm all diese Einzelheiten verraten. Oben in unserem Fenster sahen wir Licht, ein Zeichen, dass der späte Besuch wirklich uns galt. Nicht ohne Neugier, was mein Herr Kollege um diese Stunde noch hier zu suchen kam, folgte ich Holmes in unsere Behausung.
Ein bleicher Mann mit hagerem Gesicht und blondem Backenbart stand vom Stuhl auf, als wir eintraten. Er mochte etwa vierunddreißig Jahre alt sein, aber seine ungesunde Farbe und die eingefallenen Wangen erzählten von einer Lebensweise, die seine Kraft verzehrt und ihn früh alt gemacht hatte. Sein Wesen war schüchtern und unsicher, und seine schmale weiße Hand, die er beim Aufstehen auf das Kaminsims legte, hätte besser für einen Künstler als für einen Chirurgen gepasst. Er trug einen schwarzen Überrock und dunkle Beinkleider, nur seine Krawatte hatte ein wenig Farbe.
»Guten Abend, Herr Doktor«, redete ihn Holmes freundlich an, »es ist gut, dass Sie nicht länger als ein paar Minuten auf uns zu warten brauchten.«
»Sie haben wohl mit meinem Kutscher gesprochen?«
»Nein, ich sehe es an dem Licht hier auf dem Nebentisch. Bitte nehmen Sie wieder Platz und sagen Sie mir, was zu Ihren Diensten steht.«
»Erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin Doktor Percy Trevelyan und wohne in der Brook Street 403.«
»Sind Sie vielleicht der Verfasser einer Abhandlung über ›unsichtbare krankhafte Veränderungen im Nervensystem‹?«, fragte ich.
Seine bleichen Wangen färbten sich vor Vergnügen, als er hörte, dass mir sein Werk bekannt sei.
»Es kommt so selten vor, dass jemand meine Arbeit erwähnt«, sagte er, »ich glaubte schon, sie wäre ganz verschollen. Mein Verleger spricht sich äußerst entmutigend über den Absatz aus. Vermutlich sind Sie selbst Mediziner?«
»Ich war früher Regimentsarzt.«
»Nervenkrankheiten sind mir schon von jeher interessant gewesen; am liebsten würde ich sie zu meiner Spezialität machen, aber man muss natürlich nehmen, was gerade kommt. – Doch dies gehört nicht zur Sache, Mr Holmes, und ich kann mir denken, wie wertvoll Ihre Zeit ist. Bei mir in der Brook Street haben sich merkwürdige Dinge zugetragen, und die ganze Angelegenheit hat sich heute Abend so sehr zugespitzt, dass ich auch keine Stunde länger warten wollte, ohne Sie um Rat und Beistand zu bitten.«
Sherlock Holmes setzte sich und zündete seine Pfeife an. »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung«, sagte er. »Bitte teilen Sie mir so ausführlich wie möglich mit, was Sie beunruhigt hat.«
»Es kommen verschiedene sehr geringfügige Umstände dabei mit ins Spiel – fast schäme ich mich, davon zu sprechen. Doch ist mir die Sache vollkommen unerklärlich, und sie hat zuletzt noch eine so außergewöhnliche Wendung genommen, dass ich Ihnen den genauen Sachverhalt darlegen muss, damit Sie selbst urteilen, was wesentlich oder nebensächlich ist.
Ich muss auf meine Studienzeit zurückgreifen. Die Professoren an der Londoner Universität, die ich besuchte, hielten große Stücke auf mich; das kann ich sagen, ohne mich zu überheben. Nach abgelegtem Examen setzte ich meine wissenschaftlichen Untersuchungen fort und erhielt eine Assistentenstelle im King’s College Hospital. Meine Beobachtungen der Krankheitserscheinungen bei der Starrsucht erregten einiges Aufsehen, und zugleich wurde mir auch der Pinkerton-Preis und die große Medaille für meine Abhandlung über die Veränderungen im Nervensystem zuerteilt, die Ihr Freund soeben erwähnte. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass man mir damals eine glänzende Laufbahn prophezeite.
Das größte Hindernis, das mir im Weg stand, war mein Geldmangel. Ein Spezialist, der sich einen Namen machen will, ist genötigt, sich in einer der vornehmsten Straßen des Cavendish Square niederzulassen, wo die Mieten fast unerschwinglich sind und die Einrichtung große Summen kostet. Auch muss er sich Wagen und Pferde halten und ein paar Jahre nur von seinen Zinsen leben können. An dies alles war bei mir nicht zu denken; ich konnte nur hoffen, in etwa zehn Jahren so viel zusammengespart zu haben, um eine selbstständige Praxis anzufangen. Plötzlich aber eröffnete sich mir eine ganz neue, unerwartete Aussicht.
Ein Herr namens Blessington, der mir völlig fremd war, trat eines Morgens zu mir ins Zimmer und begann ohne alle Einleitung:
›Sind Sie nicht derselbe Percy Trevelyan, der ein so vorzügliches Examen gemacht und kürzlich einen großen Preis erhalten hat?‹
Ich verbeugte mich.
›Antworten Sie mir frei und offen‹, fuhr er fort, ›denn das wird Ihnen nur zum Vorteil gereichen: Sie haben genügend Begabung, um Ihr Glück zu machen, aber besitzen Sie auch den erforderlichen Takt?‹
Das war eine sonderbare Frage. ›Ich hoffe, es fehlt mir nicht daran‹, erwiderte ich lächelnd.
›Sie haben keine schlechten Gewohnheiten? Sie neigen nicht etwa zum Trunke, was?‹
›Aber, mein Herr!‹, rief ich.
›Nichts für ungut. Sie haben ganz recht, aber ich muss danach fragen. – Sagen Sie einmal, warum fangen Sie denn bei Ihren Anlagen keine eigene Praxis an?‹
Ich zuckte die Achseln.
›Nur heraus mit der Sprache‹, fuhr er in seiner polternden Art fort. ›Es ist wohl die alte Geschichte. Sie haben mehr im Kopf als im Beutel, wie? – Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie instand setzte, sich in der Brook Street als Arzt niederzulassen?‹
Ich sah ihn starr vor Verwunderung an.
›Wissen Sie, ich tue es nicht Ihnen zuliebe, sondern um meinetwillen‹, rief er. ›Ich will Ihnen ganz offen sagen, wie ich es mir denke, und wenn es Ihnen passt, bin ich’s zufrieden. Ich suche nämlich mein kleines Kapital unterzubringen und habe Lust, es bei Ihnen anzulegen.‹
›Aber weshalb?‹, stieß ich hervor.
›Nun, es ist so gut wie jede andere Spekulation und obendrein sicherer als die meisten.‹
›Was verlangen Sie denn von mir?‹
›Das will ich Ihnen erklären. Ich miete das Haus, besorge die Einrichtung, bezahle die Dienerschaft und alle Ausgaben des Haushalts. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als im Sprechzimmer auf dem Lehnstuhl zu sitzen. Auch Taschengeld bekommen Sie von mir und alles Übrige. Dafür händigen Sie mir drei Viertel von Ihren Einkünften aus und behalten den Rest für sich.‹
So lautete der merkwürdige Vorschlag, den mir Mr Blessington machte; wie viel noch darüber hin und her geredet wurde und wie wir uns endlich verständigten, brauche ich nicht zu erwähnen. Kurz und gut – ich bezog fast unter den gleichen Bedingungen, wie er sie gestellt hatte, zu Lichtmess das Haus. Er selbst wohnte bei mir als ständiger Patient und benutzte die zwei besten Zimmer im ersten Stock für sich zum Schlaf- und Wohnraum. Da er an Herzschwäche litt, glaubte er einer fortwährenden ärztlichen Aufsicht zu bedürfen. Es war ein wunderlicher Mensch, der alle Geselligkeit hasste und nur selten ausging. In betreff seiner täglichen Gewohnheiten band er sich an keinerlei Regel, nur in einer Sache war er die Pünktlichkeit selbst. Er pflegte nämlich jeden Abend um dieselbe Stunde in meinem Sprechzimmer zu erscheinen, die Bücher durchzusehen, mir fünf Schilling und drei Pence für jede verdiente Guinee auszuzahlen und den Rest einzustreichen, um ihn in dem eisernen Geldkasten zu verwahren, den er in seinem Zimmer stehen hatte.
Ich kann mit aller Bestimmtheit sagen, dass er niemals Ursache gehabt hat, seine Spekulation zu bereuen. Sie glückte von Anfang an. Der gute Ruf, den ich mir schon im Hospital erworben, sowie ein paar gelungene Kuren brachten mich rasch vorwärts, und während der letzten zwei Jahre habe ich ihn zum reichen Mann gemacht.
So viel musste ich Ihnen von meiner Vergangenheit und meinen Beziehungen zu Blessington berichten, Mr Holmes. Nunmehr komme ich zu den Ereignissen, die mich veranlasst haben, Sie heute Abend aufzusuchen.
Vor einigen Wochen trat Blessington einmal in großer Aufregung bei mir ein und erzählte von einem Einbruchsdiebstahl, der im Westend verübt worden sei. Meiner Meinung nach ereiferte er sich ganz unnötig darüber, auch fand ich es höchst überflüssig, dass er sogleich an sämtlichen Fenstern und Türen die Schlösser und Riegel untersuchen und verstärken ließ. Acht Tage lang kam er nicht aus der Unruhe heraus; er schaute fortwährend verstohlen auf die Straße hinunter, auch gab er seinen kurzen Spaziergang vor Tisch auf und verließ das Haus nicht mehr. Sein Benehmen machte den Eindruck, als schwebe er beständig in Todesangst vor einem Menschen oder irgendeiner Gefahr. Auf alle meine Fragen antwortete er aber mit solchen persönlichen Beleidigungen, dass mir die Lust verging, das Thema noch weiter zu berühren. Mit der Zeit schwand seine Furcht allmählich, und er hatte fast die frühere Lebensweise wieder aufgenommen, als ein Ereignis eintrat, das ihn gänzlich daniederwarf und ihn in den kläglichen Zustand versetzte, in dem er sich jetzt befindet.
Der Anlass war folgender: Vor zwei Tagen erhielt ich dies Schreiben ohne Adresse und Datum, das ich Ihnen jetzt vorlesen will:
›Ein russischer Edelmann, der gegenwärtig in England wohnt, leidet seit mehreren Jahren an Anfällen von Starrsucht. Er wünscht, Dr. Trevelyan, der, wie allgemein bekannt, eine Autorität für dies Übel ist, um seinen ärztlichen Beistand zu bitten. Morgen Abend wird er sich um ein Viertel sieben im Sprechzimmer einfinden und bittet den Herrn Doktor, sich so einzurichten, dass er ihn zu Hause trifft.‹
Der Brief war für mich umso bedeutsamer, weil das Studium der Starrsucht besonders durch die Seltenheit der Krankheit erschwert wird. Als daher der Diener zur bestimmten Stunde meinen ausländischen Patienten hereinließ, erwartete ich ihn bereits mit Spannung.
Es war ein ältlicher hagerer Mann von ehrbarem, etwas gewöhnlichem Aussehen – durchaus nicht, was man sich unter einem russischen Edelmann vorstellt. Sein Gefährte, ein auffallend hübscher, hochgewachsener junger Herr mit dunklen, finsteren Gesichtszügen und wahrhaft herkulischem Gliederbau, machte mir einen weit größeren Eindruck. Als sie eintraten, stützte er den Alten und geleitete ihn bis zu einem Stuhl. Man hätte ihm eine so zärtliche Sorgfalt nach seinem Äußeren gar nicht zugetraut.
›Sie entschuldigen wohl, Herr Doktor, dass ich mitkomme‹, sagte er auf Englisch mit etwas fremdländischer Aussprache. ›Dies ist mein Vater, um dessen Gesundheit ich im höchsten Grade besorgt bin.‹
Von so viel kindlicher Liebe gerührt, fragte ich: ›Vielleicht wünschen Sie bei der Konsultation zugegen zu sein?‹
›Um nichts in der Welt!‹, rief er mit entsetzter Gebärde. ›Wenn mein Vater einen seiner schrecklichen Anfälle bekäme und ich es mit ansehen müsste – ich glaube, das überlebte ich nicht. Mein eigenes Nervensystem gehört durchaus nicht zu den stärksten. Mit Ihrer Erlaubnis will ich mich in das Wartezimmer zurückziehen, während Sie meines Vaters Fall untersuchen‹
Ich hatte natürlich nichts dagegen, und der junge Mann entfernte sich. Dann sprach ich mit dem Patienten ausführlich über seine Krankheit und notierte mir alles genau. Der alte Herr hatte keinen besonders scharfen Verstand und gab meist ziemlich undeutliche Antworten, was ich seiner mangelhaften Kenntnis der englischen Sprache zuschrieb. Plötzlich aber, während ich noch mit Schreiben beschäftigt war, antwortete er gar nicht mehr auf meine Fragen, und als ich mich nach ihm umwandte, sah ich ihn zu meinem Schrecken kerzengerade auf dem Stuhl sitzen; sein Gesicht, das er mir zuwandte, war völlig starr und leblos. Das rätselhafte Übel hatte ihn abermals befallen.
Mein erstes Gefühl war, wie gesagt, Mitleid und Grauen. Dann aber ergriff mich, ich will es nicht leugnen, die Befriedigung des Fachmanns. Ich notierte Puls und Temperatur meines Patienten, prüfte die Starrheit seiner Muskeln und ihre Reflexbewegungen. Alle Ergebnisse stimmten fast genau mit meinen Beobachtungen in früheren Fällen überein; es war keinerlei Abweichung bemerkbar. Das Einatmen von Amylnitrit hatte bei ähnlicher Gelegenheit schon gute Dienste getan, und ich wollte seine Wirkung auch jetzt wieder erproben. Da die Flasche unten im Laboratorium war, ließ ich meinen Patienten auf dem Stuhl sitzen und lief hinunter, sie zu holen. Ich musste ein Weilchen nach dem Mittel suchen und kehrte erst nach etwa fünf Minuten zurück. Nun stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich das Zimmer leer fand – der Kranke war verschwunden.
Natürlich stürzte ich gleich ins Wartezimmer. Der Sohn war auch fort. Die Haustür wurde tagsüber nicht verschlossen. Mein Diener, der die Patienten einzulassen pflegt, ist noch neu und nicht sehr aufgeweckt. Gewöhnlich wartet er unten und kommt erst heraufgesprungen, um die Herrschaften hinauszubegleiten, wenn ich im Sprechzimmer klingle. Er hatte nichts gehört, und die Sache blieb völlig rätselhaft.
Bald nachher kam Blessington von seinem Spaziergang zurück, aber ich erwähnte ihm gegenüber nichts von dem Vorfall. Offen gestanden habe ich in letzter Zeit den Verkehr mit ihm überhaupt so viel wie möglich gemieden.
Eigentlich war ich überzeugt, dass ich weder den Russen noch seinen Sohn je wieder zu Gesicht bekommen würde; aber heute Abend erschienen beide zu meiner Überraschung ganz wie das erste Mal und zur nämlichen Stunde bei mir im Sprechzimmer.
›Ich muss Sie sehr um Entschuldigung bitten, Herr Doktor‹, sagte mein Patient, ›dass ich gestern so ohne Abschied fortgegangen bin.‹
›Allerdings war ich nicht wenig verwundert darüber‹, erwiderte ich.
›Sie müssen wissen‹, fuhr er fort, ›dass mir, wenn ich nach solchem Anfall aufwache, meist jede Erinnerung an das Vorhergegangene geschwunden ist. Ich muss wohl während Ihrer Abwesenheit in noch halb bewusstlosem Zustand zum Haus hinaus und auf die Straße gegangen sein.‹
›Und ich‹, sagte der Sohn, ›sah meinen Vater an der Tür des Wartezimmers vorbeikommen und dachte natürlich nichts anderes, als dass die Konsultation zu Ende sei. Erst nachdem wir daheim angekommen waren, wurde mir der wahre Stand der Dinge klar.‹
›Nun, es ist ja kein Unglück daraus entstanden‹, versetzte ich lachend. ›Sie haben mir nur viel Kopfzerbrechen verursacht. Wenn Sie, mein Herr, sich gefälligst wieder ins Wartezimmer verfügen wollen, können wir die so plötzlich abgebrochene Konsultation gleich wieder aufnehmen.‹
Etwa eine halbe Stunde lang sprach ich mit dem alten Herrn über seine Symptome, verschrieb ihm eine Arznei und sah ihn dann sich am Arm seines Sohnes entfernen.
Ich sagte Ihnen schon, dass Blessington um diese Zeit seinen täglichen Spaziergang zu machen pflegte. Er kam bald nachher zurück, und ich hörte ihn die Treppe hinaufgehen. Im nächsten Augenblick stürmte er aber wieder herunter und in mein Sprechzimmer, wie wahnsinnig vor Angst und Schrecken.
›Wer ist bei mir im Zimmer gewesen?‹, rief er.
›Kein Mensch‹, entgegnete ich.
›Das ist eine freche Lüge!‹, kreischte er. ›Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.‹
Ich hielt ihm die beleidigende Rede zugute, da er vor Furcht ganz von Sinnen schien. Als ich mit ihm hinaufging, zeigte er mir verschiedene Fußspuren auf dem hellen Teppich.
›Sollen die etwa von mir herrühren?‹, rief er.
Die Abdrücke waren viel zu groß dazu und offenbar ganz frisch. Es hat heute Nachmittag stark geregnet, wie Sie wissen, und außer den beiden Russen waren keine Patienten bei mir gewesen. – Es ließ sich nicht anders erklären, als dass der Mann im Wartezimmer aus irgendeinem mir unbekannten Grund in Blessingtons Wohnung hinaufgegangen war, während ich mich mit seinem Vater besprach. Nichts war von der Stelle gerückt oder entwendet worden, die Fußspuren bildeten den einzigen Beweis, dass wirklich jemand im Zimmer gewesen war.
Blessington regte sich ganz maßlos über den Vorfall auf, der natürlich keinem gleichgültig gewesen wäre. Er sank laut schluchzend in seinen Stuhl und war kaum imstande, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. Auf seinen Wunsch beschloss ich, mir bei Ihnen Rat zu holen, Mr Holmes; die Sache ist auch wirklich höchst seltsam, obgleich er ihr entschieden eine viel zu große Wichtigkeit beilegt. Wenn Sie die Güte hätten, mit mir im Wagen zurückzukommen, würde sich Blessington vielleicht einigermaßen beruhigen. Dass es Ihnen gelingen könnte, eine Erklärung für den merkwürdigen Vorfall zu finden, wage ich kaum zu hoffen.«
Sherlock Holmes hatte dem langen Bericht so gespannt zugehört, dass ich wohl sah, wie sehr ihn die Angelegenheit interessierte. Zwar blieben seine Gesichtszüge regungslos wie immer, aber mehr und mehr senkten sich die Lider über seine Augen, und immer dichter qualmte der Rauch seiner Pfeife bei jeder überraschenden Wendung in der Geschichte. Kaum hatte der Arzt geendet, als Holmes, ohne ein Wort zu sagen, aufsprang, mir meinen Hut in die Hand drückte, den seinigen vom Tisch nahm und Doktor Trevelyan zur Tür hinaus folgte. Eine Viertelstunde später hielten wir vor seinem Wohnhaus in der Brook Street, das düster und schmucklos dalag wie die meisten Geschäftshäuser im Westend. Der Diener ließ uns ein, und wir stiegen die teppichbelegte Treppe hinauf.
Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Die Lampe im oberen Stock erlosch plötzlich, und wir hörten in der Dunkelheit eine schnarrende, bebende Stimme uns zurufen:
»Ich habe eine Pistole hier, und sobald ihr näher kommt, schieße ich!«
»Aber da hört denn doch alles auf, Mr Blessington!«, rief Trevelyan erzürnt.
»Also Sie sind es, Doktor«, sagte die Stimme im Ton großer Erleichterung. »Aber die beiden anderen Herren – sind sie auch wirklich das, wofür sie sich ausgeben?«
Sein scharfer Blick suchte die Finsternis zu durchdringen, so gut es anging.
»Es ist richtig, Sie können heraufkommen«, sagte er endlich. »Ich bedaure, dass ich Sie mit meinen Vorsichtsmaßregeln belästigen musste.«
Er zündete die Gaslampe wieder an, und wir sahen einen sonderbaren Menschen vor uns, dessen Äußeres noch deutlicher verriet, als es seine Stimme vorhin getan hatte, wie zerrüttet seine Nerven waren. Das dünne sandfarbene Haar stand ihm vor innerer Erregung zu Berge, er hatte eine kränkliche Gesichtsfarbe und musste wohl in letzter Zeit sehr abgemagert sein, denn die Haut war um Hals und Wangen ganz schlaff, obgleich er noch immer für einen sehr dicken Mann gelten konnte. In der Hand hielt er eine Pistole, die er in die Tasche gleiten ließ, als er auf uns zutrat.
»Guten Abend, Mr Holmes«, sagte er, »besten Dank für Ihren Besuch. Kein Mensch braucht Ihren Rat wohl so nötig wie ich. Vermutlich hat Ihnen Doktor Trevelyan schon von dem frechen Hausfriedensbruch erzählt, der an mir verübt worden ist.«
»Jawohl«, versetzte Holmes. »Wer sind denn die beiden Männer, Mr Blessington, und was treibt sie dazu, Ihre Ruhe zu stören?«
»Ja, sehen Sie«, erwiderte der Angeredete mit nervöser Hast, »das ist eine Frage, die sich nicht so leicht beantworten lässt. Das werden Sie sich wohl selber sagen können.«
»Soll das etwa heißen, dass Sie es nicht wissen?«
»Bitte wollen Sie nicht eintreten? Haben Sie die Güte, sich einmal hierherzubemühen.«
Er führte uns in sein geräumiges und bequem ausgestattetes Schlafzimmer und deutete auf einen schwarzen Koffer, der zu Häupten des Betts stand. »Ich bin nie ein reicher Mann gewesen, Mr Holmes«, sagte er, »nur eine einzige Kapitalanlage habe ich in meinem Leben gemacht, wie Doktor Trevelyan Ihnen mitteilen kann. Ich habe nun einmal kein Vertrauen zu den Bankiers und würde mich nie auf solche Geldmenschen verlassen. Unter uns gesagt, alles, was ich besitze, liegt dort im Koffer; Sie können sich daher vorstellen, wie mir zumute ist, wenn unbekannte Leute heimlich in mein Zimmer eindringen.«
Holmes sah Blessington mit forschendem Blicke an und schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie versuchen wollen, mich zu täuschen, kann ich Ihnen keinen Rat geben.«
»Aber ich habe Ihnen doch alles offen kundgetan.«
Holmes wandte sich mit ärgerlicher Miene zum Gehen. »Guten Abend, Doktor Trevelyan«, sagte er.
»Und für mich haben Sie keinen Rat?«, stöhnte Blessington mit brechender Stimme.
»Ich kann Ihnen nur raten, die Wahrheit zu sprechen.«
In der nächsten Minute waren wir draußen und auf dem Heimweg begriffen. Wir hatten schon die Oxford Street hinter uns, ehe mein Gefährte die kleinste Äußerung tat.
»Es tut mir leid, Watson, dass ich Sie so vergeblich bemüht habe«, sagte er endlich. »Freilich, im Grunde ist der Fall ganz interessant.«
»Ich kann nicht recht klug daraus werden«, gestand ich.
»Es liegt doch auf der Hand, dass zwei Männer – vielleicht auch mehr, aber zwei jedenfalls – Mr Blessington zu Leibe gehen möchten. Ich bin fest überzeugt, dass der jüngere sowohl das erste als das zweite Mal in Blessingtons Zimmer war, während sein Helfershelfer durch schlaue Vorspiegelungen die Aufmerksamkeit des Doktors zu fesseln wusste.«
»Aber die Starrsucht?«
»Ein geschickter Betrug, Watson, obgleich ich dem Herrn Spezialisten gegenüber das nicht auszusprechen wage. Gerade diese Krankheit lässt sich sehr leicht vortäuschen. Ich habe es selbst schon getan.«
»Nun, und was weiter?«
»Es traf sich bei beiden Gelegenheiten ganz zufällig, dass Blessington gerade abwesend war. Sie wählten die ungewöhnliche Stunde für ihre Besuche offenbar, damit kein anderer Patient im Wartezimmer wäre. Dass dies gerade mit Blessingtons täglichem Ausgang zusammentraf, wussten sie nicht; sie scheinen demnach mit seinen Gewohnheiten wenig vertraut. Wäre es ihnen nur um Beute zu tun gewesen, hätten sie wenigstens den Versuch gemacht, sein Geld zu finden. Es lässt sich einem Menschen unfehlbar am Gesicht absehen, wenn ihm um seine eigene Haut bange ist. Unmöglich kann er sich Feinde gemacht haben, die ihn mit solcher Rachsucht verfolgen, ohne dass er selbst darum weiß. Ich nehme daher als gewiss an, dass er die Männer kennt und seine Gründe hat, es nicht einzugestehen. Indessen ist es möglich, dass wir ihn morgen in einer mitteilsameren Stimmung finden.«
»Noch eine andere Möglichkeit wäre vorhanden«, sagte ich. »Es ist zwar im höchsten Grade unwahrscheinlich, aber doch denkbar, dass die Begebenheit mit dem starrsüchtigen Russen und dessen Sohn auf bloßer Erfindung beruht und Trevelyan selbst zu irgendwelchem Zweck in Blessingtons Zimmer gewesen ist.«
Beim Schein der Gaslaterne sah ich, wie belustigt Holmes über meinen glänzenden Einfall lächelte.
»Auch mir kam gleich zuerst diese Lösung der Angelegenheit in den Sinn, mein Junge«, sagte er. »Aber bald wurde mir die Richtigkeit von des Doktors Angaben klar. Der jüngere Mann hatte so deutliche Fußspuren auf der Treppe zurückgelassen, dass ich gar nicht erst ins Zimmer zu gehen brauchte, um sie dort zu sehen. Seine Schuhe sind vorne breit und nicht spitz wie Blessingtons, auch fast anderthalb Zoll länger als des Doktors Stiefel. Darüber, dass er der Eindringling war, besteht also nicht der leiseste Zweifel, wie du mir zugeben wirst. Wir wollen jetzt die Sache beschlafen; mich würde es sehr wundern, wenn wir nicht morgen früh neue Nachricht aus der Brook Street erhielten.«
Sherlock Holmes’ Prophezeiung sollte sich bald auf tragische Weise erfüllen. Am nächsten Morgen, gegen halb acht Uhr, als kaum der Tag graute, sah ich ihn im Schlafrock neben meinem Bette stehen.
»Draußen wartet eine Droschke auf uns, Watson«, sagte er.
»Was gibt es denn?«
»Es handelt sich um die Geschichte in der Brook Street.«
»Ist etwas Neues geschehen?«
»Allem Anschein nach.« Holmes öffnete den Fensterladen. »Sieh her – ein Blatt aus dem Notizbuch und mit Bleistift darauf gekritzelt: ›Um Gottes willen, kommen Sie schnell! – P. T.‹ Unser Freund, der Doktor, hat das in schrecklicher Aufregung geschrieben. Machen Sie sich fertig, alter Junge, es ist ein dringender Hilferuf.«
Etwa eine Viertelstunde später waren wir wieder in der Wohnung des Arztes. Er kam uns mit entsetzter Miene entgegengestürzt.
»Ist das eine Geschichte!«, rief er, sich mit beiden Händen den Kopf haltend.
»Was gibt’s denn?«
»Blessington hat sich umgebracht.«
»Wahrhaftig?«
»Ja, er hat sich heute Nacht erhängt.«
Der Doktor ging voran, und wir betraten sein Wartezimmer.
»Der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren; ich weiß kaum mehr, was ich tue«, rief er. »Die Polizei ist schon oben.«
»Wann haben Sie es entdeckt?«
»Man bringt ihm jeden Morgen eine Tasse Tee hinauf. Als das Mädchen gegen sieben Uhr ins Zimmer trat, sah sie das Unglück. Er hatte den Strick an den Haken in der Decke gebunden, wo gewöhnlich die große Lampe hängt, und war dann von demselben Koffer heruntergesprungen, den er uns gestern gezeigt hat.«
Holmes stand tief in Gedanken da.
»Wenn Sie erlauben«, sagte er endlich, »möchte ich oben den Tatbestand in Augenschein nehmen.«
Wir stiegen die Treppe hinauf, und der Doktor folgte.
Als wir ins Schlafzimmer traten, bot sich uns ein grauenhafter Anblick dar. Blessington, der dort am Strick baumelte, sah kaum noch einem Menschen gleich. Sein Hals war stark in die Länge gezogen, wie der eines gerupften Huhns, und im Gegensatz dazu nahm sich der übrige Körper umso aufgeschwemmter und formloser aus. Er war nur mit seinem langen Nachthemd bekleidet, aus dem die geschwollenen Füße und Fußgelenke starr und steif hervorsahen. Neben der Leiche stand ein schneidig aussehender Polizeibeamter, der sich Notizen in sein Taschenbuch machte.
»Ach, Sie sind’s, Mr Holmes«, sagte er, als mein Freund eintrat, »das freut mich sehr.«
»Guten Morgen, Lanner«, versetzte Holmes. »Sie werden gewiss nicht glauben, dass ich mich hier unberufen eindrängen will. Wissen Sie schon etwas von dem, was vorausgegangen ist, ehe es zu diesem Ende kam?«
»Ja, man hat mir einiges mitgeteilt.«
»Haben Sie bereits eine Ansicht darüber?«
»Soweit ich sehen kann, ist der Mann aus Furcht von Sinnen gekommen. Er hat die Nacht über im Bett gelegen und geschlafen, man sieht noch den tiefen Eindruck in den Kissen. Gegen fünf Uhr morgens wird am häufigsten Selbstmord verübt. Diese Zeit scheint er auch gewählt zu haben, um sich zu erhängen. Er hat die Tat mit allem Bedacht ausgeführt.«
»Nach der Erstarrung der Muskeln zu urteilen, muss er seit etwa drei Stunden tot sein«, sagte ich.
»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes im Zimmer aufgefallen?«, erkundigte sich Holmes.
»Ein Schraubenzieher und mehrere Schrauben lagen auf dem Waschtisch. Auch hat er die Nacht über stark geraucht. Hier sind vier Zigarrenstummel, die ich im Kamin gefunden habe.«
»Hm«, meinte Holmes. »Liegt hier irgendwo seine Zigarrenspitze?«
»Nein, ich habe keine gesehen.«
»Oder seine Zigarrentasche?«
»Die steckte im Rock.«
Holmes öffnete sie und roch an der einzigen Zigarre, die sie noch enthielt.
»Das ist eine Havanna«, sagte er, »und die anderen gehören zu der eigentümlichen Sorte, welche die Holländer aus Ostindien bei uns einführen. Sie sind im Verhältnis zur Länge ungewöhnlich dünn und meist in Stroh gewickelt.« Er untersuchte die vier Zigarrenenden mit seiner Taschenlupe.
»Zwei sind durch die Spitze geraucht worden und zwei ohne«, sagte er. »Zwei hat man mit einem etwas stumpfen Messer abgeschnitten und die anderen beiden mit sehr scharfen Zähnen abgebissen. Es handelt sich hier um keinen Selbstmord, Lanner. Der Mann ist nach einem wohlüberlegten Plan von ein paar Bösewichtern mit kaltem Blut umgebracht worden.«
»Unmöglich!«, rief der Polizeibeamte.
»Weshalb?«
»Wozu sollten die Verbrecher für ihr Opfer eine so unbequeme Todesart wählen?«
»Das müssen wir zu ergründen suchen.«
»Wie hätten sie hineinkommen können?«
»Durch die Haustür.«
»Die Eisenstange lag am Morgen noch vor.«
»Dann hat man sie angelegt, nachdem sie draußen waren.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Ich habe ihre Fußspuren gesehen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, vielleicht kann ich Ihnen dann noch Näheres berichten.«
Er ging zur Tür, untersuchte das Schloss auf seine methodische Art, zog den Schlüssel heraus, der auf der Innenseite steckte, und betrachtete ihn gleichfalls. Auch das Bett, den Teppich, die Stühle, den Kaminsims, den Leichnam und den Strick unterwarf er einer genauen Besichtigung. Hierauf schnitten wir mithilfe des Polizisten den Unglücklichen ab und breiteten schweigend ein Tuch über die Leiche
»Wo kam der Strick her?«, fragte Holmes.
Trevelyan zog ein zusammengerolltes Seil unter dem Bett hervor. »Es ist ein Stück hiervon«, sagte er. »Blessington schwebte in steter Furcht vor Feuergefahr und hielt immer ein Rettungsseil in seiner Nähe bereit, damit er durchs Fenster entkommen könnte, falls die Treppe in Brand geriete.«
»Das hat ihnen viele Mühe erspart«, äußerte Holmes nachdenklich. »Jawohl, die Tatsachen liegen klar auf der Hand, und mich soll’s nicht wundern, wenn ich Ihnen bis heute Nachmittag auch alle Beweggründe mitteilen kann. Das Bild von Blessington dort auf dem Kaminsims will ich mitnehmen, vielleicht erleichtert es mir meine Nachforschung.«
»Aber Sie haben uns ja noch gar nichts erklärt«, rief der Doktor.
»Über die Reihenfolge der Ereignisse kann doch wohl kein Zweifel mehr bestehen. – Drei Leute waren an dem Verbrechen beteiligt, der junge Mensch, der Alte und ein Dritter, über den ich noch im Dunkeln bin. Die ersten beiden stellten den russischen Edelmann und seinen Sohn vor, wir sind also imstande, sie genau zu beschreiben. Sie wurden von ihrem Helfershelfer ins Haus eingelassen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Lanner, wäre es der, den Diener zu verhaften, der, wie ich höre, erst kürzlich bei dem Herrn Doktor eingetreten ist.«
»Der Mensch ist nirgends zu finden«, sagte Trevelyan. »Die Köchin und das Hausmädchen haben schon vergebens nach ihm gesucht.«
Holmes zuckte die Achseln. »Er hat eine ziemlich bedeutende Rolle in dem Trauerspiel gehabt. Die drei Leute sind auf den Fußspitzen die Treppe hinangeschlichen, der Alte voraus, dann der junge Mann und der Unbekannte zuletzt.«
»Aber, bester Holmes!«, rief ich.
»Die Fußspuren lassen sich nicht verwechseln; schon gestern Abend habe ich gelernt, sie zu unterscheiden. – Als die drei an Blessingtons Stube kamen, fanden sie zwar die Tür verschlossen, doch gelang es ihnen mithilfe eines Drahts den Schlüssel umzudrehen. Selbst ohne Lupe können Sie die Kratzer hier am Schlüsselbart erkennen. Vielleicht schlief er noch oder war so von Furcht gelähmt, dass er nicht nach Hilfe rufen konnte. Aber selbst wenn er noch Zeit dazu hatte, ist der Schrei wohl ungehört verhallt. Das Haus hat dicke Wände.
Nachdem sie ihrer Beute sicher waren, haben sie vermutlich eine Beratung gehalten – eine Art Gerichtssitzung. Sie muss einige Zeit in Anspruch genommen haben, denn währenddessen sind die Zigarren geraucht worden. Der Alte saß im Lehnstuhl und rauchte aus der Zigarrenspitze, der Jüngere hat dort drüben Platz genommen und die Zigarrenasche an der Kommode abgestrichen. Der Dritte ist im Zimmer auf und ab gegangen. Blessington wird wohl aufrecht im Bett gesessen haben; das lässt sich aber nicht mit voller Gewissheit behaupten.
»Die Sache endete damit, dass sie Blessington packten und aufhängten. Es war schon alles so genau überlegt und vorbereitet, dass sie, wie ich glaube, eine Art Kloben und kleine Winde oder Rolle mitgebracht haben, die als Galgen dienen und mittels der Schrauben an der Wand befestigt werden sollten. Als sie aber den Haken sahen, sparten sie sich natürlich die Mühe. Sobald ihr Werk getan war, machten sie sich aus dem Staub, und der Helfershelfer sperrte die Tür wieder hinter ihnen zu.«
Wir hatten alle mit der größten Spannung auf den Bericht über die nächtlichen Ereignisse gehorcht, für welchen Holmes nur so kleine und geringfügige Anhaltspunkte besaß, dass wir seinen Schlüssen kaum zu folgen vermochten. Der Polizeibeamte eilte nun spornstreichs fort, um des Dieners habhaft zu werden, Holmes und ich aber kehrten in die Baker Street zurück.
Gleich nach dem Frühstück stand mein Freund vom Tisch auf. »Um drei Uhr bin ich wieder hier«, sagte er. »Ich habe für diese Stunde den Doktor und den Polizeibeamten zu einer Zusammenkunft hierherbestellt; dann werde ich hoffentlich alles aufklären können, was an der Sache jetzt noch dunkel ist.«
Die beiden Herren fanden sich zur bestimmten Zeit ein, aber es wurde drei Viertel vier, bevor mein Freund erschien. Als er eintrat, sah ich sofort an seiner Miene, dass ihm sein Vorhaben geglückt sein müsse.
»Was gibt es Neues, Lanner?«
»Wir haben den Diener.«
»Vortrefflich, und ich habe die anderen.«
»Was – gefangen!?«, riefen wir alle drei.
»Das nicht, aber ich weiß, wer sie sind. Der Mann, der sich Blessington nannte, ist auf dem Polizeiamt genau bekannt, und seine Mörder nicht minder. Sie heißen Biddle, Hayward und Moffat.«
»Die Räuberbande, die Worthingdons Bank geplündert hat!«, rief Lanner erstaunt,
»Ganz recht«, versetzte Holmes.
»So war Blessington kein anderer als Sutton.«
»Jawohl.«
»Dann ist ja alles sonnenklar.«
Trevelyan und ich sahen einander ganz verwirrt an.
»Ihr werdet doch von dem großen Einbruchsdiebstahl in Worthingdons Bankhaus gehört haben«, sagte Holmes. »Fünf Leute waren daran beteiligt, jene vier und ein fünfter namens Cartwright. Der Türhüter Tobin wurde ermordet, und die Diebe entkamen mit siebentausend Pfund. Das geschah im Jahr 1875. Sie wurden alle fünf festgenommen, aber die Beweise genügten nicht, sie zu überführen. Da wurde Blessington – oder vielmehr Sutton, der Schlimmste der ganzen Bande – zum Verräter. Auf seine Aussage hin kam Cartwright an den Galgen, und die drei anderen erhielten jeder fünfzehn Jahre Zuchthaus. Kürzlich wurden sie entlassen, einige Jahre bevor ihre Strafzeit um war, und sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als den Verräter ausfindig zu machen und den Tod ihres Kameraden zu rächen. Ihre beiden ersten Versuche, ihm zu Leibe zu gehen, misslangen, aber beim dritten Mal erreichten sie ihren Zweck. – Verstehen Sie nun alles, Herr Doktor, oder kann ich Ihnen noch irgendeine Aufklärung geben?«
»Sie haben uns alles merkwürdig übersichtlich dargestellt«, sagte Trevelyan. »Wahrscheinlich hatte er an dem Tag, als er so aufgeregt war, ihre Entlassung aus dem Zuchthaus in der Zeitung gelesen.«
»Natürlich. Was er von dem Einbruch gefaselt hat, war die reinste Erfindung.«
»Aber warum vertraute er sich Ihnen nicht an?«
»Er wollte seine wahre Persönlichkeit so lange wie möglich vor aller Welt verbergen, denn die Rachsucht seiner früheren Kameraden war ihm wohlbekannt. Deshalb verschwieg er sein schmachvolles Geheimnis. Und doch hätte das Gesetz seinen Schutz selbst einem so erbärmlichen Menschen, wie er es war, nicht vorenthalten. Ja, ja, Lanner, der Schild des Gesetzes deckt den Verfolgten nicht immer in der Stunde der Gefahr, aber das Schwert der Gerechtigkeit ist stets bereit, die Missetat zu rächen.«
Das ist die merkwürdige Geschichte des Doktors in der Brook Street und seines Patienten. Von den Mördern hat die Polizei seit jener Nacht keine Spur entdeckt; man vermutet, dass sie sich unter den Passagieren des englischen Dampfers »Nora Creina« befanden, der vor einigen Jahren an der portugiesischen Küste, wenige Meilen nördlich von Porto, mit Mann und Maus untergegangen ist. Das Verfahren gegen den Diener musste aus Mangel an vollgültigen Beweisen eingestellt werden, und der Mord in der Brook Street blieb ein Geheimnis.