Lord St. Simons Hochzeit mit ihrem merkwürdigen Ausgang fesselt schon längst nicht mehr das Interesse der hohen Kreise, in denen sich der unglückliche Bräutigam bewegt. Andere Aufsehen erregende Ereignisse haben dieses Thema verdrängt und bilden mit ihren pikanteren Einzelheiten nunmehr den Gesprächsstoff an Stelle jenes Dramas, das sich bereits vor vier Jahren abgespielt hat. Ich darf wohl als ausgemacht annehmen, dass die bezüglichen Tatsachen dem großen Publikum niemals im Zusammenhang mitgeteilt worden sind. Da nun aber mein Freund Sherlock Holmes an der Aufklärung des Falles bedeutenden Anteil hat, sollte nach meiner Überzeugung in einer Darstellung seines Wirkens, die nur irgendwie auf Vollständigkeit Anspruch machen will, eine kurze Skizze dieses merkwürdigen Vorfalls nicht fehlen.
Es war wenige Wochen vor meiner eigenen Hochzeit, während ich noch mit Holmes in der Baker Street zusammenwohnte, als dieser eines Nachmittags beim Nachhausekommen einen Brief an seine Adresse auf dem Tisch vorfand. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; dabei wehte ein scharfer Herbstwind, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseiteschob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte und fragte mich, wer wohl der adlige Briefschreiber sein möchte.
»Da liegt ein höchst vornehmer Brief für Sie«, rief ich meinem Freund bei seinem Eintritt entgegen. »Ihre Briefe heute früh waren von einem Fischhändler und einem Zolleinnehmer, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, mein Briefwechsel besitzt entschieden den Reiz der Abwechslung«, erwiderte er lächelnd, »und je weniger vornehm, desto interessanter sind sie in der Regel. Das da sieht gerade aus wie eine jener unwillkommenen gesellschaftlichen Einladungen, die einen entweder zu einer Marter oder zu einer Lüge verdammen.« Er erbrach das Siegel und überflog den Inhalt. »Warten Sie, das kann am Ende etwas ganz Interessantes geben«, rief er nun plötzlich.
»Also nichts Gesellschaftliches?«
»Nein, durchaus geschäftlich.«
»Und von vornehmer Seite?«
»Von einer der vornehmsten Personen in ganz England.«
»Nun, ich gratuliere Ihnen, mein lieber Freund.«
»Ich versichere Ihnen, Watson, es ist keine Ziererei, wenn ich sage, dass ich auf den gesellschaftlichen Rang meiner Kunden nicht so viel Wert lege wie auf das Interesse, das die Fälle bieten. Übrigens ist es wohl möglich, dass es bei dieser neuen Aufgabe auch an dem Letzteren nicht fehlt. Sie haben doch in diesen Tagen die Zeitungen genau durchgelesen, nicht wahr?«
»Na, und ob!«, erwiderte ich in kläglichem Ton und deutete dabei auf einen mächtigen Stoß, der in einer Ecke aufgehäuft lag; »ich habe ja sonst nichts zu tun gehabt.«
»Nun, das ist ein Glück, dann können Sie mir vielleicht Auskunft geben. Ich lese nichts als die Kriminalberichte und den Briefkasten. Aus Letzterem erfährt man doch wenigstens immer etwas. Aber wenn Sie die neuesten Ereignisse so genau verfolgt haben, müssen Sie wohl auch etwas über Lord St. Simon und seine Hochzeit gelesen haben?«
»Oh ja, und zwar mit dem lebhaftesten Interesse.«
»Das ist schön. Der Brief hier ist von Lord St. Simon. Ich will ihn Ihnen vorlesen, und dafür müssen Sie die Zeitungen noch einmal durchgehen und mir alles zusammensuchen, was sich auf die Angelegenheit bezieht. Er schreibt:
›Mein lieber Mr Sherlock Holmes – Lord Backwater sagt mir, dass ich Ihrem Scharfsinn und Ihrer Verschwiegenheit unbedingtes Vertrauen schenken dürfe. Ich habe mich daher entschlossen, bei Ihnen vorzusprechen und nur Ihren Rat in Beziehung auf das höchst schmerzliche Ereignis zu erbitten, das sich bei Gelegenheit meiner Hochzeit zugetragen hat. Mr Lestrade von der Geheimpolizei ist zwar in der Sache bereits tätig; allein er hat, wie er mir versichert, gegen Ihre Mitwirkung nicht nur nichts einzuwenden, sondern verspricht sich sogar Nutzen davon. Ich gedenke mich um vier Uhr heute Nachmittag bei Ihnen einzufinden und hoffe, dass Sie etwaige anderweite Verpflichtungen auf später verschieben werden, da die vorliegende Angelegenheit von allerhöchster Wichtigkeit ist. – Ihr aufrichtiger
St. Simon.‹
Der Brief ist aus Schloss Grosvenor datiert und mit einer Kielfeder geschrieben, wobei dem edlen Lord das Missgeschick begegnet ist, einen Tintenklecks außen an seinen rechten kleinen Finger zu bringen«, bemerkte Holmes, während er das Schreiben zusammenfaltete.
»Er sagt vier Uhr. Jetzt ist es drei. In einer Stunde ist er da.«
»Bis dahin habe ich gerade noch Zeit, mich mit Ihrer Hilfe in der Sache aufs Laufende zu bringen. Sehen Sie die Zeitungen durch und ordnen die bezüglichen Artikel nach ihrer Reihenfolge, unterdessen will ich einmal feststellen, wer unser Klient eigentlich ist.« Er nahm ein rotgebundenes Nachschlagebuch von dem Bücherbrett neben dem Kamin. »Da haben wir ihn ja«, sagte er, indem er sich niederließ und das Buch aufgeschlagen über seine Knie legte. »Lord Robert Walsingham de Bere St. Simon, zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral – Hm! Wappen blau, drei Stachelnüsse im Mittelfeld über einem schwarzen Querbalken. Geboren 1846. Also 41 Jahre alt, mithin eben nicht mehr zu jung zum Heiraten. War früher Unterstaatssekretär im Kolonialamt. Der Herzog, sein Vater, war ehemals Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Stammen in gerader Linie von den Plantagenets und weiblicherseits von den Tudors ab. Ha! – Nun, nach alledem sind wir nicht viel gescheiter als zuvor. Ich muss mich, scheint es, an Sie halten, Watson, wenn ich etwas Ausgiebigeres erfahren will.«
»Es war keine große Mühe, zu finden, was ich suche«, versetzte ich, »denn die Ereignisse sind neuesten Datums, und der merkwürdige Fall fesselte gleich meine Aufmerksamkeit. Trotzdem nahm ich Abstand, Ihnen darüber zu berichten, denn ich wusste, dass Sie gerade mit einer Untersuchung beschäftigt waren und es nicht gerne sehen, wenn man Ihnen mit etwas anderem dazwischenkommt.«
»Ach, der Fall, den Sie meinen, ist bereits vollständig erledigt und war eigentlich von vornherein ganz klar. Bitte lesen Sie mir nun vor, was Sie gefunden haben.«
»Dies hier ist die erste Notiz, die ich finden kann. Sie stand, wie Sie sehen, vor ein paar Wochen in der ›Morning Post‹ unter den Personalnachrichten. ›Lord Robert St. Simon‹, heißt es da, ›zweiter Sohn des Herzogs von Balmoral, beabsichtigt, sich mit Miss Hatty Doran, einziger Tochter des Mr Aloysius Doran aus San Francisco in Kalifornien, ehelich zu verbinden, und zwar soll dem allgemein verbreiteten Gerücht zufolge die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden.‹ Das ist alles.«
»Klipp und klar«, bemerkte Holmes darauf, indem er seine Beine vor dem Kaminfeuer ausstreckte.
»In derselben Woche stand noch ein eingehender Artikel in einer der Zeitungen der vornehmen Welt. Ach, da ist er ja:
›In Heiratssachen wird man wohl nächstens einen Schutzzoll für unsere heimischen Erzeugnisse verlangen, die allem Anschein nach durch die dermaßen in Geltung stehenden freihändlerischen Grundsätze stark geschädigt werden. Eine der britischen Adelsfamilien um die andere beugt sich dem häuslichen Zepter unserer hübschen überseeischen Stammverwandten. Die Zahl der Siegespreise, die diese reizenden Eroberinnen davongetragen haben, hat in verflossener Woche einen ganz gewichtigen Zuwachs erfahren. Lord St. Simon, der sich seit mehr als zwanzig Jahren gegenüber den Pfeilen des kleinen Gottes als unverwundbar gezeigt hatte, kündigt nunmehr seine baldige eheliche Verbindung mit Miss Hatty Doran, der reizenden Tochter eines kalifornischen Millionärs mit Bestimmtheit an. Miss Doran, deren anmutige Erscheinung und blendend schöne Züge bei den Festlichkeiten in Westbury House großes Aufsehen erregten, ist ein einziges Kind, und ihre Mitgift wird, wie man sich allgemein erzählt, mehr als eine Million betragen, abgesehen von dem, was ihr noch für später in Aussicht steht. Da es ein öffentliches Geheimnis ist, dass sich der Herzog im Laufe der letzten Jahre genötigt sah, seine Gemälde zu verkaufen, und Lord St. Simon außer dem kleinen Gut Birchmoor keinen eigenen Grundbesitz hat, so liegt es auf der Hand, dass die kalifornische Erbin nicht allein die Gewinnende bei dieser Verbindung ist, durch welche eine einfache Republikanerin auf so bequeme und nicht ungewöhnliche Art zur Angehörigen des höchsten britischen Adels erhoben wird.‹«
»Sonst noch etwas?«, fragte Holmes gähnend.
»Oh freilich; die Hülle und Fülle. Es kommt dann noch eine Notiz in der ›Morning Post‹ des Inhalts, dass die Hochzeit in aller Stille und zwar in der St. George’s Church stattfinden, dass nur ein halbes Dutzend der nächsten Bekannten Einladungen erhalten und dass die Gesellschaft sich danach wieder zu dem von Mr Aloysius Doran gemieteten Haus in Lancastergate begeben werde. Zwei Tage darauf – also vorigen Mittwoch – kommt dann eine kurze Bemerkung, dass die Hochzeit stattgefunden habe und das junge Paar die Flitterwochen auf Lord Backwaters Besitzung bei Petersfield zu verbringen gedenke. Dies ist alles, was die Zeitungen vor dem Verschwinden der jungen Frau über die Sache gebracht haben.«
»Vor was?«, fragte Holmes, hoch aufhorchend.
»Vor dem Verschwinden der jungen Frau.«
»Wann verschwand sie denn?«
»Beim Hochzeitsmahl.«
»Wirklich? Nun, die Sache lässt sich ja weit interessanter an als es den Anschein hatte; das ist ja hochdramatisch.«
»Ja. Ich war ganz überrascht; ein Fall wie dieser kommt nicht gerade alle Tage vor.«
»Vor der Trauung verschwinden sie oft und viel, gelegentlich kommt es auch einmal während der Flitterwochen vor; aber einen Fall, wo es nach der Trauung mit dem Verschwinden so große Eile hatte, habe ich wirklich noch nicht erlebt. Bitte lassen Sie mich den genauen Bericht hören.«
»Ich will Ihnen nur gleich im Voraus sagen, dass er sehr unvollständig ist.«
»Nun, dem können wir ja vielleicht abhelfen.«
»Die Nachricht steht in einem der gestrigen Morgenblätter. Ich will Ihnen den Artikel vorlesen; er trägt die Überschrift ›Merkwürdiger Vorfall bei einer vornehmen Hochzeit‹ und lautet:
›Die Familie Lord Robert St. Simons ist durch die rätselhaften und bedauerlichen Vorfälle, die sich bei dessen Hochzeit zugetragen haben, in die größte Bestürzung versetzt worden. Die kirchliche Feier fand, wie gestern bereits kurz mitgeteilt wurde, am gestrigen Vormittag statt; allein es war erst jetzt möglich, den sonderbaren Gerüchten, die sich so hartnäckig an das Ereignis knüpften, auf den Grund zu kommen. Die Angelegenheit, welche die Näherstehenden vergeblich zu vertuschen suchten, hat die öffentliche Aufmerksamkeit in solchem Grad erregt, dass es keinen vernünftigen Zweck mehr haben könnte, Dinge totschweigen zu wollen, die in jedermanns Munde sind.
Die Feier in der St. George’s Church hielt sich im engsten Kreis. Es waren nur zugegen der Vater der Braut, Mr Aloysius Doran, die Herzogin von Balmoral, Lord Backwater, Lord Eustachius und Lady Clara St. Simon (die jüngeren Geschwister des Bräutigams) sowie Lady Alicia Whittington. Die ganze Gesellschaft begab sich darauf in Mr Aloysius Dorans Haus in Lancastergate, wo das Festmahl bereitstand. Eine Störung verursachte, wie es scheint, dabei eine weibliche Person, deren Name sich nicht hat feststellen lassen; sie versuchte unter dem Vorgeben, dass sie Ansprüche an Lord St. Simon habe, hinter der Gesellschaft gewaltsam in das Hans einzudringen und konnte nur nach einem längeren peinlichen Auftritt durch zwei Diener fortgebracht werden. Die Braut, welche das Haus glücklicherweise vor diesem unliebsamen Zwischenfall betreten hatte, saß mit der übrigen Gesellschaft zu Tisch, als sie plötzlich über Übelbefinden klagte und sich auf ihr Zimmer zurückzog. Als ihre längere Abwesenheit aufzufallen begann, ging der Vater ihr nach, erfuhr jedoch von dem Kammermädchen, seine Tochter sei nur einen Augenblick auf ihr Zimmer gekommen, habe einen Mantel umgeworfen, den Hut aufgesetzt und darauf eilends das Haus verlassen. Ein Lakai sagte aus, er habe allerdings eine Dame in dem eben beschriebenen Anzug das Haus verlassen sehen, ohne jedoch an die Möglichkeit zu denken, dass es seine Herrin sein könne, da er geglaubt habe, sie befinde sich bei der Gesellschaft. Sobald festgestellt war, dass die Braut wirklich verschwunden sei, setzten sich Mr Aloysius Doran und der Bräutigam augenblicklich mit der Polizei in Verbindung, und es sind die eifrigsten Nachforschungen im Gang, welche vermutlich bald Licht in diese höchst merkwürdige Geschichte bringen werden. Bis gestern Abend in später Stunde war übrigens von dem Verbleib der Vermissten noch nichts bekannt geworden. Man spricht davon, dass es bei der Sache nicht mit rechten Dingen zugehe; auch soll die Polizei die Festnahme der Frauensperson veranlasst haben, welche die erste Störung herbeigeführt hatte, in der Annahme, dass dieselbe aus Eifersucht oder irgendeinem anderen Beweggrund dem merkwürdigen Verschwinden der Braut beteiligt sein könnte.‹«
»Und ist das alles?«
»Nur eine kleine, aber wichtige Notiz steht noch in einem anderen Morgenblatt.«
»Und was enthält sie?«
»Dass Miss Flora Millar, die Störerin der Hochzeitsfeier, wirklich festgenommen ist. Es scheint, dass dieselbe früher Tänzerin am Allegrotheater war und mit dem Bräutigam einige Jahre lang ein Verhältnis unterhielt. Weitere Einzelheiten sind nicht erwähnt, und wir hätten nun das ganze, auf den Fall bezügliche Material beisammen – soweit es in der Tagespresse besprochen worden ist.«
»Und ein äußerst interessanter Fall scheint es zu sein, um den ich für alles in der Welt nicht kommen möchte. Aber da klingelt es, Watson; und da die Uhr einige Minuten nach vier zeigt, so dürfen wir sicher sein, dass das unser vornehmer Besuch ist. Lassen Sie sich nur nicht einfallen, Watson, fortgehen zu wollen, es ist mir viel lieber, ich habe einen Zeugen; wäre es auch nur zur Unterstützung meines Gedächtnisses.«
»Lord Robert St. Simon«, meldete unser kleiner Diener, indem er die Tür weit aufmachte. Ein Herr trat ein mit feinen, angenehmen Zügen, vorspringender Nase und blasser Farbe: Er hatte einen vielleicht etwas hochmütigen Ausdruck um den Mund und den festen, offenen Blick eines Mannes, dem das angenehme Los zuteilgeworden ist, stets befehlen zu dürfen und jederzeit Gehorsam zu finden. Sein Wesen war lebhaft, und doch machte seine ganze Erscheinung keinen jugendlichen Eindruck mehr, denn er hielt sich ein klein wenig vorgeneigt und sank beim Gehen etwas in die Knie. Als er den hochkrempigen Hut abnahm, zeigte sich auch sein Haar ringsum an den Spitzen ergraut und auf dem Scheitel dünn. Sein Anzug war von einer fast stutzerhaften Eleganz: hoher Kragen, schwarzer Gehrock, weiße Weste, gelbe Handschuhe, Lackstiefel und helle Gamaschen. Er trat mit gemessenem Schritt ein, drehte dabei den Kopf von einer Seite zur anderen und ließ den goldenen Nasenklemmer um seine rechte Hand tanzen.
»Guten Tag, Lord St. Simon«, sagte Holmes, indem er aufstand und sich verbeugte; »bitte nehmen Sie Platz im Sessel. Dies ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson. Setzen Sie sich etwas näher zum Feuer, dann wollen wir die Angelegenheit besprechen.«
»Eine höchst peinliche Sache für mich, wie Sie sich leicht vorstellen können, Mr Holmes. Der Schlag hat mich bis ins Mark getroffen. Man sagt mir, dass Sie schon mehr heikle Fälle dieser Art unter den Händen gehabt haben, jedoch wohl kaum aus denselben Kreisen.«
»Nein, aus weit vornehmeren.«
»Wie sagten Sie, bitte?«
»Mein letzter Klient dieser Art war ein König.«
»Oh wirklich! Davon hatte ich keine Ahnung. Und welcher König war das?«
»Der König von Schweden und Norwegen.«
»Was? War ihm auch seine Frau abhanden gekommen?«
»Sie werden begreifen«, erwiderte Holmes in sanftem Ton, »dass ich die Verschwiegenheit, die ich Ihnen in Ihren Angelegenheiten zusichere, in gleicher Weise auch meinen übrigen Klienten gegenüber beachten muss.«
»Natürlich! Ganz recht! Ganz recht! Bitte sehr um Vergebung. Was meinen eigenen Fall betrifft, so bin ich bereit, Ihnen jeden Aufschluss zu geben, der Ihnen förderlich sein kann.«
»Danke. Was in den Tagesblättern darüber steht, weiß ich bereits alles, aber sonst nichts. Ich setze voraus, dass ich deren Inhalt als richtig annehmen darf – so zum Beispiel auch den Artikel, der sich auf das Verschwinden der Braut bezieht.«
Lord St. Simon überflog denselben. »Allerdings; was darin steht, ist richtig.«
»Doch bedarf er noch der Vervollständigung, bevor man sich eine Ansicht in der Sache zu bilden vermag. Ich glaube, ich könnte mir das nötige Material am besten verschaffen, wenn ich Ihnen direkt Fragen stellte.«
»Bitte, tun Sie das nur.«
»Wann trafen Sie zum ersten Mal mit Miss Doran zusammen?«
»In San Francisco, vor einem Jahr.«
»Sie befanden sich damals auf einer Reise in den Vereinigten Staaten? Verlobten Sie sich damals schon?«
»Nein.«
»Aber Sie standen auf freundschaftlichem Fuß mit ihr?«
»Ich fand Vergnügen an ihrer Gesellschaft, und sie konnte auch wohl merken, dass dies der Fall war.«
»Ihr Vater ist sehr reich?«
»Er gilt als der reichste Mann an der ganzen Westküste.«
»Und womit verdiente er sein Geld?«
»Mit Bergbau. Vor wenigen Jahren war er noch ohne Vermögen. Dann stieß er auf Gold und machte dabei so glänzende Geschäfte, dass er mit Riesenschritten vorwärtskam.«
»Nun, und was ist Ihr Eindruck von dem Charakter der jungen Dame – Ihrer Gemahlin?«
Der Edelmann ließ seinen Klemmer noch etwas rascher tanzen und blickte starr in das Kaminfeuer. »Sehen Sie, Mr Holmes«, begann er, »meine Gemahlin war schon zwanzig Jahre alt, ehe ihr Vater ein reicher Mann wurde. Bis dahin war sie in einem Goldgräberdorf frei umhergelaufen und durch Wälder und Berge geschweift, sodass ihre Erziehung mehr auf Rechnung der Natur als des Schulmeisters zu setzen ist. Sie ist, was man einen Wildfang nennt, eine starke, ungestüme, freie, durch keinerlei alte Überlieferung beengte Natur. Sie ist rasch fertig mit ihrem Urteil und kennt keine Furcht, wenn es gilt, ihre Entschlüsse auszuführen. Auf der anderen Seite würde ich ihr nicht den Namen gegeben haben, den ich die Ehre habe zu tragen«, hier ließ er ein kurzes vornehmes Hüsteln hören, »hätte ich sie nicht für ein durchaus edel geartetes Wesen gehalten. Ich glaube, dass sie heroischer Aufopferung fähig ist und dass jede Spur von Unehrenhaftigkeit ihr fern liegt.«
»Besitzen Sie ihre Fotografie?«
»Dies hier habe ich bei mir.« Damit öffnete er ein Etui und ließ uns ein äußerst einnehmendes, weibliches Bildnis sehen. Es war keine Fotografie, sondern eine Miniaturmalerei auf Elfenbein, in welcher der Künstler das glänzend schwarze Haar, die großen dunklen Augen, den ausgesucht schönen Mund zu voller Wirkung zu bringen gewusst hatte. Holmes betrachtete das Porträt lange und aufmerksam, dann schloss er das Etui wieder und gab es dem Lord zurück.
»Die junge Dame kam hierauf nach London, und Sie knüpften hier die Bekanntschaft wieder an?«
»Jawohl. Ihr Vater brachte sie zur diesjährigen Saison herüber. Ich traf mehrmals mit ihr zusammen, bis ich mich mit ihr verlobte und kürzlich verheiratete.«
»Sie hat, wenn ich recht unterrichtet bin, eine beträchtliche Mitgift erhalten?«
»Eine ganz hübsche Mitgift. Nicht größer als es in meiner Familie üblich ist.«
»Und diese Mitgift verbleibt nun natürlich Ihnen, nachdem die eheliche Verbindung zur Tatsache geworden ist?«
»Danach habe ich mich wirklich noch nicht erkundigt.«
»Das lässt sich denken. Waren Sie mit Ihrer Braut am Tag vor der Hochzeit zusammen?«
»Jawohl.«
»War sie da guter Laune?«
»In so froher Stimmung als jemals. Sie machte fortwährend Pläne für unsere Zukunft.«
»Wirklich? Das ist höchst merkwürdig. Und am Hochzeitsmorgen?«
»War sie so heiter als nur möglich. Wenigstens bis nach der Trauung.«
»Und haben Sie nach der letzteren eine Veränderung an ihr bemerkt?«
»Nun ja, um die Wahrheit zu gestehen, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal, dass sie auch etwas heftig werden kann. Das Vorkommnis war übrigens zu unbedeutend, um ein Wort darüber zu verlieren und hat keinerlei Bedeutung für den vorliegenden Fall.«
»Bitte teilen Sie es uns trotz alledem mit.«
»Ach, es hört sich wirklich kindisch an. Als wir vom Altar zurückgingen, ließ sie ihr Bouquet fallen. Sie schritt gerade an der vordersten Sitzreihe vorüber, und so fiel es in einen der Kirchenstühle hinein. Dies verursachte einen Aufenthalt von einigen Augenblicken, allein der dort sitzende Herr händigte ihr sogleich den Strauß wieder ein, der auch durch den Fall nicht gelitten zu haben schien. Trotzdem gab sie mir auf meine Bemerkungen über den Vorfall nur abgerissene Antworten, und während unserer Fahrt nach Hause zeigte sie eine unbegreifliche Erregung über dieses unbedeutende Vorkommnis.«
»Wirklich! Wie Sie sagen, befand sich ein Herr in dem Kirchenstuhl. Es waren also Leute aus dem Publikum zugegen?«
»Oh ja. Dies lässt sich unmöglich vermeiden, wenn die Kirche offen ist.«
»Jener Herr gehörte nicht zu den Bekannten Ihrer Gemahlin?«
»Nein, nein. Ich nenne ihn nur aus Höflichkeit einen Herrn; es war ein ganz gewöhnlich aussehender Mensch, den ich kaum bemerkt hatte. Aber ich glaube, wir schweifen ziemlich weit von unserem Ziel ab.«
»Ihre Gemahlin war also bei der Rückkehr von der Trauung in einer weniger heiteren Stimmung als auf dem Hinweg. Was tat sie nach der Ankunft im väterlichen Haus?«
»Da sah ich sie im Gespräch mit Alice, ihrem amerikanischen Kammermädchen, das sie aus Kalifornien mitgebracht hat.«
»Wohl eine vertraute Dienerin?«
»Ja, nur etwas zu sehr. Mir scheint, sie gestattet sich ihrer Herrin gegenüber große Freiheiten. Doch sieht man derartige Verhältnisse in Amerika natürlich etwas anders an.«
»Wie lange dauerte dieses Gespräch?«
»Nur ein paar Minuten. Ich dachte gerade an etwas anderes.«
»Sie haben nicht gehört, wovon sie sprachen?«
»Meine Frau sagte etwas von ›in fremdes Gehege kommen‹. Ich habe keine Ahnung, was sie damit meinte.«
»Und was tat Ihre Gemahlin nach dem Gespräch?«
»Sie begab sich in das Speisezimmer.«
»An Ihrem Arm?«
»Nein, allein. In solchen Kleinigkeiten war sie sehr selbstständig. Wir mochten etwa zehn Minuten bei Tisch gesessen haben, als sie eilig aufstand, einige Worte der Entschuldigung murmelte und den Saal verließ, um nicht wiederzukehren.«
»Wenn ich recht verstanden habe, so ist sie nach Aussage des Kammermädchens auf ihr Zimmer gegangen, hat einen langen Mantel über ihr Brautkleid geworfen, einen Hut aufgesetzt und das Haus verlassen.«
»Ganz richtig. Darauf wurde sie noch im Hyde Park zusammen mit der Flora Millar gesehen, die an jenem Vormittag bereits in Mr Dorans Haus eine Störung verursacht hatte und inzwischen verhaftet worden ist.«
»Ganz richtig. Ich darf Sie wohl um etwas genauere Auskunft über diese junge Dame und Ihre Beziehungen zu derselben bitten.«
Lord St. Simon zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wir haben ein paar Jahre lang auf freundschaftlichem Fuß miteinander gestanden – ich darf wohl sagen: auf sehr freundschaftlichem Fuß. Sie war meist am ›Allegro‹ beschäftigt. Ich habe nicht unnobel an ihr gehandelt, und sie hatte keinen triftigen Grund zur Klage über mich, aber Sie wissen ja, wie die Weiber sind, Mr Holmes. Flora war ein liebes kleines Ding, allein äußerst hitzköpfig und von einer blinden Anhänglichkeit an mich. Sie schrieb mir schreckliche Briefe, als sie erfuhr, dass ich im Begriff stehe, mich zu verheiraten; und, um die Wahrheit zu sagen, der Grund, warum ich die Hochzeit so in der Stille feiern ließ, war, dass ich fürchtete, es möchte einen Skandal in der Kirche geben. Gerade wie wir von dort zurückkehrten, erschien sie vor Mr Dorans Haus und versuchte, sich unter höchst unziemlichen, ja sogar drohenden Äußerungen gegen meine Gattin daselbst einzudrängen; allein ich hatte etwas dergleichen geahnt und deshalb zwei Polizisten in bürgerlicher Kleidung aufgestellt, die sie wieder fortbrachten. Sie beruhigte sich schließlich, als sie sah, dass sie mit dem lärmenden Auftritt doch nichts ausrichte.«
»Hat Ihre Gattin das alles mit angehört?«
»Nein, Gott sei Dank, das nicht.«
»Und mit eben dieser Person hat man sie nachher gehen sehen?«
»Jawohl. Dies ist auch der Punkt, den Mr Lestrade als so schwerwiegend ansieht. Man nimmt an, Flora habe meine Frau in irgendeine schreckliche Falle gelockt.«
»Nun, das wäre freilich möglich.«
»Sie sind also auch dieser Ansicht?«
»Für wahrscheinlich halte ich es gerade nicht; aber wie denken Sie selbst darüber?«
»Ich glaube, Flora könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Die Eifersucht bewirkt aber doch oft ganz merkwürdige Veränderungen im Charakter des Menschen.«
»Sollte Ihnen das Glück beschieden sein, die Lösung dieses Rätsels zu finden ...«, fuhr unser Besuch fort, indem er sich erhob.
»Ich habe sie gefunden«, unterbrach ihn Holmes.
»Wie? Höre ich recht?«
»Ich habe sie gefunden, sage ich.«
»Nun, wo ist denn meine Frau?«
»Auch auf diesen weiteren Punkt werde ich die Antwort nicht lange schuldig bleiben.«
Lord St. Simon schüttelte das Haupt. »Ich glaube doch fast, dazu gehört mehr Weisheit als Sie oder ich im Kopf haben«, versetzte er. Dann zog er sich mit einer vornehmen, altmodischen Verbeugung zurück.
»Es ist wirklich recht gnädig von Seiner Lordschaft, dass er meinem Kopf die Ehre erweist, ihn mit dem seinigen auf eine Stufe zu stellen«, meinte Sherlock Holmes lachend. »Auf dieses lange Kreuzverhör hin habe ich aber eine kleine Erfrischung und eine Zigarre verdient. Ich war mit meinen Schlussfolgerungen übrigens bereits im Reinen, ehe unser Besuch erschien.«
»Mein lieber Holmes!«
»Unter meinen Aufzeichnungen befinden sich mehrere ähnliche Fälle, aber, wie schon erwähnt, ist es noch bei keinem so flink gegangen. Das Verhör machte meine Vermutung nur zur Gewissheit. Ein Indizienbeweis ist gelegentlich außerordentlich überzeugend, namentlich wenn auch das übrige so genau dazu passt.«
»Aber ich habe doch alles mit angehört, so gut wie Sie.«
»Allerdings, aber ohne die Kenntnis der früheren Fälle, die mir so sehr zustatten kommt. Da war ein Fall vor einigen Jahren, wo – doch da kommt ja Lestrade! Hallo, Lestrade, guten Abend! Dort drüben steht Ihr Stammglas, und hier ist die Zigarrenkiste.«
Der kleine Herr erschien in einer hellen Jacke und hellem Halstuch, was ihm ein ganz seemännisches Aussehen gab, in der Hand trug er eine schwarze Reisetasche. Nach kurzem Gruß ließ er sich nieder und steckte sich die angebotene Zigarre an.
»Was ist denn los?«, fragte Holmes mit einem Zwinkern seiner Augen. »Sie sehen ja recht missmutig aus.«
»Bin ich auch. Diese Teufelsgeschichte mit der Hochzeit Lord St. Simons! Ich weiß nicht, an welchem Zipfel ich das Geschäft anfassen soll!«
»Wirklich! Das ist mir überraschend.«
»Hat man je von einer so vertrackten Geschichte gehört? Sobald ich meine, ich habe einen Faden gefunden, schlüpft er mir wieder durch die Finger; den ganzen Tag habe ich mich daran abgearbeitet.«
»Und gewaltig nass sind Sie scheint’s dabei geworden«, versetzte Holmes, seinen Rockärmel befühlend.
»Ja. Ich habe den Kanal ausfischen lassen.«
»Wozu denn das, um Gottes willen?«
»Um den Leichnam der Lady St. Simon zu suchen.«
Sherlock Holmes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lachte aus vollem Hals.
»Haben Sie auch das Bassin des Springbrunnens auf dem Trafalgar Square ausfischen lassen?«, fragte er.
»Wieso? Warum das?«
»Weil Sie gerade so viel Aussicht hatten, dort die Leiche zu finden wie im Kanal.«
Lestrade warf einen zornigen Blick auf meinen Freund. »Es scheint, Sie sind schon vollständig im Klaren über alles!«, sagte er gereizt.
»Nun, ich habe zwar erst eben den Verlauf der Sache vernommen, aber meine Ansicht habe ich mir gebildet.«
»So! Dann sind Sie wohl der Meinung, der Kanal habe gar nichts mit der Sache zu tun?«
»Ich halte es für höchst unwahrscheinlich.«
»Wollen Sie dann vielleicht die Güte haben, mir zu erklären, wie diese Sache hier hineingekommen sind?« Damit öffnete er seine Tasche, aus welcher ein Brautkleid aus verblasster Seide, ein Paar weiße Atlasschuhe, ein Brautkranz und Schleier herausfielen, alles vom Wasser durchweicht und verdorben. »So«, sagte er, und legte noch einen ganz neuen Ehering oben auf den Haufen, »nun knacken Sie mir mal diese Nuss, Mr Holmes.«
»Also aus dem Kanal sind die Sachen herausgeholt worden?«, versetzte mein Freund und blies dabei blaue Ringe in die Luft.
»Nein, ein Parkhüter sah sie in der Nähe des Ufers schwimmen; man hat sie als der Lady gehörig erkannt; nun dachte ich, sind die Kleider da, so wird die Leiche auch nicht weit davon sein.«
»Dieser wunderbaren Logik zufolge müsste man also die Leiche eines Verstorbenen stets in der Nähe seines Kleiderschrankes finden. Und bitte, sagen Sie mir doch, was hofften Sie denn dadurch zu erreichen?«
»Einen Beweis für die Beteiligung der Flora Millar an dem Verschwinden der Vermissten.«
»Tut mir leid, aber das wird schwer halten.«
»Wirklich, auch jetzt noch?«, rief Lestrade in gereiztem Ton. »Und mir tut es leid, Holmes, Ihnen sagen zu müssen, dass Sie mit Ihren Schlüssen und Vermutungen nicht sonderlich glücklich sind. Sie haben zwei Böcke in den letzten zwei Minuten geschossen. Durch dieses Kleid ist Flora Millar überführt.«
»Und wieso das?«
»In dem Kleid ist eine Tasche. In der Tasche befindet sich ein Visitenkartentäschchen. In diesem Täschchen steckt ein Zettel. Und hier ist der Zettel selbst.« Damit legte er diesen vor Holmes auf den Tisch hin. »Hören Sie nur:
›Wenn alles besorgt ist, werde ich erscheinen. Komme unverzüglich. F. H. M.‹
Ich war von Anfang an der Überzeugung, dass Lady St. Simon durch Flora Millar weggelockt worden ist, dass diese, ohne Zweifel im Verein mit anderen, an ihrem Verschwinden schuld ist. Dieser Zettel, mit Flora Millars Anfangsbuchstaben unterzeichnet, wurde der Lady ohne Zweifel unter der Tür in aller Stille in die Hände gespielt, um sie vom Haus wegzulocken.«
»Vortrefflich, Lestrade«, versetzte Holmes lachend. »Sie sind in der Tat höchst scharfsinnig. Lassen Sie mich mal sehen.« Damit griff er gleichgültig nach dem Zettel, allein plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit rege, und ein Ausruf freudiger Überraschung entfuhr ihm. »Das ist wirklich von Bedeutung«, bemerkte er.
»Ha, sind Sie jetzt auch der Meinung?«
»Versteht sich. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.«
Lestrade erhob sich in seiner Siegesfreude und beugte sich gleichfalls über den Zettel. »Aber«, rief er, »Sie schauen ja auf die verkehrte Seite!«
»Durchaus nicht, das ist die richtige Seite.«
»Die richtige Seite? Sie sind nicht bei Trost. Hier steht ja die Notiz mit Bleistift geschrieben.«
»Und dort steht etwas, das einem Stück von einer Hotelrechnung ähnlich sieht und mich höchst interessiert: ›4. Okt. Zimmer 8 Schill., Frühst. 2 Schill. 6 Pence, Gabelfrühstück 2 Schill. 6 Pence, ein Glas Sherry 6 Pence ...‹«
»Dahinter steckt nichts. Das habe ich längst gesehen«, erwiderte Lestrade.
»Es hat allerdings ganz den Anschein. Und trotzdem ist es von höchster Bedeutung. Was die Bleistiftnotiz betrifft, so ist diese, oder wenigstens die Anfangsbuchstaben, gleichfalls von Wichtigkeit. Ich gratuliere daher nochmals.«
»Wir haben jetzt genug Zeit vertrödelt«, versetzte Lestrade, indem er sich erhob. »Ich halte mehr davon, eine Aufgabe tüchtig anzupacken als beim Kaminfeuer geistreiche Hypothesen darüber auszuklügeln. Adieu, Mr Holmes, wir werden ja sehen, wer der Sache zuerst auf den Grund kommt!« Er packte die Kleidungsstücke wieder in die Tasche und schritt der Tür zu.
»Einen Wink will ich Ihnen doch noch geben, Lestrade«, rief Holmes gleichmütig seinem abgehenden Kollegen nach, »ich will Ihnen die richtige Lösung des Rätsels verraten. Lady St. Simon gehört ins Fabelreich. Eine solche gibt es nicht und hat es nie gegeben.«
Lestrade warf einen betrübten Blick auf meinen Freund. Dann wandte er sich zu mir, deutete auf seine Stirn und verschwand eiligst unter feierlichem Kopfschütteln.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, erhob sich Holmes und zog seinen Überzieher an. »Es ist etwas Wahres an dem, was der Mensch sagt! Es taugt nichts, hier müßig zu sitzen«, äußerte er, »deshalb muss ich Sie wohl jetzt mit Ihren Zeitungen allein lassen, Watson.«
Es war fünf Uhr vorüber, als Holmes mich verließ; doch hatte ich nicht lange Zeit, mich einsam zu fühlen; es dauerte keine Stunde, so brachten zwei Leute aus einem Delikatessengeschäft eine große flache Kiste herein, der sie zu meinem größten Erstaunen im Handumdrehen ein ganz üppiges kaltes Souper entnahmen, das bald auf unserem bescheidenen Junggesellentisch prangte. Da standen Rebhühner, ein Fasan, eine Gänseleberpastete nebst einer ganzen Batterie alter bestaubter Flaschen. Kaum waren der Wein und die leckeren Gerichte aufgestellt, verschwanden die Überbringer wie die Geister in ›Tausend und eine Nacht‹, ohne sich auf eine weitere Erklärung einzulassen, als dass das alles hierher bestellt und schon bezahlt sei.
Unmittelbar vor neun Uhr trat Holmes lebhaften Schrittes ins Zimmer. Seine Züge trugen einen ernsten Ausdruck, doch ersah ich aus einem gewissen Glanz in seinen Augen, dass der Erfolg seinen Schlüssen recht gegeben habe.
»Also das Abendessen ist bereit«, sagte er und rieb sich die Hände.
»Es scheint, Sie erwarten Gesellschaft; es sind ja fünf Gedecke.«
»Wir müssen uns heute auf einige ungebetene Gäste gefasst machen«, meinte er. »Mich wundert nur, dass Lord St. Simon noch nicht da ist. Doch eben höre ich seinen Tritt auf der Treppe, wie mir scheint.«
Es war wirklich unser Besuch vom Vormittag, der jetzt hereinstürmte und mit verstörtem Ausdruck in den aristokratischen Zügen seinen Zwicker noch eifriger um die Finger schwang als sonst.
»Mein Bote hat Sie also getroffen?«, fragte Holmes.
»Jawohl. Und ich muss gestehen, was er mir ausrichtete, war mir über die Maßen verblüffend. Haben Sie einen sicheren Beweis für Ihre Behauptung?«
»Den besten, der sich denken lässt.«
Lord St. Simon sank auf einen Stuhl und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Was wird der Herzog sagen«, murmelte er vor sich hin, »wenn er hört, welche Demütigung einem Mitglied der Familie widerfahren ist.«
»Es ist lediglich eine unglückliche Verkettung von Umständen. Dass es sich dabei um eine Demütigung handelt, kann ich überhaupt nicht zugeben.«
»Sie sehen eben diese Dinge von einem anderen Standpunkt an.«
»Ich kann mich nicht überzeugen, dass irgendjemand eine Schuld trifft. Die junge Frau hätte im Grunde kaum anders handeln können. Ihr schroffes Vorgehen dabei ist freilich zu bedauern; aber sie stand ohne Mutter da und hatte somit keinen Menschen, der ihr in dieser kritischen Lage raten konnte.«
»Es war eine entwürdigende Behandlung, eine öffentliche Beschimpfung«, rief Lord St. Simon und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
»Sie müssen dem armen Mädchen, das sich in einer so überaus schwierigen Lage befand, etwas zugute halten.«
»Ich bin nicht in der Stimmung, irgendjemandem etwas zugute zu halten. Ich bin aufs Äußerste empört. Man hat mir schmählich mitgespielt.«
»Ich glaube, es hat geklingelt«, unterbrach ihn Holmes. »Jawohl, es lassen sich unten Schritte vernehmen. Da ich Sie nicht überreden kann, die Sache in milderem Licht zu sehen, Lord St. Simon, habe ich hier einen Anwalt bestellt, der es vielleicht besser zuwege bringt.« Damit öffnete er die Tür und ließ eine Dame und einen Herrn eintreten. »Lord St. Simon«, wandte er sich an diesen, »gestatten Sie mir, Ihnen Mr und Mrs Hay Moulton vorzustellen. Die Dame ist Ihnen wohl bereits bekannt.«
Beim Erscheinen der neuen Ankömmlinge war der Lord sofort von seinem Sitz aufgesprungen; mit zu Boden gesenktem Blick, die rechte Hand vorn in den Rock gesteckt, stand er da – ein Bild beleidigter Würde. Die junge Frau tat einen raschen Schritt auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen, aber er schaute nicht empor. Und wenn er fest bleiben wollte, war dies wohl auch das Beste, denn dem bittenden Ausdruck ihres Gesichts war nicht leicht zu widerstehen.
»Du zürnst mir, Robert?«, sagte sie. »Freilich, du hast wohl guten Grund dazu.«
»Nur keine Entschuldigung«, erwiderte der Angeredete bitter.
»Ich weiß wohl, ich habe wirklich unrecht an dir gehandelt; ich hätte dir’s sagen sollen, ehe ich davonging. Aber ich war ganz aus dem Häuschen; sobald ich meinen Frank wiedergesehen hatte, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich tat und sagte. Ich wundere mich nur, dass ich nicht gleich vor dem Altar ohnmächtig wurde und hinfiel.«
»Vielleicht wäre es Ihnen erwünscht, Mrs Moulton, wenn ich mit meinem Freund während dieser Erörterungen das Zimmer verließe?«, warf hier Holmes ein.
»Wenn ich meine Meinung äußern darf«, ließ sich jetzt der fremde Herr vernehmen, »so haben wir die Sache bisher schon mit allzu viel Heimlichkeit betrieben. Meinethalben könnte die ganze Welt erfahren, wie alles zugegangen ist.« Es war ein kleiner, geschmeidiger, sonnenverbrannter Mann, glatt rasiert, mit klugem Gesicht und lebhaftem Wesen.
»Dann will ich unsere Geschichte frischweg erzählen«, sagte die junge Frau. »Frank und ich trafen uns im Jahr 1884 in McQuires Camp am Felsengebirge, wo Papa eine Grube besaß. Wir verlobten uns miteinander; allein eines Tages stieß Papa auf eine reiche Ader in der Grube und gewann mächtig viel Gold, während der arme Frank aus seiner Grube immer weniger herausschlug und zu nichts kam. Je reicher Papa wurde, umso ärmer wurde Frank, zuletzt wollte Papa nichts mehr von unserer Verlobung hören und tat mich fort nach Frisco. Aber Frank wollte nicht von mir lassen; er folgte mir und traf ohne Papas Wissen mit mir zusammen. Hätten wir es ihm gesagt, so wäre er nur in Wut geraten, deshalb machten wir die Sache für uns allein ab. Frank erklärte, er wolle fortgehen und auch sein Glück machen; erst wenn er so viel habe wie Papa, werde er wiederkommen und seine Rechte an mich geltend machen – nicht früher. So versprach ich ihm denn, auf ihn zu warten in alle Ewigkeit und gab ihm mein Wort, keinen anderen zu heiraten, solange er am Leben sei. ›Warum sollten wir aber nicht frischweg heiraten?‹, meinte er, ›dann bist du mir sicher; meine Rechte als Ehemann mache ich erst geltend, wenn ich zurückkomme.‹ Wir kamen bald darüber ins Reine, und er hatte alles so hübsch eingefädelt, ein Geistlicher wartete schon, dass wir’s gleich auf der Stelle abmachten; Frank ging dann fort, sein Glück zu suchen, und ich kehrte zu Papa zurück.
»Das nächste, was ich von Frank hörte, war, dass er in Montana sei; sodann begab er sich nach Arizona, um sich dort umzusehen; und hierauf bekam ich Nachricht von ihm aus Neu-Mexiko. Eines Tages stand eine lange Geschichte in den Zeitungen, wie die Apachen ein Goldgräberdorf überfallen hätten, und dabei war mein Frank unter den Erschlagenen aufgeführt. Ich fiel um wie tot und war monatelang schwer krank; Papa meinte, ich habe eine zehrende Krankheit und brachte mich in Frisco von einem Arzt zum anderen. Ein Jahr oder noch länger hörte ich kein Wort mehr von Frank, sodass ich fest glaubte, er sei wirklich tot. Darauf kam Lord St. Simon nach Frisco, später reisten wir nach London, und die Heirat kam zustande. Papa war sehr froh darüber; aber ich fühlte stets, dass kein anderer Mann auf dieser Welt je den Platz in meinem Herzen einnehmen würde, der meinem armen Frank gehörte.
Trotzdem würde ich Lord St. Simon eine pflichtgetreue Gattin gewesen sein, falls ich seine Frau geworden wäre. Unsere Gefühle haben wir nicht in der Gewalt, wohl aber unsere Handlungen. Als ich mit ihm vor den Altar trat, war es mein fester Vorsatz, ihn glücklich zu machen. Aber Sie können sich denken, wie mir zumute war, als ich gerade beim Hintreten vor den Altar zufällig hinter mich schaute und Franks Augen aus der ersten Sitzreihe unmittelbar auf mich gerichtet sah. Ich meinte zuerst, es sei sein Geist, aber als ich wieder hinschaute, saß er noch immer da und blickte mich mit einem so eigentümlichen Ausdruck an, als wollte er fragen, ob mir seine Gegenwart erwünscht sei oder nicht. Ich wundere mich nur, dass ich nicht in Ohnmacht fiel. Alles drehte sich mit mir im Kreis, und die Worte des Geistlichen klangen mir im Ohr wie Bienensummen. Was sollte ich tun? Sollte ich die Trauung unterbrechen und einen Auftritt in der Kirche veranlassen? Ich blickte noch einmal nach ihm hin, und er schien meine Gedanken zu erraten, denn er legte die Finger an die Lippen, zum Zeichen, dass ich nichts sagen solle. Dann sah ich ihn etwas auf ein Stückchen Papier kritzeln – offenbar eine Notiz für mich. Beim Vorübergehen an seinem Platz ließ ich mein Bouquet vor ihm hinfallen, und als er es mir zurückgab, drückte er mir das Zettelchen in die Hand. Es enthielt nur mit ein paar Worten die Aufforderung, zu ihm zu kommen, sobald er mir ein Zeichen geben würde. Ich war natürlich keinen Augenblick mehr im Unklaren darüber, dass meine Pflichten in erster Linie jetzt ihm gehörten und beschloss deshalb, einfach seiner Leitung zu folgen.
Zu Hause sprach ich mit meiner Zofe, die ihn schon in Kalifornien gekannt hatte und ihm immer wohlgesinnt gewesen war. Ich hieß sie reinen Mund halten, ein paar Sachen einpacken und mir Hut und Mantel zurechtlegen. Ich weiß wohl, ich hätte mich mit Lord St. Simon verständigen sollen, aber das wäre vor seiner Mutter und all den vornehmen Leuten eine furchtbare Aufgabe gewesen. So entschloss ich mich, auf- und davonzugehen und die Erklärung auf später zu verschieben. Ich saß noch keine zehn Minuten bei Tisch, als ich Frank durch das Fenster auf der Straße drüben erblickte. Er nickte mir zu und schlug dann den Weg nach dem Park ein. Ich schlüpfte hinaus, zog meine Sachen an und ging ihm nach. Unterwegs trat eine Frauensperson zu mir heran, um mir irgendetwas über Lord St. Simon mitzuteilen – nach dem wenigen, was ich davon verstand, schien es mir, als habe auch er vor der Hochzeit schon eine kleine Heimlichkeit gehabt – aber ich machte, dass ich von ihr wegkam, und holte Frank bald ein. Darauf fuhren wir zusammen nach Gordon Square, wo er eine Wohnung genommen hatte, und nun war ich nach den langen Jahren des Harrens wirklich mit meinem Gatten vereint.
Frank war bei den Apachen gefangen gewesen, war aber entflohen und nach Frisco gelangt, wo er erfuhr, dass ich ihn als tot aufgegeben hatte und nach England gegangen war; er reiste mir dahin nach und traf mich schließlich gerade am Morgen meiner zweiten Hochzeit.«
»Ich las davon in einer Zeitung«, erklärte der Amerikaner, »der Name der Braut und die Kirche waren darin genannt, aber die Wohnung der Dame nicht angegeben.«
»Wir besprachen uns nun darüber, wie wir uns verhalten sollten, und Frank war für volle Offenheit; aber ich schämte mich so sehr, dass ich nur den einen Wunsch hatte, zu verschwinden und von den Hochzeitsgästen keinen je wiederzusehen. Höchstens wollte ich an Papa eine Zeile schreiben, zum Zeichen, dass ich noch am Leben sei. Es war grässlich für mich, wenn ich mir vorstellte, wie alle die hochadeligen Herren und Damen um die Hochzeitstafel herumsaßen und auf meine Rückkehr warteten. So nahm denn Frank meine Hochzeitskleider, packte sie zusammen, damit man mir nicht auf die Spur käme, und warf das Bündel irgendwo weg, wo kein Mensch es finden könnte. Morgen würden wir höchst wahrscheinlich schon nach Paris abgereist sein, wäre nicht der gute Mr Holmes heute Abend bei uns erschienen. Wie es ihm gelungen ist, uns aufzufinden, geht freilich über meinen Verstand; er setzte uns ganz klar und freundlich auseinander, dass Frank recht hätte und ich unrecht und dass wir beide durch solche Heimlichkeit einen falschen Schein auf uns laden würden. Dann schlug uns Mr Holmes vor, in seiner Wohnung mit Lord St. Simon allein zu einer Besprechung zusammenzutreffen, und wir begaben uns ohne Verzug hierher. Nun hast du alles gehört, Robert; es tut mir sehr leid, wenn ich dir weh getan habe, aber ich hoffe, du denkst nicht allzu schlecht von mir.«
Lord St. Simon hatte seine steife Haltung die ganze Zeit über beibehalten und mit gerunzelter Stirn und mit zusammengekniffenen Lippen der langen Erzählung zugehört.
»Sie werden entschuldigen«, erwiderte er, »aber ich bin nicht gewohnt, meine intimsten persönlichen Verhältnisse öffentlich zu erörtern.«
»Dann willst du mir also nicht vergeben – mir nicht noch einmal die Hand reichen, ehe ich fortgehe?«
»Oh gewiss, wenn es Ihnen Vergnügen macht.« Er streckte die Hand aus und ergriff kalt die ihm dargebotene Rechte der jungen Frau.
»Ich hatte gehofft«, warf Holmes ein, »Sie würden uns bei einem gemütlichen Abendessen Gesellschaft leisten.«
»Damit verlangen Sie denn doch wohl etwas zu viel von mir«, erwiderte Seine Lordschaft. »Es kann ja sein, dass ich genötigt bin, mich bei diesen Enthüllungen zu beruhigen, aber man kann doch kaum von mir erwarten, dass ich noch gute Miene zum bösen Spiel mache. Gestatten Sie mir, Ihnen insgesamt eine recht gute Nacht zu wünschen.« Damit machte er uns allen eine gemeinsame Verbeugung und schritt zur Tür hinaus.
»Nun, dann werden Sie uns doch sicherlich mit Ihrer Gesellschaft beehren«, wandte sich Holmes an Mr Moulton. »Es ist mir jedes Mal eine Freude, wenn ich einen Angehörigen des großen freien Staates treffe, der unter seinem Sternen- und Streifenbanner der ganzen Welt auf der Bahn der Freiheit und des Fortschritts so herrlich voranleuchtet!«
»Das war einmal ein interessanter Fall«, bemerkte Holmes, als unsere Gäste uns verlassen hatten. »Man konnte daran recht deutlich sehen, wie einfach sich oft die Dinge aufklären, die einem auf den ersten Blick ganz rätselhaft vorkommen. Wie klar und natürlich entwickelte sich in der Erzählung der jungen Frau ein Ereignis aus dem anderen, und wie verblüffend kam einem die ganze Angelegenheit vor, wenn man sie zum Beispiel mit den Augen des Mr Lestrade von der Geheimpolizei ansah!«
»So waren Sie selbst gar nicht auf einer falschen Fährte?«
»Von Anbeginn stand mir zweierlei klar vor Augen, einmal, dass die Braut der Hochzeit ganz freudig entgegenging und sodann, dass sie wenige Minuten nach der Rückkehr aus der Kirche anderen Sinnes wurde. Offenbar war demnach im Lauf des Vormittags etwas vorgefallen, das diese Wirkung hervorbrachte. Was konnte es sein? Gesprochen hatte sie außerhalb des Hauses mit niemand, da sie ihrem Bräutigam nicht von der Seite gegangen war. Hatte sie aber jemand gesehen, so musste dies jemand aus Amerika gewesen sein, denn während ihres kurzen Aufenthalts hierzulande hatte keiner so viel Einfluss auf sie gewinnen können, dass sein bloßer Anblick eine völlige Sinnesänderung bei ihr bewirkte. Sie sehen, durch Ausschließung anderweitiger Möglichkeiten sind wir bereits zu der Überzeugung gelangt, dass sie wohl jemand aus Amerika wird gesehen haben. Wer konnte wohl dieser Amerikaner sein, der eine solche Macht über sie besaß? Vielleicht ein Liebhaber, möglicherweise aber auch ein Gatte. Dass sie ihre Jugendjahre in wilden Gegenden und unter eigentümlichen Verhältnissen verlebt hatte, war mir ja bekannt. So weit war ich bereits gelangt, ehe ich das erste Wort aus Lord St. Simons Mund vernahm. Als dieser dann von dem Zuschauer vorn in der ersten Bank und von der Veränderung erzählte, die nachher plötzlich mit der Braut vor sich ging, wie sie ihr Bouquet vor den Fremden hinfallen ließ, zu dem höchst durchsichtigen Zweck, sich dabei von demselben einen Zettel zustecken zu lassen, wie sie sich dann mit ihrer Vertrauten besprach und dabei die sehr bezeichnende Andeutung von ›in fremdes Gehege kommen‹ fallen ließ, was in der Goldgräbersprache so viel bedeutet, als Besitz von etwas ergreifen, worauf einem anderen ältere Ansprüche zustehen – so war die ganze Sachlage völlig klar. Sie musste mit einem Mann auf und davongegangen sein und zwar entweder mit einem Liebhaber oder mit einem Gatten, wobei übrigens die größere Wahrscheinlichkeit für letzteres sprach.«
»Aber wie in aller Welt haben Sie die beiden aufgefunden?«
»Das wäre freilich schwierig gewesen, allein Freund Lestrade hielt Anhaltspunkte hierfür in Händen, von deren Wert er selbst keine Ahnung hatte. Die Anfangsbuchstaben waren natürlich von höchster Wichtigkeit, aber noch viel wertvoller war der Nachweis, dass der Gesuchte im Lauf der letzten Woche sich in einem der ersten Gasthöfe Londons seine Rechnung hatte ausstellen lassen.«
»Was brachte Sie darauf, dass es einer der ersten Gasthöfe sein müsse?«
»Die ausgesucht hohen Preise. Acht Schilling für ein Bett und acht Pence für ein Glas Sherry wiesen auf einen der allerteuersten Gasthöfe hin. Es gibt nicht viele hier, die ihre Preise in so unvernünftigem Maß schrauben. Schon in dem zweiten Gasthof, in der Northumberland Avenue, ersah ich aus dem Fremdenbuch, dass ein Mr Francis H. Moulton aus Amerika erst am Tag vorher ausgezogen war, und bei Durchsicht der auf seinen Namen eingetragenen Posten entdeckte ich wörtlich diejenigen, worüber er Rechnung erhalten hatte. Etwaige für ihn eintreffende Briefe sollten ihm nach 226 Gordon Square nachgesandt werden. So fuhr ich dahin und hatte das Glück, das liebende Paar zu Hause zu treffen. Ich erlaubte mir, ihnen einige väterliche Ratschläge zu erteilen und ihnen klar zu machen, dass sie in jeder Beziehung besser tun würden, weder die Welt noch insbesondere Lord St. Simon über ihr Verhältnis zueinander irgendwie in Zweifel zu lassen. Ich machte ihnen den Vorschlag, hier mit dem Lord zusammenzutreffen, und wie Sie gesehen haben, sind sie darauf eingegangen.«
»Damit haben sie aber nicht viel erreicht«, bemerkte ich. »Sein Verhalten war kein sehr liebenswürdiges.«
»Ach,Watson«, erwiderte Holmes heiter, »Sie wären auch vielleicht nicht gerade besonders liebenswürdig, wenn Sie sich nach all den Mühen und Sorgen des Brautstandes mit einem Schlag um Gattin und Vermögen betrogen sehen müssten. Ich meine, wir haben allen Grund, Lord St. Simon recht milde zu beurteilen und unserem Glücksstern zu danken, dass wir voraussichtlich niemals in eine ähnliche Lage geraten werden. Kommen Sie, setzen Sie sich hierher zum Feuer und reichen Sie mir meine Violine, wir haben ja jetzt nur noch das eine Problem zu lösen, wie wir uns diese finsteren Herbstabende auf möglichst angenehme Weise vertreiben.«