Es war an einem bitterkalten Wintermorgen des Jahres 1897, als jemand meine Bettdecke wegzog und mich munter machte. Es war Holmes. Die Kerze in seiner Hand warf einen hellen Schein auf sein Gesicht, und ich merkte auf den ersten Blick, dass er etwas Wichtiges vorhatte.
»Kommen Sie, Watson, kommen Sie!«, rief er. »Die Jagd geht los. Keine Widerreden! In die Kleider und fort!«
Nach zehn Minuten saßen wir beide bereits in einer Droschke auf dem Weg zur Station Charing Cross. Die Straßen waren noch leer, nur hie und da sahen wir in dem dunklen Londoner Nebel, der von den ersten Strahlen der Morgendämmerung schwach erleuchtet wurde, die verschwommenen, unbestimmten Umrisse eines Arbeiters, der früh an sein Tagewerk ging. Holmes hüllte sich schweigend in seinen schweren Überzieher, und ich tat das Gleiche, denn die Luft war eisig und wir hatten beide noch nichts im Magen. Erst als wir am Bahnhof etwas heißen Tee genossen und in dem Zug nach Kent unsere Plätze eingenommen hatten, waren wir so weit aufgetaut, dass er sprechen und ich zuhören konnte. Er nahm einen Brief aus der Tasche und las ihn mir laut vor:
»›Abbey Grange, Marsham, Kent,
3h 30m früh.
Lieber Mr Holmes – ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sofort kommen wollten, um mir bei einem Fall, der außerordentlich merkwürdig zu werden verspricht, Ihre Hilfe zuteilwerden zu lassen. Es ist etwas nach Ihrem Geschmack. Außer der Befreiung der Dame will ich dafür sorgen, dass alles genauso bleibt, wie ich es angetroffen habe, aber ich bitte Sie, keinen Augenblick Zeit zu verlieren, weil es unmöglich ist, Mr Edward lange liegen zu lassen.
Ihr ergebener Stanley Hopkins.‹
Hopkins hat mich in sieben Fällen beigezogen, und jedes Mal war seine Aufforderung gerechtfertigt«, sagte Holmes. »Ich glaube, Sie haben jeden dieser Fälle in Ihre Sammlung aufgenommen, und ich muss gestehen, Watson, dass Sie eine glückliche Wahl zu treffen verstehen, die manches wiedergutmacht, was mir in Ihren Geschichten missfällt. Ihre leidige Gepflogenheit, alles vom Standpunkt des Erzählers statt von dem des Gelehrten zu betrachten, hat es verhindert, dass eine belehrende und vielleicht vorbildliche Serie klassischer Beweisfälle daraus geworden ist. Sie gehen über Stellen der schwierigsten und feinsten Geistesarbeit rasch hinweg, um bei sensationellen Einzelheiten desto länger zu verweilen, die ja den Leser fesseln mögen, aber sicher nicht belehren können.«
»Warum schreiben Sie sie denn nicht selbst?«, versetzte ich, etwas verletzt.
»Das beabsichtige ich jetzt auch, mein lieber Watson, das werde ich ganz gewiss noch tun. Augenblicklich bin ich jedoch, wie Sie wissen, stark beschäftigt, aber ich habe mir vorgenommen, meine späteren Jahre der Ausarbeitung eines Werkes zu widmen, welches die ganze Detektivkunst in einem einzigen Band zusammenfassend enthalten soll. Gegenwärtig scheint es sich um einen Mord zu handeln.«
»Sie meinen also, dass dieser Mr Edward tot ist?«
»Das ist allerdings meine Ansicht. Hopkins’ Brief verrät eine starke Aufregung, und er ist nicht gerade ein Gemütsmensch. Ja, ich nehme an, dass ein Gewaltakt vorliegt und dass man die Leiche liegen gelassen hat, damit wir sie an Ort und Stelle in Augenschein nehmen können. Bei einem einfachen Selbstmord würde er mich nicht gerufen haben. Was die Befreiung der Dame anbelangt, will es mir scheinen, dass sie während der Ermordung in ihr Zimmer eingeschlossen gewesen ist. Wir haben’s mit feinen Leuten zu tun, Watson; beste Briefbogen, Monogramm V. L., Wappen, künstlerisch ausgestattete Kuverts. Ich vermute, dass Freund Hopkins seinen Ruf erhöhen wird, und dass uns ein interessanter Vormittag bevorsteht. Das Verbrechen ist heute Nacht vor zwölf verübt worden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Durch einen Blick ins Kursbuch und durch Berechnung der Zeit. Zuerst musste die Ortspolizei in Kenntnis gesetzt werden, diese musste sich mit der Londoner Polizei verbinden, Hopkins musste hinauffahren und seinerseits wieder nach mir schicken. Das alles zusammen kostet wohl eine Nacht Zeit. Nun, hier sind wir in Chislehurst, und bald werden unsere Zweifel behoben sein.«
Eine Fahrt von ein paar Meilen auf schmalen Feldwegen brachte uns an einen Park. Ein alter Pförtner, von dessen magerem Gesicht man ablesen konnte, dass ein großes Unglück passiert war, öffnete uns die breiten Tore. Wir befanden uns in einem herrlichen Park und schritten eine mit alten Ulmen bestandene Allee entlang, deren Abschluss ein weites, niedriges Gebäude in palladinischem Stil bildete. Der mittlere Teil war offenbar sehr alt und ganz mit Efeu überzogen, aber die großen Fenster wiesen auf moderne Veränderungen hin, und ein Flügel schien überhaupt ganz neu zu sein. Am Eingang kam uns Inspektor Hopkins entgegen.
»Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind, Mr Holmes, und Sie auch, Dr. Watson! Aber trotzdem würde ich Sie, wenn ich’s jetzt noch mal zu tun hätte, nicht belästigen, denn die Dame hat, sobald sie wieder zu sich gekommen war, einen so klaren Bericht des Hergangs gegeben, dass uns nicht viel zu tun übrig bleibt. Sie kennen doch die Lewishamer Einbrecherbande?«
»Was, die drei Randalls?«
»Jawohl; der Vater mit seinen zwei Söhnen. Die haben’s verübt. Daran ist gar nicht zu zweifeln. Vor vierzehn Tagen haben sie in Sydenham einen großen Einbruchsdiebstahl ausgeführt und sind gesehen und beschrieben worden. Es ist zwar etwas frech, so kurz darauf und so nahe dabei einen zweiten zu wagen, aber sie sind’s gewesen, das steht fest. Diesesmal geht’s ihnen an den Kragen.«
»Dann ist der Baron Edward wohl tot?«
»Ja; man hat ihm mit seinem eigenen Schürhaken den Schädel eingeschlagen.«
»Wie mir der Kutscher sagte, handelt es sich um den Baron Alfred Brackenstall.«
»Ganz recht – einen der reichsten Männer in Kent. Die Baronin Brackenstall ist in ihrem Schlafzimmer. Die arme Frau hat Schreckliches durchgemacht. Sie schien halb tot, als ich sie zum ersten Mal sah. Es ist am besten, wenn Sie gleich zu ihr gehen und sich erzählen lassen, wie sich’s zugetragen hat. Dann wollen wir gemeinsam das Speisezimmer besichtigen.«
Baronin Brackenstall war keine alltägliche Erscheinung. Ich habe selten eine so anmutige Gestalt, eine so echt weibliche Persönlichkeit und ein so schönes Gesicht gesehen. Sie war eine Blondine mit goldenem Haar und blauen Augen und würde zweifelsohne auch die sonstigen Eigentümlichkeiten dieses Typs gehabt haben, wenn sie nicht das Erlebnis der verflossenen Nacht verstört und bleich gemacht hätte. Sie litt sowohl körperlich wie seelisch. Über dem einen Auge hatte sie eine hässliche schwarzblaue Geschwulst, die ihre Dienerin, ein großes, ernstes Weib, unablässig mit Wasser und Essig badete. Die Baronin lag erschöpft auf einer Chaiselongue, aber ihr munterer Blick, mit dem sie uns sofort beim Eintreten bemerkte, und der lebhafte Ausdruck ihres hübschen Gesichts zeigte uns, dass weder ihr Bewusstsein getrübt noch ihr Lebensmut durch die vorhergegangenen Schrecken erschüttert war. Sie war in ein blau und weißes, loses Morgenkleid gehüllt, aber daneben auf einem Sofa lag ein schwarzes, goldbesetztes Gesellschaftskleid ausgebreitet.
»Ich habe Ihnen ja bereits alles erzählt, Mr Hopkins«, sagte sie müde, »könnten Sie’s nicht für mich wiederholen? Doch, wenn Sie’s für nötig halten, will ich’s den Herren noch mal erzählen. Sind Sie schon im Speisesalon gewesen?«
»Ich dachte, es sei besser, wenn die Herren zuerst aus Ihrem Mund erführen, wie sich’s zugetragen hat.«
»Es würde mir sehr angenehm sein, wenn Sie die Sache in Ordnung bringen könnten. Der Gedanke, dass er noch immer dort liegt, ist mir schrecklich.« Sie erschauderte und verbarg einen Augenblick das Gesicht mit den Händen. Bei dieser Bewegung fielen die weiten Ärmel zurück, und Holmes bemerkte zwei rote Stellen an dem einen der weißen, wohlgerundeten Arme.
»Sie haben noch andere Verletzungen, gnädige Frau!«, rief er aus. »Woher kommt das?«
Sie deckte sie rasch zu.
»Es ist nichts. Es hängt in keiner Weise mit der furchtbaren Begebenheit der vergangenen Nacht zusammen. Wenn Sie und Ihr Freund Platz nehmen wollen, will ich Ihnen alles erklären, soweit es mir möglich ist.
Ich bin die Frau des Barons Edward Brackenstall. Ich bin seit ungefähr einem Jahr verheiratet. Ich glaube, es ist zwecklos, Ihnen zu verheimlichen, dass unsere Ehe nicht sehr glücklich gewesen ist. Ich befürchte, selbst wenn ich’s leugnen wollte, würden Sie’s von allen unseren Nachbarn hören. Vielleicht mag die Schuld zum Teil an mir liegen. Ich bin in der freieren, weniger förmlichen Atmosphäre Südaustraliens erzogen, und dieses englische Leben mit seiner Etikette und Ziererei behagt mir nicht. Aber das Schlimmste war, dass, wie alle Welt weiß, mein Mann ein wirklicher Trinker war. Es ist nicht angenehm, mit einem solchen Menschen auch nur eine Stunde zusammen zu sein. Nun können Sie sich vorstellen, was es für ein empfindsames und stolzes Weib heißen will, an einen solchen Mann Tag und Nacht gekettet zu sein. Es ist unerhört, es ist eine Schmach, von Gesetzes wegen eine solche Ehe für bindend zu erklären! Ich kann Ihnen nur sagen, dass solche ungeheuerlichen Gesetze einen Fluch über Ihr Land bringen – der Himmel will nicht, dass ein derartiges Verhältnis von Dauer sein soll!« Sie richtete sich einen Augenblick auf, ihre Wangen röteten sich und ihre Augen funkelten unter der furchtbaren Verletzung ihrer Stirn hervor. Dann drückte die starke Hand ihrer Zofe ihren Kopf wieder sanft auf das Kissen nieder, und der wilde Zorn ging in leidenschaftliches Schluchzen über. Endlich fuhr sie fort:
»Ich will Ihnen nun von der verflossenen Nacht erzählen. Es ist Ihnen vielleicht schon bekannt, dass in diesem Haus die gesamte Dienerschaft in dem neuen Flügel schläft. Dieses Mittelgebäude enthält vorne die Wohnräume und hinten die Küche und darüber unser Schlafzimmer. Über meinem Zimmer befindet sich die Schlafstube meiner Zofe Theresa. Außer ihr hält sich hier niemand auf, und die in dem anderen Flügel konnten den Lärm unmöglich hören. Das müssen die Räuber genau gewusst haben, denn sonst hätten sie nicht in der Weise vorgehen können, wie sie’s getan haben.
Baron Edward zog sich gegen halb elf zurück. Das Personal war schon zu Bett gegangen. Nur meine Dienerin Theresa war noch auf. Sie hatte in ihrem Zimmer gewartet, bis ich ihre Dienste in Anspruch nehmen würde. Ich saß bis nach elf Uhr in diesem Zimmer, in die Lektüre eines Buches vertieft. Dann machte ich die Runde, um zu sehen, ob alles in Ordnung wäre. Ich pflegte das immer selbst zu tun, ehe ich hinaufging, denn, wie ich erwähnt habe, war Baron Alfred nicht immer zuverlässig. Ich ging in die Küche, ins Anrichtezimmer, in die Speisekammer, ins Billard- und Empfangszimmer und endlich in den Speisesalon. Als ich hier in die Nähe des Fensters kam, das mit schweren Vorhängen behängt ist, spürte ich, dass mir der Wind ins Gesicht blies; ich vergewisserte mich, dass es offen stand. Ich schlug die Vorhänge beiseite und fand mich einem breitschulterigen, älteren Mann gegenüber, der gerade hereingestiegen war. Es ist ein großes französisches Fenster, das in Wirklichkeit eine Tür bildet, die zum Garten führt. Ich hatte ein Licht in der Hand, und in seinem Schein sah ich hinter dem ersten Kerl noch zwei andere stehen, im Begriff, ebenfalls einzutreten. Ich lief zurück, aber der Bursche hatte mich gleich eingeholt. Er erwischte mich erst an den Händen und dann am Hals. Ich wollte schreien, aber er versetzte mir einen furchtbaren Faustschlag auf das Auge und warf mich zu Boden. Ich muss ein paar Minuten bewusstlos gewesen sein, denn als ich wieder zu mir kam, merkte ich, dass sie die Klingelschnur abgerissen und mich damit an den eichenen Stuhl, der am Kopf des Esstisches steht, festgebunden hatten, und zwar derart, dass ich mich nicht rühren konnte; und ein Tuch, das mir über den Mund geschnürt war, verhinderte mich, auch nur einen Ton herauszubringen. In diesem Augenblick trat mein unglücklicher Gatte ins Zimmer. Er hatte offenbar ein verdächtiges Geräusch gehört und war auf etwas Schlimmes gefasst. Er hatte nur Hemd und Hose an und in der Hand seinen gewöhnlichen schweren Schwarzdornstock. Er stürzte auf den einen Einbrecher los, aber ein anderer – es war der Ältere – bückte sich, ergriff den Schürhaken und versetzte ihm im Vorbeilaufen einen entsetzlichen Schlag. Er fiel lautlos um und zuckte mit keinem Glied mehr. Ich wurde wieder ohnmächtig, aber auch dieses Mal konnte ich nur ganz kurze Zeit bewusstlos gewesen sein. Als ich die Augen aufschug, sah ich, dass sie vom Serviertisch das Silberzeug weggenommen und auch eine Flasche Wein, die dort gestanden hatte, aufgemacht hatten. Jeder von ihnen hielt ein Glas in der Hand. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass einer älter war und einen Bart hatte, während die beiden anderen junge, bartlose Burschen waren. Es konnte ein Vater mit seinen zwei Söhnen sein. Sie flüsterten miteinander. Dann kamen sie an mich heran und überzeugten sich, dass ich noch festgebunden war. Endlich verließen sie das Zimmer wieder und machten das Fenster hinter sich zu. Es verging eine volle Viertelstunde, ehe ich den Mund frei bekam. Als ich dann schrie, kam meine Zofe herbeigeeilt. Bald waren auch die anderen Dienstboten alarmiert, und wir schickten zur Ortspolizei, die sich sofort mit der Londoner in Verbindung setzte. Das ist in der Tat alles, was ich Ihnen mitteilen kann, meine Herren, und ich hoffe, dass ich diese peinliche Geschichte nicht noch einmal erzählen muss.«
»Wollen Sie sonst noch eine Frage stellen, Mr Holmes?«, sagte Hopkins.
»Ich will die Geduld und die Zeit der gnädigen Frau nicht länger in Anspruch nehmen«, antwortete mein Freund. »Ehe ich ins Speisezimmer gehe, möchte ich nur noch gerne hören, was Sie über den Fall wissen.« Er sah die Dienerin an.
»Ich habe die Kerle gesehen, ehe sie ins Haus gekommen sind. Als ich an meinem Schlafkammerfenster saß, bemerkte ich im Mondschein drei Männer drüben am Portiershäuschen; ich dachte mir aber nichts weiter dabei. Über eine Stunde danach hörte ich meine Herrin jammern; als ich daraufhin hinunterlief, fand ich das arme Wesen, genau wie sie’s geschildert hat, und ihn am Boden liegen; Blut und Hirn war umhergespritzt. Es war genug, um eine Frau von Sinnen zu bringen, festgebunden und ihr eigenes Kleid von seinem Blut besudelt! Aber sie war als Mädchen schon sehr mutig, die Miss Mary Fraser aus Adelaide, und ist es auch als Baronin Brackenstall von Abbey Grange geblieben. Sie haben sie nun lang genug ausgefragt, meine Herrn, sie will nun bei ihrer alten Theresa die nötige Ruhe haben.«
Mit mütterlicher Zärtlichkeit legte die schwerfällige Dienerin ihren Arm um ihre Herrin und führte sie zum Zimmer hinaus.
»Sie ist ihr Leben lang bei ihr gewesen«, bemerkte Hopkins. »Sie hat sie als Amme genährt und ist dann mit ihr nach England gegangen, als sie vor nun achtzehn Monaten Australien zum ersten Mal verließen. Sie heißt Theresa Wright, und solche Dienstboten gibt’s heutzutage nicht mehr. Hierher, Mr Holmes, wenn ich bitten darf!«
Das lebhafte Interesse war aus Holmes’ ausdrucksvollem Gesicht gewichen, und ich merkte, dass mit dem Geheimnis auch der ganze Reiz an dem Fall für ihn verschwunden war. Was blieb noch zu tun? Die Kunden festzunehmen; aber was sollte er sich mit so gewöhnlichen Verbrechern befassen? Als gewiegter, erfahrener Spezialist, der sich zu einem gewöhnlichen Fall geholt sah, musste er den Unwillen zeigen, den ich in meines Freundes Gesicht lesen konnte. Aber die Szene im Speisezimmer war merkwürdig genug, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln und das schwindende Interesse zurückzurufen.
Es war ein sehr großes, hohes Zimmer. Die Decke war von Eichenholz, das prächtige Schnitzereien zeigte, und ebenso die Täfelung. An den Wänden befanden sich zahlreiche Hirschgeweihe und Rehgehörne und verschiedene alte Waffen. An der der Tür gegenüberliegenden Wand war das französische Fenster, von dem wir gehört hatten. Durch drei kleinere Fenster zur Rechten schien die Wintersonne. Zur Linken befand sich ein großer Kamin. Daneben stand ein schwerer eichener Armsessel, um den noch der rote Baumwollstrick geschlungen war. Beim Freimachen der Dame war das Seil nur heruntergezogen, die Knoten, mittels deren es festgebunden war, aber nicht gelöst worden, sodass man noch genau sehen konnte, in welcher Weise sie geschlungen waren. Doch diesen Einzelheiten widmeten wir erst später größere Aufmerksamkeit, vorläufig wurde unser ganzes Denken von dem schrecklichen Anblick des Leichnams eingenommen, der auf dem Teppich lag.
Es war die Leiche eines großen, gutgebauten Mannes im Alter von vierzig Jahren. Er lag auf dem Rücken, das Gesicht nach oben gewandt, und die weißen Zähne blinkten durch den kurzen, schwarzen Bart. Die zusammengekrampften Hände lagen über dem Kopf, und ein schwerer Schwarzdornstock quer darüber. Sein dunkles, hübsches Männergesicht war krampfhaft verzogen; Hass und Rache kamen darauf zum Ausdruck und gaben ihm ein teuflisches, wildes Aussehen. Er hatte offenbar im Bett gelegen, als er den Lärm gehört hatte, denn er war nur mit einem Nachthemd und einer Hose bekleidet, aus der die nackten Füße herausguckten. Der Kopf trug eine schreckliche Wunde, und überall im Zimmer konnte man die Spuren der Furchtbarkeit des Schlages erkennen, der ihn niedergeschmettert hatte. Neben ihm lag der eiserne Haken, der sich von der Wucht des Schlages gekrümmt hatte. Holmes untersuchte beide, das Werkzeug und die entsetzliche Verletzung, die es bewirkt hatte.
»Er muss ein kräftiger Kerl sein, dieser ältere Randall«, bemerkte er.
»Jawohl«, sagte Hopkins. »Ich kenne einige Streiche von ihm, er ist ein roher Bursche.«
»Es wird Ihnen keine Schwierigkeit machen, ihn zu bekommen.«
»Nicht die geringste. Wir hatten ihn schon auf dem Korn, und es schien beinahe, als ob er nach Amerika entkommen wäre. Nun, wo wir wissen, dass die Bande noch hier ist, sehe ich nicht ein, wie sie uns entschlüpfen sollte. Wir haben bereits an alle Häfen telegrafiert, und vor dem Abend wird auch noch eine Belohnung ausgesetzt werden. Was mich wundert, ist, dass sie so verrückt sein konnten, eine solche Tat zu begehen, wo sie doch wussten, dass die Dame sie beschreiben konnte, und dass wir sie aus dieser Beschreibung sofort erkennen würden.«
»Das ist wahr. Man hätte erwarten sollen, dass sie Mrs Brackenstall ebenfalls mundtot machen würden.«
»Sie haben vielleicht nicht gewusst, dass sie sich von ihrer Ohnmacht erholt hatte«, warf ich ein.
»Das klingt nicht unwahrscheinlich. Wenn sie sie für besinnungslos hielten, brauchten sie ihr nicht das Leben zu nehmen. Was ist eigentlich mit diesem armen Kerl hier am Boden, Hopkins? Ich glaube merkwürdige Geschichten von ihm gehört zu haben.«
»Er war ein ganz guter Kerl, wann er nüchtern war, aber ein vollkommenes Vieh, wann er betrunken war, oder vielmehr, wann er halb betrunken war, denn er wurde fast nie ganz betrunken. Dann schien der Teufel in ihm zu stecken, und er war zu allem fähig. Soviel ich gehört habe, wäre er trotz seines Reichtums und Standes ein paar Mal beinahe mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gekommen. Es war einmal ein furchtbarer Skandal, dass er einen Hund mit Petroleum begossen und ins Feuer geworfen habe – und, was das Schlimmste war, den Hund seiner Frau – die Sache wurde damals noch mit vieler Mühe unterdrückt. Dann wieder einmal warf er einen Armleuchter nach der Dienerin, der Theresa Wright, was großes Aufsehen erregte. Im Großen und Ganzen, und unter uns gesagt, die Familie wird froh sein, dass er tot ist. – Was untersuchen Sie denn da?«
Holmes lag auf den Knien und betrachtete sehr eingehend die Knoten an dem roten Strick, womit die Frau festgebunden gewesen war. Dann prüfte er noch sorgfältig das abgerissene Ende und auch die entsprechende Stelle am Klingelzug.
»Als der Dieb dieses Stück heruntergerissen hat, muss es in der Küche doch laut geläutet haben«, bemerkte er dann.
»Das konnte kein Mensch hören. Die Küche befindet sich ganz hinten im Haus.«
»Woher wusste der Einbrecher, dass es niemand hören würde? Wie konnte er in so unsinniger Weise an einem Klingelzug zerren?«
»Gewiss, Mr Holmes, gewiss. Sie stellen dieselbe Frage, die ich mir auch schon immer und immer wieder vorgelegt habe. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Kerl das Haus und die Gepflogenheiten in demselben gekannt hat. Er muss entschieden gewusst haben, dass die ganze Dienerschaft um diese verhältnismäßig frühe Stunde schon zu Bett war, und somit niemand das Klingeln in der Küche hören konnte. Er muss also mit einem der Bediensteten in naher Beziehung gestanden haben. Das ist ganz sicher. Aber alle acht sind zuverlässige Leute.«
»Unter sonst gleichen Umständen«, sagte Holmes, »sollte man es der Dienerin zutrauen, der der Herr einen Leuchter an den Kopf geworfen hat. Dies würde aber wiederum gleichzeitig einen Verrat an der Herrin vorstellen, und dieser scheint sie doch sehr ergeben zu sein. Nun, der Punkt ist ja ganz nebensächlich; wenn Sie Randall haben, werden Sie wahrscheinlich leicht herausbringen, was für Helfershelfer er gehabt hat. Die Aussagen der Frau werden allem Anschein nach durch den Tatbestand gestützt und bestätigt, wie wir ihn hier vor unseren Augen sehen.« Er ging an das französische Fenster und öffnete es. »Hier finden sich keinerlei Spuren, aber bei dem steinhart gefrorenen Boden konnte man auch keine erwarten. Wie ich sehe, sind diese Lichter auf dem Kaminsims gebrannt worden.«
»Jawohl; bei ihrem Schein und dem der Kerze, welche die gnädige Frau in der Hand hatte, haben die Diebe ja die Silbersachen gestohlen.«
»Was haben sie denn mitgenommen?«
»Nun, nicht gerade viel – nur ein halbes Dutzend silberner Gegenstände von dem Wandtisch. Die Baronin vermutet, dass sie über den unbeabsichtigten Mord selbst so bestürzt gewesen seien, dass sie das Haus nicht so durchsucht und ausgeplündert hätten, wie sie es sonst wohl getan haben würden.«
»Das ist zweifelsohne wahr. Und doch haben sie Wein getrunken, wenn ich richtig verstanden habe.«
»Um ihre Nerven zu stählen.«
»Richtig. Diese drei Gläser auf dem Seitentisch sind später hoffentlich nicht angerührt worden?«
»Nein; und die Flasche steht auch noch ebenso da, wie sie die Diebe verlassen haben.«
»Wir wollen sie uns mal näher betrachten. Holla, was ist das?«
Die drei Trinkgläser waren zusammengerückt und in jedem war Wein gewesen; in einem befand sich ein fester Rückstand. Daneben stand die Flasche. Sie war noch zwei Drittel voll und in der Nähe der Flasche lag ein langer, dunkler Korkstöpsel. Der Pfropfen und der Staub der Flasche bewiesen, dass die Mörder keinen schlechten Tropfen getrunken hatten.
Holmes’ Wesen hatte sich verändert. Sein gleichgültiger Gesichtsausdruck war verschwunden und seine glänzenden, tiefliegenden Augen zeigten mir, dass sein Interesse wieder lebendig geworden war. Er nahm den Korken in die Hand und untersuchte ihn genau.
»Womit haben sie den rausgezogen?«, fragte er.
Hopkins deutete auf eine halb offene Schublade. Darin lag einiges Tischzeug und ein großer Korkenzieher.
»Hat Mrs Brackenstall gesagt, dass sie diesen Korkenzieher benutzt hätten?«
»Nein; Sie werden sich erinnern, dass sie in dem Augenblick, als die Flasche aufgemacht wurde, gerade besinnungslos war.«
»Ganz recht. In der Tat ist dieser Korkenzieher nicht benützt worden. Diese Flasche ist mit einem Taschenpfropfenzieher geöffnet worden, wie man sie an Taschenmessern hat, und er ist höchstens eineinhalb Zoll lang gewesen. Wenn Sie den Pfropfen genauer betrachten, werden Sie am oberen Ende sehen, dass der Korkenzieher dreimal angesetzt worden ist. Der Korken ist nicht ganz durchbohrt worden. Mit dem langen Pfropfenzieher würde er vollständig durchbohrt und auf einen einzigen Zug herausgekommen sein. Wenn Sie den Kunden fangen, werden Sie finden, dass er ein solches Messer bei sich hat.«
»Ausgezeichnet!«, sagte Hopkins.
»Auf jeden Fall, diese Gläser bringen mich in Verlegenheit, machen mich irre; ich kann mir nicht helfen. Die Baronin hat doch die drei Männer wirklich trinken sehen, nicht wahr?«
»Jawohl; darüber war sie sich vollkommen klar.«
»Dann begreif ich’s nicht. Was soll ich weiter sagen? Und trotzdem müssen Sie doch selbst zugeben, Hopkins, dass es mit den drei Gläsern eine auffallende Sache ist. Wie, Sie bemerken nichts Auffallendes! Gut, dann wollen wir’s lassen. Es ist möglich, dass ein Mann mit besonderen Kenntnissen und einer besonderen Beobachtungs- und Kombinationsgabe, wie ich sie besitze, eine verwickeltere Erklärung sucht, wo eine einfachere auf der Hand liegt. Es muss dann eben ein merkwürdiger Zufall sein mit den Gläsern. Also, Guten Morgen, Mr Hopkins. Ich sehe nicht ein, wozu ich Ihnen hier noch nützen sollte, Sie scheinen sich ja über den Fall ganz klar zu sein. Lassen Sie mich wissen, wann Sie den Randall festgenommen haben, und benachrichtigen Sie mich auch von eventuellen sonstigen Entwicklungen. Ich hoffe, Sie bald zu einem erfolgreichen Abschluss beglückwünschen zu können. Kommen Sie, Watson, ich glaube, wir können uns zu Hause nützlicher beschäftigen.«
Auf der Rückfahrt konnte ich meinem Freund anmerken, dass ihm noch irgendetwas, was er beobachtet hatte, Kopfschmerzen machte. Hie und da suchte er gewaltsam diesen Eindruck loszuwerden und so über die Angelegenheit zu sprechen, als ob sie ihm klar wäre, dann kamen ihm aber wieder seine Zweifel, und die Falten auf seiner Stirn und sein Blick verrieten, dass seine Gedanken wieder in dem großen Speisezimmer von Abbey Grange waren, in dem sich die mitternächtige Tragödie abgespielt hatte. Endlich, als unser Zug sich an einer Vorortstation gerade wieder in Bewegung setzen wollte, sprang er mit einem Mal hinaus auf den Bahnsteig und zog mich hinter sich her.
»Entschuldigen Sie, mein Lieber«, begann er, als wir die letzten Wagen unseres Zuges an einer Biegung verschwinden sahen, »es tut mir leid, Ihnen mit einer Sache kommen zu müssen, die Ihnen als ein bloßes Hirngespinst von mir erscheinen mag, aber, so wahr ich lebe, Watson, ich kann einfach den Fall nicht in diesem Stadium aufgeben. Mein innerstes Empfinden empört sich dagegen. Es ist falsch – es ist alles falsch – ich will drauf schwören, dass alles falsch ist. Und doch, die Erzählung der Dame war erschöpfend, die Bestätigung und Ergänzung durch die Dienerin ausreichend, es stimmte ganz genau. Was habe ich dem entgegenzusetzen? Weiter nichts als drei Weingläser. Aber, wenn ich die Dinge nicht von vornherein als wahr hingenommen, wenn ich alles mit der Sorgfalt untersucht hätte, die ich an den Tag gelegt haben würde, wenn wir vorurteilslos und ohne die schön zurechtgelegte Erzählung vorher gehört zu haben, an die Sache herangegangen wären, würde ich dann nicht eine festere Grundlage gefunden haben, worauf ich hätte weiter bauen können? Sicher würde ich das getan haben. Setzen Sie sich auf diese Bank, Watson, bis der Zug nach Chislehurst kommt. Ich will Ihnen die Sache mal klarlegen. Vorher muss ich Sie aber bitten, den Glauben aufzugeben, dass das, was das Mädchen und die Herrin ausgesagt haben, unbedingt wahr sein muss. Das reizende Äußere der Frau darf nicht unsere Urteilskraft beeinträchtigen.
Ihre Erzählung enthält entschieden einzelne Punkte, die uns bei einer kühlen Betrachtung verdächtig vorkommen würden. Die Einbrecher haben vor vierzehn Tagen in Sydenham einen guten Fang gemacht. Die Zeitungen brachten eingehende Beschreibungen von ihnen, die natürlich von jemandem benutzt werden konnten, der eine Geschichte erfinden wollte, worin Einbrecher eine Rolle spielen sollten. Tatsächlich pflegen Diebe, denen eine reichliche Beute in die Hände gefallen ist, das Gestohlene regelmäßig in Ruhe und Frieden zu verzehren, bevor sie auf ein gefährliches neues Unternehmen ausgehen. Auch ist es ungewöhnlich, dass Einbrecher so früh an die Arbeit gehen. Ferner ist es nicht ihre Art, eine Frau zu schlagen, um sie vom Schreien abzuhalten, denn man sollte meinen, das sei das beste Mittel, sie zum Schreien zu veranlassen. Sie ermorden auch kaum jemanden, wenn sie in der Überzahl sind und einen einzelnen Mann so überwältigen können. Sie geben sich auch nicht mit einer bescheidenen Beute zufrieden, wenn sie eine viel größere haben können, und endlich möchte ich auch noch sagen, dass solche Leute nicht die Gewohnheit haben, eine Flasche halb leer zu lassen. Was für einen Eindruck machen alle diese Unwahrscheinlichkeiten auf Sie, Watson?«
»Zusammen üben sie eine beträchtliche Wirkung aus; doch ist jeder einzelne Punkt, für sich allein, durchaus nicht unmöglich. Mir erscheint es am sonderbarsten, dass die Baronin an den Stuhl gebunden war.«
»Das will ich nicht gerade sagen, Watson; sie mussten die Frau entweder töten oder sie sonst derartig festmachen, dass sie nicht gleich die Verfolgung veranlassen konnte. Aber auf jeden Fall habe ich doch bewiesen, dass die Geschichte der Frau in mehr als einer Hinsicht unwahrscheinlich klingt; ist das nicht wahr, Watson? Und den Gipfelpunkt bildet der Umstand mit den Weingläsern.«
»Was ist denn mit den Weingläsern los?«
»Können Sie sie sich noch richtig vorstellen?«
»Ganz deutlich.«
»Man hat uns gesagt, es hätten drei Männer daraus getrunken. Halten Sie das für wahrscheinlich?«
»Warum nicht? Es war doch in jedem Wein gewesen.«
»Allerdings; aber nur in einem befand sich ein Rückstand. Diese Tatsache ist zu berücksichtigen. Was sagen Sie dazu?«
»Dass in dem Glas, das zuletzt gefüllt wurde, ein Bodensatz ist, ist doch sehr wahrscheinlich.«
»Durchaus nicht. In der ganzen Flasche schwammen feste Teilchen umher, und es ist unbegreiflich, dass die beiden ersten Gläser ziemlich rein sind, während das dritte einen ganz dicken Niederschlag enthält. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen, aber auch nur zwei. Die eine ist die, dass, nachdem das zweite Glas eingeschenkt war, die Flasche stark geschüttelt worden ist und dadurch das dritte Glas sehr viel mehr abbekommen hat. Das ist nicht gut anzunehmen. Nein, nein; meine Vermutung ist sicher richtig.«
»Was vermuten Sie denn?«
»Dass nur zwei Gläser benutzt worden sind und dass der Satz aus diesen beiden in ein drittes gegossen worden ist, um den Anschein zu erwecken, dass drei Menschen da gewesen wären. Auf diese Weise würde das Ganze in das letzte Glas gekommen sein, nicht wahr? Ja, ich bin überzeugt, so ist es. Wenn sich aber dieser nebensächliche Umstand so verhält, wie ich bestimmt glaube, dann wird der Fall augenblicklich von einem gewöhnlichen zu einem außerordentlich merkwürdigen, denn dann haben Mrs Brackenstall und ihre Zofe absichtlich die Unwahrheit gesagt, und wir können ihnen ihre ganze Erzählung nicht mehr glauben; sie müssen dann sehr gewichtige Gründe haben, den wirklichen Verbrecher zu verheimlichen, und wir müssen dann ohne ihre Hilfe, den Fall von vorne und für uns allein zu ergründen suchen. Diese Aufgabe haben wir jetzt vor uns, Watson, und hier kommt der Chislehurster Zug.«
In Abbey Grange war man über unsere Rückkehr sehr überrascht. Aber Holmes nahm, als er sah, dass Hopkins ins Hauptpolizeiamt gegangen war, um Bericht zu erstatten, einfach von dem Eßzimmer Besitz, schloss die Tür von innen ab und verbrachte gegen zwei Stunden mit einer jener genauen und anstrengenden Untersuchungen, welche die feste Basis bildeten, worauf er seine glänzenden Beweisführungen gründete. Ich saß in einer Ecke und verfolgte wie ein aufmerksamer Student jeden Schritt dieser merkwürdigen Prüfung. Das Fenster, die Vorhänge, der Teppich, der Stuhl, der Strick – jedes Ding wurde wiederholt peinlich untersucht und alles genau erwogen. Die Leiche des unglücklichen Barons war fortgeschafft, aber sonst lag und stand noch alles, wie wir’s am Vormittag vorgefunden hatten. Dann kletterte Holmes zu meiner Überraschung auf das Kaminsims. Hoch über seinem Kopf hing das nur wenige Zoll lange rote Strickende. Er blickte lange Zeit hinauf, endlich stützte er sich, um näher daran zu kommen, mit dem Knie auf einen Querbalken an der Wand. Dadurch konnte er bis auf ein paar Zoll an das übrig gebliebene Stück Schnur mit der Hand hinanreichen, aber dieses selbst schien seine Aufmerksamkeit weniger zu fesseln als der Querbalken selbst. Endlich sprang er mit einem Ausruf der Befriedigung herunter.
»Es ist schon recht, Watson«, sagte er. »Wir haben unseren Fall schon aufgeklärt – es ist einer der eigenartigsten in unserer Sammlung. Aber, wahrhaftig, wie wenig gewitzt bin ich doch vorhin gewesen, und wie leicht hätte ich nicht den gröbsten Schnitzer gemacht in meinem ganzen Leben! Nun denke ich, dass meine Kette, abgesehen von wenigen fehlenden Gliedern, beinahe vollständig ist.«
»Du weißt, wer die Mörder sind?«
»Der Mörder, Watson, der Mörder. Es ist nur einer, aber ein fürchterlicher Kerl. Stark wie ein Löwe – das bezeugt der Schlag, der den Schürhaken krumm gebogen hat; sechs Fuß drei Zoll hoch, gewandt wie ein Eichhörnchen, von großer Fingerfertigkeit, und auch nicht auf den Kopf gefallen, denn diese ganze Geschichte hat er ersonnen. Jawohl, Watson, wir sind der Arbeit eines ganz besonderen Verbrechers auf die Spur gekommen. Und doch hat er uns in diesem Klingelzug eine Fährte hinterlassen, die uns über alle Zweifel hätte erheben müssen.«
»Worin besteht diese Fährte?«
»Wenn du eine solche Schnur abreißen wolltest, Watson, wo würdest du erwarten, dass sie abreiße? Entschieden an der Stelle, wo sie an der Leitung befestigt ist. Warum sollte sie drei Zoll darunter abreißen, wie es hier geschehen ist?«
»Weil sie dort abgescheuert und dünner ist?«
»Sehr richtig. Das Ende, welches wir nachsehen können, ist abgerieben. Das hat er schlauerweise mit dem Messer gemacht. Aber das entsprechende andere ist nicht abgenutzt. Du konntest es von hier aus nicht sehen, wenn du aber auf dem Kaminsims ständest, würdest du bemerken, dass es glatt mit dem Messer abgeschnitten ist. Daraus ergibt sich Folgendes. Der Mann brauchte den Strick. Er wollte ihn nicht abreißen, aus Furcht, dass das Klingeln zu starken Lärm machen würde. Was tat er? Er sprang auf das Ofensims, konnte aber nicht ganz hinaufreichen, er stemmte sein Knie an den Querbalken – der Eindruck ist noch im Staub zu sehen – nahm das Messer heraus und schnitt das Seil durch. Ich konnte nur bis auf drei Zoll daran gelangen, woraus ich entnehme, dass er wenigstens drei Zoll größer ist als ich. Schau’ den Flecken auf dem Stuhl da! Was ist das?«
»Blut.«
»Zweifellos ist’s Blut. Das allein macht die Aussage der Baronin unglaubhaft. Wenn sie, als das Verbrechen begangen wurde, auf dem Stuhl gesessen hätte, wie könnte denn dieser Blutflecken drauf sein? Nein, nein; sie wurde erst draufgebunden, als ihr Mann schon ermordet war. Ich möchte wetten, dass das schwarze Kleid einen entsprechenden Flecken aufweist. Ich würde jetzt gerne ein paar Worte mit dieser Theresa sprechen. Wir müssen aber vorsichtig zu Werke gehen, um die nötige Information zu bekommen.«
Sie war eine interessante Person, diese kalte australische Amme, schweigsam, argwöhnisch, unfreundlich. Es dauerte längere Zeit, ehe sie meines Freundes Liebenswürdigkeit und Freimütigkeit erwiderte. Sie versuchte ihren Hass gegen ihren ermordeten Herrn in keiner Weise zu verbergen.
»Ja, mein Herr, es ist wahr, dass er den Leuchter nach mir geworfen hat. Ich hörte, wie er meiner Herrin ein Schimpfwort zurief, und ich sagte ihm, dass er in Gegenwart ihres Bruders nicht so zu sprechen wagen würde. Darauf schleuderte er mir den Leuchter an den Kopf. Mir hätte er ja ein Dutzend ins Gesicht werfen können, wenn er nur mein gutes Kind in Ruhe gelassen hätte. Er hat sie immer schlecht behandelt, und sie war zu stolz, um zu klagen. Sie will mir noch nicht mal alles sagen, was er ihr für Leid angetan hat. Die Flecken, die Sie heute Morgen bemerkten, kannte ich nicht, aber ich weiß sehr wohl, dass sie von einer Hutnadel sind. Der elende Kerl – Gott verzeih mir’s, dass ich nach seinem Tod so von ihm spreche, aber er war einer der schlechtesten Kerle, die’s je gegeben hat. Er zerfloss vor Süßigkeit, als wir ihn vor achtzehn Monaten zum ersten Mal kennenlernten, aber sie kommen uns jetzt wie achtzehn Jahre vor. Sie war gerade in London angekommen – vorher war sie nie von zu Hause weg gewesen. Er gewann sie durch seinen Titel und sein Geld und durch seine Falschheit. Wenn sie eine Schuld dabei trifft, hat sie die so schwer gesühnt wie nur je eine Frau. In welchem Monat trafen wir ihn? Richtig, ich erwähnte ja bereits, dass es gleich nach unserer Ankunft in London war. Wir kamen im Juni an, es war also im Juli. Im Januar vorigen Jahres war die Hochzeit. Jawohl, sie ist unten in ihrem Zimmer, und ich glaube sicher, dass sie Sie empfangen wird, aber Sie dürfen sie nicht zu viel fragen, denn sie hat Dinge erlebt, die einem das Herz im Leib erschüttern.«
Die Baronin Brackenstall lag noch ebenso da wie am Morgen, nur ihre Augen waren wieder heller und lebhafter. Die Dienerin war mit uns eingetreten und begann wieder, die Wunde an ihrer Herrin Stirn zu kühlen.
»Ich hoffe«, sagte sie, »dass Sie nicht gekommen sind, ein zweites Verhör mit mir anzustellen?«
»Nein«, antwortete Holmes sehr sanft, »ich will Sie durchaus nicht unnötig belästigen, gnädige Frau, ich will Sie im Gegenteil beruhigen, denn ich weiß, dass Sie viel durchgemacht haben. Wenn Sie mich als Freund behandeln und mir Vertrauen schenken wollen, werden Sie sehen, dass Sie sich in mir nicht getäuscht haben.«
»Was wünschen Sie, dass ich tun soll?«
»Mir die Wahrheit sagen.«
»Mr Holmes!«
»Gnädige Frau! Es hilft Ihnen nichts. Sie haben vielleicht von meinem kleinen Ruf gehört. Ich setze ihn ganz zum Pfand, dass Ihre ganze Geschichte eitel Mache ist.«
Herrin und Dienerin starrten Holmes starr und erschrocken an.
»Sie unverschämter Mensch!«, schrie Theresa. »Meinen Sie damit, dass meine Herrin Lügen erzählt hat?«
Holmes stand von seinem Stuhl auf.
»Haben Sie mir weiter nichts mitzuteilen?«
»Ich habe Ihnen alles gesagt.«
»Überlegen Sie sich’s noch mal, gnädige Frau. Sollte es nicht besser sein, wenn Sie offen wären?«
Sie besann sich einen Moment und zögerte, dann verzog sie eigensinnig ihr schönes Gesicht und sagte:
»Ich habe Ihnen alles mitgeteilt, was ich weiß.«
Holmes nahm den Hut und zuckte die Schultern. »Es tut mir leid«, sagte er, und ohne ein weiteres Wort verließen wir das Zimmer und das Haus. Im Park war ein Teich. Mein Freund lenkte seine Schritte darauf zu. Er war mit einer Eisdecke überzogen, nur für einen einsamen Schwan war eine freie Stelle gelassen. Holmes blickte hinein und ging dann weiter dem Tor zu. Hier schrieb er eine kurze Notiz für Hopkins und gab den Zettel dem Pförtner.
»Es mag nun zum Guten oder zum Bösen ausschlagen«, sagte er dann zu mir, »aber einen Wink müssen wir unserem Freund Hopkins schon geben, wir müssen unseren zweiten Besuch wenigstens rechtfertigen. Ich will ihn noch nicht ganz ins Vertrauen ziehen. Ich glaube, zunächst müssen wir uns nun zum Büro der Adelaide-Southampton-Linie begeben, das sich, wenn ich mich recht erinnere, am Ende der Pall Mall befindet. Es gibt noch eine zweite Dampferverbindung zwischen Südaustralien und England, aber wir wollen erst zu der größeren gehen.«
Als Holmes seine Karte abgegeben hatte, stellte sich uns der Geschäftsführer sofort zur Verfügung und gab uns bereitwilligst die verlangte Auskunft. Im Jahre 1895 war nur ein einziger Dampfer der Gesellschaft in London angekommen, der »Gibraltar«, ihr größtes und bestes Schiff. Die Passagierliste ergab, dass Miss Fraser aus Adelaide und ihre Dienerin die Reise darauf gemacht hatten. Das Schiff war jetzt auf der Ausreise nach Australien, südlich von Suez. Die Offiziere waren die nämlichen wie 1895, nur der erste Offizier, Mr Jack Croler, war zum Kapitän befördert worden und sollte einen neuen Dampfer, den »Bass Rock«, übernehmen, der in zwei Tagen von Southampton abfahren sollte. Der Kapitän Croler wohne in Sydenham, würde aber wahrscheinlich heute Vormittag hierherkommen, um seine Anweisungen für die Reise in Empfang zu nehmen; wenn wir wollten, könnten wir auf ihn warten.
Nein; Mr Holmes brauchte ihn nicht zu sprechen, er würde nur gerne etwas über seine Vergangenheit und seinen Charakter hören.
Die Gesellschaft stellte ihm ein glänzendes Zeugnis aus. In der ganzen Handelsflotte reiche kein zweiter Offizier an ihn heran. Als Mensch sei er sehr pflichtgetreu, an Bord ein strenger, energischer Mann, hitzig und leicht erregbar, aber im Übrigen ein ehrenwerter und gutmütiger Charakter. Mit dieser Information verließ Holmes das Büro der Adelaide-Southampton-Compagnie. Von hier fuhr er nach Scotland Yard, aber er ging nicht hinein, sondern blieb mit gefalteter Stirn und tief in Gedanken versunken im Wagen sitzen. Schließlich fuhr er zum Telegrafenamt in Charing Cross, gab eine Depesche auf, und danach begaben wir uns wieder in die Baker Street.
»Nein, ich konnte es nicht über mich gewinnen, Watson«, sagte er, als wir in unser Zimmer getreten waren. »Wenn der Befehl einmal ergangen war, konnte ihn kein Mensch auf der Welt mehr retten. Ich fühle, dass ich ein- oder zweimal in meiner Laufbahn durch meine Entdeckung mehr Unglück gestiftet habe, als der Verbrecher durch sein Verbrechen angerichtet hatte. Ich bin daher vorsichtig geworden, und ich will lieber den englischen Gesetzen ein Schnippchen schlagen als mein Gewissen beunruhigen. Wir wollen noch etwas mehr in Erfahrung zu bringen suchen, ehe wir handeln.«
Vor Eintritt der Nacht besuchte uns Inspektor Hopkins. Die Dinge nahmen keinen sehr günstigen Verlauf für ihn.
»Ich glaube, Sie sind ein Hexenmeister, Mr Holmes. Ich denke zuweilen wirklich, dass Sie übermenschliche Kräfte besitzen. Wie in aller Welt konnten Sie jetzt wieder wissen, dass die gestohlenen Silbersachen dort in jenem Teich lagen?«
»Ich wusste es nicht.«
»Aber Sie rieten mir, einmal dort nachzusehen.«
»Haben Sie sie denn gefunden?«
»Allerdings waren sie dort.«
»Es freut mich, wenn ich Ihnen geholfen habe.«
»Aber Sie haben mir damit nicht geholfen. Sie haben die Sache nur viel schwieriger gemacht. Was müssen das für sonderbare Einbrecher sein, die Silber stehlen und es dann in den nächsten Teich werfen?«
»Das ist allerdings ziemlich merkwürdig. Ich hatte nur den Gedanken, dass, falls solche Leute das Silberzeug weggenommen hätten, die es nicht brauchten, die es nur zum Schein gestohlen hätten, sie’s natürlich möglichst schnell wieder los sein möchten.«
»Aber wie kamen Sie auf einen solchen Gedanken?«
»Nun, ich hielt es nicht für ausgeschlossen. Als sie durch das französische Fenster wieder ins Freie traten, lag ihnen der zugefrorene Teich mit der einzigen eisfreien Stelle ja gerade vor der Nase. Konnten sie sich einen besseren Platz zum Verstecken der Beute wünschen?«
»Aha, ein Versteck – das klingt schon glaubwürdiger!«, rief Hopkins. »Ja, ja, jetzt begreife ich die Sache vollkommen! Es war noch früh, es waren noch Leute auf den Wegen, sie fürchteten, mit dem Silber gesehen zu werden, und beabsichtigten, es abzuholen, wenn’s sicherer wäre. Großartig! Das ist ’ne bessere Idee, Mr Holmes, als die, dass sie’s nur auf ’ne Irreführung der Polizei abgesehen hätten.«
»Ganz recht so; Sie haben eine wunderbare Theorie. Zweifelsohne hatte ich nur ganz verschwommene Vorstellungen, aber immerhin müssen Sie zugeben, dass sie zur Entdeckung des Silberzeugs geführt haben.«
»Gewiss, Mr Holmes, natürlich. Es war nur Ihr Werk. Aber ich habe einen gehörigen Dämpfer bekommen.«
»Einen Dämpfer?«
»Jawohl, Mr Holmes. Die Randalls sind heute Morgen in New York festgenommen worden.«
»Teufel auch, Hopkins! Das spricht allerdings ziemlich deutlich gegen Ihre Annahme, dass sie vergangene Nacht in Kent einen Mord begangen haben sollen.«
»Das ist fatal, Mr Holmes, sehr fatal. Doch es gibt außer den Randalls auch noch andere Diebesbanden von drei Mann, vielleicht ist es auch eine neue Bande, von der die Polizei noch gar nichts gehört hat.«
»Gewiss; das ist leicht möglich. Was gedenken Sie nun zu tun?«
»Ja, Mr Holmes; ich werde nicht eher ruhen, bis ich dieser Sache auf den Grund gekommen bin. Sie können mir wohl keinen Wink geben?«
»Ich habe Ihnen ja einen gegeben.«
»Was denn für einen?«
»Nun, ich spielte auf eine Täuschung an.«
»Aber wieso, Mr Holmes, wozu?«
»Ja, das ist natürlich die Frage. Aber ich kann Ihnen nur empfehlen, auf diese Anregung näher einzugehen. Vielleicht finden Sie doch, dass sie nicht so ganz ohne ist. Wollen Sie nicht zum Essen hierbleiben? Nein? Dann Guten Abend, und lassen Sie uns Nachricht zukommen, wie’s weitergeht.«
Wir waren mit der Abendmahlzeit fertig, und der Tisch war abgeräumt, bevor Holmes wieder auf die Angelegenheit zu sprechen kam. Er hatte seine Pfeife angezündet, die Schuhe ausgezogen und erfreute sich an dem prasselnden Feuer im Kamin. Plötzlich sah er auf die Uhr.
»Ich erwarte Enthüllungen, Watson.«
»Wann?«
»Nun – innerhalb der nächsten Minuten. Ich glaube, Sie dachten, ich handelte eben nicht schön an Hopkins?«
»Ich vertraue Ihrem Urteil.«
»Das ist sehr verständig, Watson. Sie müssen Folgendes beachten: Was ich weiß, ist nicht amtlich; was er weiß, ist amtlich. Ich kann tun und lassen, was ich will; er nicht. Er muss alles anzeigen, oder er vergeht sich gegen seine Stellung. In diesem Fall wollte ich ihn nicht in Verlegenheit bringen, deshalb behalte ich mein Wissen für mich und warte, bis ich selbst ganz im Klaren bin.«
»Aber wann wird das sein?«
»Die Zeit ist schon da. Sie werden jetzt der letzten Szene dieses kleinen Dramas beiwohnen.«
Ich hörte eine Stimme draußen, die Zimmertür tat sich auf und herein trat eine so stattliche Erscheinung von einem Mann, wie selten einer unsere Schwelle überschritten hatte. Es war ein sehr großer jüngerer Herr mit goldblondem Schnurrbart, blauen Augen und einer Gesichtsfarbe, welche die Spuren der tropischen Sonne erkennen ließ. Er hatte einen elastischen Schritt, der zeigte, dass sein mächtiger Körper ebenso gewandt wie kräftig war. Er machte die Tür hinter sich zu und blieb mit geballten Fäusten und heftig auf- und abgehender Brust vor uns stehen; er kämpfte offenbar eine gewaltige Erregung nieder.
»Setzen Sie sich, Herr Kapitän. Sie haben mein Telegramm erhalten?«
Unser Besucher ließ sich in einen Lehnstuhl niedersinken und sah uns nacheinander fragend an.
»Ich habe Ihre Depesche empfangen und bin um die angegebene Stunde hierhergekommen. Ich habe gehört, dass Sie drunten im Büro gewesen sind. Da gab’s kein Entrinnen mehr. Sagen Sie nur gleich, was Sie mit mir machen wollen, und wenn’s auch das Schlimmste ist. Wollen Sie mich verhaften? Reden Sie, Mann! Sie können nicht dasitzen und mit mir spielen wie die Katze mit der Maus.«
»Gib ihm ’ne Zigarre«, sagte Holmes. »Rauchen Sie, Herr Kapitän, und lassen Sie Ihre Nerven nicht mit sich durchgehen. Ich würde nicht so gemütlich hier meine Pfeife schmauchen, wenn ich Sie für einen gewöhnlichen Verbrecher hielte, dess’ können Sie versichert sein. Seien Sie offen und frei gegen mich, dann werden wir’s schon zu einem guten Ende bringen. Machen Sie aber Geschichten, dann vernichte ich Sie.«
»Was verlangen Sie von mir?«
»Einen wahren Bericht über die Vorgänge der letzten Nacht in Abbey Grange – einen wahren Bericht, wohlverstanden, ohne etwas hinzuzusetzen oder wegzulassen. Ich weiß schon so viel, dass, wenn Sie auch nur zollbreit von der Wahrheit abweichen, ich mit dieser Pfeife zum Fenster hinaus der Polizei ein Zeichen geben werde, wodurch die Sache dann für immer aus meiner Hand genommen sein wird.«
Der Seemann besann sich eine Weile. Dann schlug er sich mit seiner sonnengebräunten Hand auf den Schenkel.
»Ich werd’s versuchen«, rief er aus. »Ich halte Sie für einen Mann von Wort, für einen anständigen Mann. Ich will Ihnen den ganzen Hergang der Sache erzählen. Aber eins will ich Ihnen gleich zuerst sagen. Was mich anbelangt, ich bedaure nichts und fürchte nichts, und ich würd’s noch mal machen und stolz darauf sein. Dieser verdammte Schurke, und wenn er so viele Köpfe hätte wie die Hydra, ich würde sie ihm alle einschlagen! Aber die Frau, Mary – Mary Fraser – denn ich will sie nie bei diesem verfluchten Mannsnamen nennen. Wenn ich daran denke, dass ich sie in Unannehmlichkeiten bringen sollte, ich, der sein Leben hingeben würde, um ihrem teueren Gesicht ein Lächeln abzunötigen, das macht mich weich und traurig. Und doch – und doch – was könnte ich dagegen tun? Ich will Ihnen die Geschichte erzählen, meine Herren, und Sie dann fragen, Mann gegen Mann, was ich hätte tun sollen.
Ich muss etwas weit ausholen. Sie scheinen von allem unterrichtet zu sein, dann werden Sie wahrscheinlich auch wissen, dass sie als Reisende an Bord der ›Gibraltar‹ war, deren erster Offizier ich war. Vom ersten Tag an, als ich sie kennenlernte, existierten die anderen Damen für mich nicht mehr. Ich habe sie alle Tage während der Reise lieber gewonnen und manche Nacht auf den Knien gelegen und das Deck des Schiffes geküsst, das ihr teurer Fuß betreten hatte. Sie war nicht mit mir verlobt. Sie behandelte mich so artig, wie ein Weib einen Mann nur behandeln kann. Ich klage nicht. Die Liebe war nur auf meiner Seite, auf ihrer war’s nur Kameradschaft und Freundschaft. Als wir uns trennten, war sie ein freies Weib, aber ich war kein freier Mann mehr.
Als ich das nächste Mal von der Reise zurückkam, hörte ich von ihrer Verheiratung. Gut, warum sollte sie nicht nehmen, wen sie wollte? Sie war zu allem Schönen und Feinen geboren. Ich nahm ihr’s nicht übel. Ich war nicht so’n selbstsüchtiger Schuft. Ich freute mich vielmehr, dass sie Glück gehabt und ihr Ziel erreicht hatte, und dass sie sich nicht an einen armen Seemann weggeworfen hatte. So liebte ich Mary Fraser.
Nun, ich dachte nicht, dass ich sie je wiedersehen würde; aber nach der letzten Fahrt wurde ich befördert, und das neue Schiff war noch nicht vom Stapel gelassen; ich musste also ein paar Monate mit meinen Leuten in Sydenham warten. Eines Tages traf ich draußen auf einem Feldweg Theresa Wright, ihre alte Magd. Sie erzählte mir von ihr, von ihm, von allem. Ich kann Ihnen sagen, meine Herren, es brachte mich bald von Sinnen. Dieser versoffene Kerl, der sollte es wagen, die Hand gegen sie zu erheben, der er nicht würdig war, die Schuhriemen zu lösen! Ich traf Theresa wieder. Dann traf ich Mary selbst – und traf sie noch einmal. Dann wollte sie nicht mehr mit mir zusammenkommen. Aber neulich bekam ich die Nachricht, dass ich in einer Woche auslaufen müsste, und ich beschloss daher, sie vorher noch mal aufzusuchen. Theresa war mir immer zugetan gewesen, denn sie liebte Mary und hasste diesen Schuft fast ebenso sehr wie ich. Von ihr erfuhr ich die Gepflogenheiten des Hauses. Mary pflegte aufzubleiben und unten in ihrem Zimmer zu lesen. Ich schlich mich die vergangene Nacht heran und klopfte leise ans Fenster. Erst wollte sie mir nicht öffnen, aber dass sie mich jetzt herzlich liebt, weiß ich, und sie konnte mich nicht in der Frostnacht draußen stehen lassen. Sie flüsterte mir zu, an das große Fenster an der anderen Seite zu kommen, und ich fand es offen, um ins Speisezimmer zu treten. Wieder hörte ich von ihren eigenen Lippen Dinge, die mir das Blut in den Adern stocken ließen, und ich verwünschte diesen Unmenschen, der das Weib misshandelte, das ich liebte. Ich stand gerade mit ihr am Fenster, in aller Unschuld, der Himmel soll mein Zeuge sein, als er wie ein Wahnsinniger ins Zimmer stürzte, die hässlichsten Schimpfreden gegen sie ausstieß, die ein Mann einem Weib gegenüber nur anwenden kann, und sie mit dem Knüppel, den er in der Hand hielt, ins Gesicht schlug. Ich hatte den Schürhaken aufgehoben, und es war ein schöner Kampf zwischen uns. Sehen Sie hier auf meinen Arm, wo mich sein erster Schlag traf. Dann kam ich an die Reihe. Ich hieb auf ihn los wie auf einen verfaulten Kürbis. Glauben Sie, dass es mir leidtat? Durchaus nicht! Es handelte sich darum, ob er am Leben bleiben sollte oder ich, aber noch mehr darum, ob er am Leben bleiben sollte oder sie, denn wie hätte ich sie in der Gewalt dieses Wahnsinnigen lassen können? So ist er von mir getötet worden. Hatte ich unrecht? Was würde jeder von Ihnen getan haben, meine Herren, wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären?
Sie hatte geschrien, als er sie geschlagen hatte, und dadurch kam die alte Theresa von oben runter. Auf dem Anrichtetisch an der Seite stand eine Flasche Wein, ich machte sie auf und goß etwas davon auf Marys Lippen, denn sie war halb tot vor Schrecken. Dann nahm ich selbst einen Schluck. Theresa war so kalt wie Eis, es war ja ebenso gut ihr Anschlag wie meiner. Wir mussten den Anschein erwecken, als ob’s Einbrecher getan hätten. Theresa wiederholte unsere Geschichte ihrer Herrin immer wieder, während ich mich hinaufschwang und den Klingelzug abschnitt. Dann band ich sie auf dem Stuhl fest und franste das Ende des Taues etwas aus, damit es natürlich, d. h. wie abgerissen aussehen sollte, weil man sich sonst wundern würde, wie ein Dieb hätte dort hinaufkommen können, um es abzuschneiden. Darauf suchte ich ein paar silberne Schalen und Teller zusammen, um den Gedanken an einen Einbruch nahezulegen, und dann verließ ich die beiden mit dem Befehl, wenn ich eine Viertelstunde fort wäre, Lärm zu schlagen. Ich versenkte die Sachen im Teich und machte mich in der Richtung nach Sydenham aus dem Staub; ich hatte das Gefühl, dass ich wenigstens einmal in meinem Leben eine wahrhaft gute Nachtarbeit geleistet hätte. Das ist die Wahrheit, die volle Wahrheit, Mr Holmes, und wenn’s den Kopf kostet.«
Holmes rauchte eine Zeit lang, ohne ein Wort zu äußern. Dann stand er auf, ging auf unseren Besucher zu und schüttelte ihm die Hand.
»Das ist meine Meinung auch«, sagte er zu ihm. »Ich weiß, dass jedes Wort wahr ist, denn Sie haben kaum ein Wort gesagt, das ich nicht wusste. Niemand außer einem Akrobaten oder einem Seemann konnte an den Klingelzug dort oben kommen, und auch nur ein Seemann konnte die Knoten gemacht haben, mit denen das Seil am Stuhl befestigt war. Die Dame war nur ein einziges Mal im Leben mit Seeleuten in Berührung gekommen, das war auf ihrer Reise gewesen, und der Täter musste ihrer eigenen Gesellschaftsklasse angehören, weil sie ihn hartnäckig zu decken suchte und dadurch ihre Liebe verriet. Sie sehen, wie leicht es für mich war, Sie ausfindig zu machen, nachdem ich einmal die Sache richtig angefasst hatte.«
»Ich glaubte, die Polizei würde niemals hinter unsere Schliche kommen.«
»Die Polizei ist ja auch nicht dahintergekommen und wird’s auch nie, wie ich sicher glaube. Aber sehen Sie, Kapitän Croker, es ist eine sehr ernste Sache, wenn ich auch gerne zugebe, dass Sie so stark gereizt waren, wie ein Mann nur gereizt sein kann. Ich weiß nicht genau, ob Ihre Tat als Notwehr angesehen werden würde. Doch das ist vom Gericht zu entscheiden. Auf alle Fälle habe ich soviel Sympathie mit Ihnen, dass, wenn Sie innerhalb vierundzwanzig Stunden verschwinden wollen, Sie niemand daran hindern soll, das verspreche ich Ihnen.«
»Und dann soll alles an den Tag kommen?«
»Gewiss wird’s bekannt werden.«
Der Kapitän wurde rot vor Wut.
»Was ist das für ein Vorschlag für einen Mann? Ich verstehe soviel vom Gesetz, um zu wissen, dass Mary der Beihilfe angeklagt werden würde. Glauben Sie von mir, dass ich sie allein hier im Gefängnis schmachten lassen würde, während ich mich dünn machte? Nein; sie mögen mit mir machen, was sie wollen, aber um Himmels willen, Mr Holmes, finden Sie einen Ausweg, dass meine arme Mary nichts mit dem Gericht zu tun bekommt.«
Holmes schüttelte zum zweiten Mal dem Seemann die Hand.
»Ich wollte Sie nur prüfen; aber Sie bleiben stets wahr. Ich nehme zwar eine große Verantwortung auf mich, doch ich habe Hopkins ja einen guten Wink gegeben, wenn er ihn nun nicht auszunützen versteht, kann ich ihm weiter nicht helfen. Nun, Herr Kapitän, um der Form des Gesetzes zu genügen, wollen wir Folgendes tun. Sie sind der Angeklagte. Watson, Sie sind ein britischer Geschworener, und ich kann mir übrigens keine passendere Persönlichkeit zu dieser Würde vorstellen. Ich selbst werde den Richter spielen. Nun, Herr Geschworener, Sie kennen die Beweisaufnahme. Halten Sie den Angeklagten für schuldig oder nichtschuldig?«
»Nicht schuldig!«, lautete mein Wahrspruch.
»Des Volkes Stimme, Gottes Stimme! Sie sind freigesprochen, Kapitän Croker. Solange das Gesetz in der Sache kein unschuldiges Opfer verurteilt, haben Sie von mir aus nichts zu befürchten. Kehren Sie in einem Jahr zu dieser Dame zurück, und möge uns Ihre beiderseitige Zukunft beweisen, dass wir heute Abend ein gutes und wahres Urteil gefällt haben.«