DIE TANZENDEN MÄNNCHEN

Sherlock Holmes hatte stundenlang über eine Porzellanschale gebeugt gesessen, in der er ein besonders übelriechendes chemisches Erzeugnis braute. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, und der lange, schmale Rücken war so gekrümmt, dass die Gestalt meines Freundes einem schlanken Vogel mit grauem Gefieder und schwarzer Haube glich.

»Sie wollen also keine südafrikanischen Papiere kaufen, Watson?«, sagte er urplötzlich.

Ich konnte mein Erstaunen über diese Frage nicht unterdrücken. Obgleich er mir schon häufig Beweise bewundernswerter Fähigkeiten gegeben hatte, war mir doch dieses Erraten meiner innersten Gedanken gänzlich unfassbar.

»Woher in aller Welt wissen Sie das?«, fragte ich ihn.

Holmes drehte sich auf seinem Stuhl um. Er hatte ein rauchendes Reagenzröhrchen in der Hand, und seine tiefliegenden Augen zeigten eine vergnügte Stimmung an.

»Nun, Watson, Sie sind überrascht?«, sagte er.

»Das bin ich allerdings.«

»Dieses Zugeständnis sollte ich mir eigentlich schriftlich von Ihnen geben lassen.«

»Warum?«

»Weil Sie in fünf Minuten sagen werden, auf diesen Gedanken zu kommen, sei ungeheuer einfach gewesen.«

»Das werde ich sicher nicht sagen.«

»Passen Sie mal auf, mein lieber Watson«, er steckte das Probierröhrchen in das Gestell und begann mit der Miene eines Lehrers zu reden, der zu seinen Schülern spricht, »es ist tatsächlich nicht so schwer, eine Reihe von Schlüssen zu ziehen, von denen jeder aus dem vorhergehenden folgt und von denen jeder einzelne sehr leicht ist. Wenn man das tut und dann die mittleren weglässt und seinen Zuhörern nur den ersten und letzten sagt, so kann man eine verblüffende, mitunter eine geradezu wunderbare Wirkung erzielen. So war es wahrhaftig keine Kunst, an Ihrem linken Zeigefinger und Daumen zu erkennen, dass Sie die Absicht, Ihr kleines Vermögen in afrikanischen Minenwerten anzulegen, aufgegeben haben.«

»Hier sehe ich keinerlei Verbindung.«

»Das ist wohl möglich, aber ich kann Ihnen schnell die einzelnen Glieder der Kette der Reihe nach zeigen. Erstens: Als Sie gestern Abend aus dem Klub kamen, hatten Sie Kreidespuren an Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Zweitens: Das ist nur der Fall, wenn Sie Billard gespielt und den Stock mit Kreide bestrichen haben. Drittens: Sie spielen nur mit Thurston Billard. Viertens: Sie erzählten mir vor vier Wochen, dass Thurston südafrikanische Aktien, die nach einem Monat ausgegeben würden, zu kaufen gedenke und Sie sich daran beteiligen wollten. Fünftens: Ihr Scheckbuch ist in meinem Schrank eingeschlossen, und Sie haben bis heute noch nicht nach dem Schlüssel gefragt. Sechstens: Sie haben also die Absicht aufgegeben, Ihr Geld in diesen Werten anzulegen.«

»Wie ungeheuer einfach!«, rief ich unwillkürlich aus.

»Genau, wie ich gesagt hatte«, fuhr mein Freund etwas ärgerlich fort. »Jedes Problem erscheint Ihnen kinderleicht, nachdem man es Ihnen erklärt hat. Hier habe ich aber eins, das noch nicht erklärt ist. Sehen Sie, was Sie damit machen können, alter Freund.« Er warf mir ein Blatt Papier auf den Tisch und wandte sich wieder seiner chemischen Analyse zu.

Ich betrachtete erstaunt die merkwürdigen Hieroglyphen auf dem Papier.

»Ach, Holmes«, rief ich, »das hat ein Kind gemacht!«

»Das ist Ihre Ansicht!«

»Was soll es denn sonst sein?«

»Ja, das möchte Mr Hilton Cubitt aus Riding in Norfolk auch gerne wissen. Das kleine Rätsel ist mit der ersten Post eingelaufen, und der Absender selbst will mit dem nächsten Zug kommen ... Es klingelt, Watson, und es sollte mich gar nicht überraschen, wenn er es schon wäre.«

Auf der Treppe wurden schwere Tritte hörbar, und im nächsten Augenblick machte ein großer, frisch aussehender Herr mit glattrasiertem Gesicht unsere Stubentür auf. Seine klaren Augen und seine blühende Gesichtsfarbe sagten uns, dass er gewiss keinen Beruf habe, der ihn an die Stadt fesselte. Er schien bei seinem Eintritt einen Hauch der kräftigen, nervenstärkenden Seeluft seiner Heimat mitzubringen. Als er jedem von uns die Hand geschüttelt hatte und Platz nehmen wollte, fiel sein Blick auf das Papier mit den sonderbaren Zeichen, das ich eben in der Hand gehabt und wieder auf den Tisch gelegt hatte.

»Nun, Mr Holmes, was meinen Sie dazu?«, rief er mit markiger Stimme aus. »Man hat mir erzählt, dass Ihnen solche rätselhaften Sachen Spaß machen, und ich glaube kaum, dass es eine rätselhaftere gibt als diese. Ich habe den Zettel vorausgeschickt, damit Sie ihn vor meiner Ankunft studieren könnten.«

»Es ist wirklich eine seltsame Schreiberei«, erwiderte Holmes. »Auf den ersten Blick könnte man es für das Gekritzel eines Kindes halten. Es besteht aus einer Anzahl kleiner Figuren, die über das Papier tanzen. Warum legen Sie diesem dummen Zeug überhaupt eine besondere Bedeutung und so große Wichtigkeit bei?«

»Mir würde es gar nicht einfallen, aber meine Frau tut’s. Sie ist darüber zu Tod erschrocken. Sie sagt zwar nichts, ich kann ihr aber die Furcht aus den Augen ablesen, und darum möchte ich der Sache auf den Grund gehen.«

Holmes nahm den Zettel und hielt ihn gegen das helle Tageslicht. Es war ein Blatt aus einem Notizbuch. Die Zeichen waren mit Bleistift gemacht und sahen ungefähr so aus:

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Holmes prüfte das Blatt eine Zeitlang, faltete es dann sorgfältig zusammen und legte es in ein Notizbuch.

»Es verspricht ein äußerst interessanter und ungewöhnlicher Fall zu werden«, sagte er. »Sie haben mir in Ihrem Brief bereits einige nähere Angaben gemacht, es würde mir aber angenehm sein, wenn Sie im Interesse meines Freundes Doktor Watson hier das Ganze noch einmal im Zusammenhang erzählen wollten.«

»Ich bin durchaus kein glänzender Erzähler«, sagte unser Besucher und rieb sich nervös die großen, kräftigen Hände; »Sie müssen mich fragen, wenn ich die Sache nicht ordentlich klar mache. Ich muss mit meiner Verehelichung im vorigen Jahr anfangen. Ich will nur vorausschicken, dass, wenn ich auch kein reicher Mann bin, meine Vorfahren doch seit fünfhundert Jahren in Riding ansässig sind und meine Familie die bekannteste in der ganzen Grafschaft ist. Vergangenes Jahr kam ich zum Jubiläum nach London herauf und logierte in einem Haus am Russell Square, weil der Geistliche unserer Gemeinde, Pastor Parker, auch da wohnte. Dort war auch eine junge Amerikanerin – namens Patrick – Elsie Patrick. Wir befreundeten uns, und ehe ein Monat um war, war ich so in sie verliebt, wie es ein Mann nur sein kann. Wir ließen uns in aller Stille trauen und kehrten als junges Ehepaar nach Norfolk zurück. Es wird Ihnen als recht leichtsinnig erscheinen, Mr Holmes, dass ein Mann aus einer guten, alten Familie sich in dieser Weise eine Frau nimmt, das heißt, ohne etwas über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit zu wissen; wenn Sie sie aber sähen und näher kennen würden, würden Sie es begreiflich finden.

Sie war sehr offen in dieser Beziehung, die Elsie. Sie hielt wahrhaftig nicht damit hinterm Berg, als ich sie fragte. ›Ich habe sehr unangenehme Verhältnisse in meinem Leben durchgemacht‹, antwortete sie, ›ich suche sie zu vergessen. Ich spreche nicht gerne davon, denn es ruft stets peinliche Erinnerungen in mir wach. Wenn du mich zur Frau nimmst, bekommst du eine, die nichts auf dem Gewissen hat, dessen sie sich persönlich zu schämen braucht; aber du musst dich mit meinem Wort zufrieden geben und mir versichern, dass du mich über das, was bis zu meiner Verheiratung vorgefallen ist, nicht fragen wirst. Wenn du diese Bedingungen nicht einhalten zu können glaubst, so gehst du lieber allein nach Norfolk und lässt mich das einsame Leben weiterführen, das ich bisher geführt habe.‹ Erst am Tag vor der Hochzeit sprach sie in dieser Weise zu mir. Ich antwortete darauf, dass ich sie unter der von ihr gestellten Bedingung nehmen wollte und habe mein Wort seither gehalten.

Wir sind nun ein Jahr verheiratet und haben sehr glücklich miteinander gelebt. Doch vor etwa einem Monat, Ende Juni, bemerkte ich die ersten Anzeichen einer Veränderung in unserem Verhältnis. Eines Tages bekam meine Frau aus Amerika einen Brief. Ich erkannte die amerikanische Marke. Elsie wurde leichenblass, las das Schreiben und warf es ins Feuer. Sie erwähnte die Sache später mit keinem Wort, und ich fing auch nicht davon an, denn versprochen bleibt versprochen; aber sie hat seit jener Zeit keine vergnügte Stunde mehr gehabt. Ihr Gesicht verrät stets eine gewisse Angst, sie sieht aus, als ob sie etwas Schlimmes befürchte. Es wäre besser, wenn sie sich mir anvertraute. Sie würde in mir ihren besten Freund finden. Aber wenn sie sich nicht selbst zu reden entschließt – ich darf den Anfang nicht machen. Wohlverstanden, sie ist ein treues Weib, Mr Holmes, und was auch früher vorgefallen sein mag, sie trägt sicher nicht die Schuld daran. Ich bin ein einfacher Gutsbesitzer in Norfolk, aber in ganz England hält niemand seine Familie höher als ich. Das weiß sie sehr genau, und sie wusste es auch bereits vor unserer Heirat. Sie würde nie einen Makel darauf geladen haben – dessen bin ich sicher.

Ich komme nun erst auf den Kern der ganzen beunruhigenden Angelegenheit, auf den Teil, zu dessen Lösung ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Vor ungefähr acht Tagen – es war am Dienstag voriger Woche – entdeckte ich auf einer Fensterschwelle eine Anzahl kleiner tanzender Figuren, wie die hier auf dem Papier. Sie waren mit Kreide drauf gekritzelt. Ich dachte, der Stalljunge wäre es gewesen, er schwor jedoch, nichts davon zu wissen. Wie dem auch sein mochte, sie waren während der Nacht dahingekommen. Ich wischte sie aus und erwähnte es meiner Frau gegenüber erst später. Zu meiner Überraschung nahm sie die Sache sehr ernst und bat mich, wenn ich wieder welche fände, sie ihr gleich zu zeigen. Eine Woche lang erschien kein neues Männchen, aber gestern Morgen lag dieses Papier hier auf der Sonnenuhr im Garten. Ich gab es Elsie, und sie fiel in Ohnmacht. Seitdem trägt sie ein ganz träumerisches Wesen zur Schau, ist vollkommen verstört, und die Furcht guckt ihr aus beiden Augen. Ich schrieb sofort an Sie, Mr Holmes, und legte den Zettel bei. Ich konnte die Sache nicht der Polizei übergeben, denn sie würde mich ausgelacht haben, aber Sie werden mir raten können, was ich tun soll. Ich bin kein reicher Mann; aber wenn meiner Frau Unheil droht, bin ich bereit, den letzten Heller zu opfern.«

Er war eine sympathische Erscheinung, dieser Mann von altem Schrot und Korn, einfach, gerade und edel, mit treuen, blauen Augen und einem offenen, hübschen Gesicht. Die Liebe und das Vertrauen zu seiner Frau sprachen aus seinen Zügen und aus seinen Äußerungen. Holmes hatte der Erzählung aufmerksam zugehört und saß, in Nachdenken versunken, schweigend auf seinem Stuhl.

»Meinen Sie nicht, Mr Cubitt«, sagte er nach einiger Zeit, »dass es die beste Lösung wäre, wenn Sie sich direkt mit Ihrer Frau verständigen und sie bäten, Ihnen ihr Geheimnis anzuvertrauen?«

Hilton Cubitt schüttelte sein Haupt.

»Versprechen bleibt Versprechen, Mr Holmes. Wenn mir’s Elsie mitteilen wollte, würde sie es freiwillig tun. Wenn sie es nicht will, kann ich sie nicht zwingen. Aber das Recht habe ich, anderweitig die nötigen Schritte zur Aufklärung der Sache zu tun – und das will ich.«

»Dann will ich Ihnen mit allen Kräften beistehen. Also vor allen Dingen, haben Sie etwas von Fremden in Ihrer Nachbarschaft gesehen oder gehört?«

»Nein.«

»In Ihrer Heimat ist doch wohl wenig Verkehr, sodass jedes fremde Gesicht auffallen würde?«

»In der unmittelbaren Umgebung, ja. Aber etwas weiter ab liegen kleine Badeorte, deren Bewohner im Sommer Gäste aufnehmen.«

»Diese Hieroglyphen sind sicher nicht ohne Bedeutung. Wenn sie rein willkürlich gewählt sind, wird es kaum möglich sein, sie zu entziffern. Liegt dagegen ein System darin, so zweifle ich nicht, dass wir eine Lösung finden werden. Das vorliegende Muster ist jedoch zu klein, um etwas damit anfangen zu können, und die Tatsachen, die Sie uns erzählt haben, sind zu unbestimmt, um eine sichere Unterlage für die weitere Untersuchung abgeben zu können. Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, jetzt nach Norfolk zurückzukehren, genau auf alles aufzupassen und irgendwelche neuen tanzenden Männchen getreu nachzuzeichnen. Es ist außerordentlich schade dass wir keine Abschrift der ersten Zeichen haben, die mit Kreide auf das Fenster geschrieben waren. Erkundigen Sie sich auch vorsichtig nach etwaigen Fremden in der Umgebung. Sobald Sie etwas Neues in Erfahrung gebracht haben, kommen Sie gleich wieder zu mir. Einen anderen Rat kann ich Ihnen vorläufig nicht geben, Mr Cubitt. In dringenden Fällen bin ich stets bereit, hinunterzufahren und Sie aufzusuchen.«

Nach diesem Interview war mein Freund sehr nachdenklich, und im Laufe der nächsten Tage sah ich ihn wiederholt das Blättchen Papier aus dem Notizbuch nehmen und lange und ernst die merkwürdigen Zeichen betrachten. Er sprach jedoch nie wieder von dieser Angelegenheit, bis ich, nach vierzehn Tagen oder noch später, ausgehen wollte und er mir plötzlich zurief:

»Sie würden besser hier bleiben, Watson.«

»Warum?«

»Weil ich heute morgen von Cubitt – Sie erinnern sich doch noch des Mannes mit den tanzenden Figuren? – ein Telegramm erhalten habe. Er will ein Uhr zwanzig auf der Station Liverpool Street ankommen und muss also jeden Augenblick hier sein. Ich schließe aus der Depesche, dass er wichtige Nachrichten mitbringen wird.«

Es dauerte gar nicht lange, als unser Norfolker Kunde auch schon im schnellsten Tempo in einer Droschke vorgefahren kam. Er sah niedergeschlagen und abgespannt aus, die klaren Augen waren trübe, und die heitere Stirn war in Falten gezogen.

»Die Geschichte fällt mir allmählich an die Nerven, Mr Holmes«, begann er und ließ sich ermattet in einen Lehnstuhl sinken. »Es ist schon ein ziemlich unbehagliches Gefühl, sich heimlich von unbekannten Menschen umgeben zu wissen, die etwas gegen einen im Schilde führen; wenn man aber zudem mitansehen muss, wie die eigene Frau dabei zugrunde geht, wird die Sache nachgerade unerträglich. Sie wird immer siecher, zusehends siecher.«

»Hat sie noch nichts geäußert?«

»Nein, Mr Holmes, kein Wort. Und doch hat das arme Weib manchmal das Bedürfnis gehabt zu sprechen – ich hab’s ihr angesehen –, aber sie hat’s nicht über sich gebracht. Ich hab’s ihr erleichtern wollen, aber ich muss sagen, ich hab’s so ungeschickt angefangen, dass ich’s ihr vielmehr erschwert und sie davon abgebracht habe. Sie redete von meiner alten Familie, von unserem guten Ruf in der Grafschaft und von unserem Stolz auf unsere unbefleckte Ehre. Ich merkte, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, aber auf einmal sprang sie von diesem Thema ab, ohne zu Ende gekommen zu sein.«

»Aber Sie haben für sich neue Entdeckungen gemacht?«

»Mancherlei, Mr Holmes. Ich bringe Ihnen hier verschiedene tanzende Männchen zur Prüfung mit, und, was das Wichtigste ist, ich habe den Kerl gesehen!«

»Was, den Schreiber der Figuren?«

»Jawohl, ich habe ihn bei der Arbeit beobachtet. Aber ich will Ihnen alles in der richtigen Reihenfolge berichten. Als ich nach dem Besuch bei Ihnen nach Hause zurückgekehrt war, fand ich gleich am nächsten Morgen wieder neue tanzende Männchen. Sie waren mit Kreide an das schwarze hölzerne Tor des Wagenschuppens gezeichnet, die man von den vorderen Fenstern unseres Wohnhauses gerade vor Augen hat. Ich habe sie genau nachgemacht, hier ist die Kopie.« Er faltete einen Zettel auseinander und legte ihn auf den Tisch. Die Zeichen sahen folgendermaßen aus:

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»Ausgezeichnet!«, sagte Holmes. »Ausgezeichnet! Bitte fahren Sie fort.«

»Nachdem ich die Abschrift genommen hatte, löschte ich die Dinger aus; am übernächsten Morgen war jedoch wieder eine neue Serie dort, deren Kopie ich hier habe.«

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Holmes rieb sich die Hände und lachte vor Vergnügen über die günstige Weiterentwicklung.

»Unser Material mehrt sich erfreulich schnell«, sagte er.

»Drei Tage darauf fand ich wieder ein Blatt Papier mit den rätselhaften Figuren an der Sonnenuhr. Ich habe es hier. Es sind, wie Sie sehen, genau dieselben Zeichen darauf, wie auf dem letzten. Nun entschloss ich mich endlich, dem Schreiber aufzulauern. Ich nahm meinen Revolver und setzte mich in mein Zimmer, von dem aus ich den Hof auf den Garten überblicken kann. Im Zimmer hatte ich kein Licht, draußen war es mondhell. Als ich so gegen zwei Uhr nachts am Fenster saß, hörte ich Schritte; es war meine Frau im Schlafgewand. Sie bat mich inständig, zu Bett zu gehen. Ich erklärte ihr frei heraus, dass ich den Menschen sehen wollte, der ein so eigentümliches Spiel mit uns trieb. Sie antwortete, es handle sich nur um einen schlechten Scherz, und ich solle gar keine Notiz davon nehmen.

›Wenn es dich beunruhigt, Hilton, können wir ja zusammen verreisen und uns so dieser Störung entziehen.‹

›Was, uns von einem üblen Witzbold aus unserem eigenen Haus treiben lassen?‹, erwiderte ich. ›Die ganze Nachbarschaft würde uns ja auslachen.‹

›Wir können morgen früh weiter darüber reden, komm jetzt bitte zu Bett‹, versetzte sie zärtlich.

Während sie noch sprach, sah ich im Mondschein ihr bleiches Gesicht plötzlich noch bleicher werden. Im Schatten des Schuppens bewegte sich etwas. Eine dunkle Gestalt kroch um die Ecke und kauerte vor dem Tor nieder. Ich ergriff meine Waffe und wollte hinausstürzen. Aber meine Frau schlang die Arme um mich und hielt mich krampfhaft fest. Ich versuchte, sie abzuschütteln, sie ließ aber nicht los. Endlich machte ich mich frei, aber ehe ich zur Tür hinauskam und das Gebäude erreichte, war der Kerl verschwunden. Er hatte jedoch eine Spur hinterlassen; an dem Tor befand sich wieder dieselbe Reihe tanzender Figuren wie die beiden vorhergehenden Male und wie ich sie auf jenem Blatt nachgezeichnet habe. Sonst war nichts von ihm zu sehen, obwohl ich das ganze Gelände absuchte. Das ist um so auffallender, als er sich auch später noch in der Nähe aufgehalten haben muss, denn als ich am Morgen das Tor wieder untersuchte, hatte er unter die Zeile, die ich bereits gesehen hatte, neue Zeichen gesetzt.«

»Haben Sie diese frischen Figuren auch kopiert?«

»Ja, es sind nur wenige; hier sind sie.«

Er zog abermals ein Papier aus der Tasche, das folgende Zeichen enthielt:

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»Sagen Sie mal«, fragte Holmes, dem ich die starke Erregung an den Augen ansehen konnte, »war dies ein bloßer Zusatz zu der ersten Reihe, oder machte es den Eindruck, als ob es gar nicht dazugehörte?«

»Es stand auf einem ganz anderen Teil des Tores.«

»Großartig! Das ist von der größten Bedeutung zur Erreichung unseres Zweckes. Es erfüllt mich mit neuen Hoffnungen. Nun erzählen Sie weiter, Mr Cubitt.«

»Ich kann nur noch hinzufügen, Mr Holmes, dass ich auf meine Frau sehr böse war, weil sie mich in jener Nacht daran gehindert hatte, den heimtückischen Burschen womöglich in meine Gewalt zu bekommen. Sie sagte zwar, sie hätte sich gefürchtet, es möchte mir ein Leid geschehen, aber einen Augenblick kam mir der Gedanke, dass sie in Wirklichkeit gefürchtet haben möchte, dass er Schaden nehme, denn ich konnte nicht daran zweifeln, dass sie den Mann und auch die Bedeutung dieser Zeichen kannte. Doch in der Stimme meiner Frau lag ein Klang und in ihren Augen ein Ausdruck, der alle Zweifel verscheuchte, und ich bin jetzt wieder der festen Überzeugung, Mr Holmes, dass sie tatsächlich um mein eigenes Wohl besorgt war. – Ich habe Ihnen hiermit den ganzen Fall genau dargestellt und bitte Sie nun um Ihren Rat, was zu tun ist. Ich selbst möchte am liebsten ein halbes Dutzend meiner Leute aufstellen und dem Kerl, wenn er wiederkommt, eine so derbe Lektion erteilen lassen, dass er uns in Zukunft in Frieden lässt.«

»Ich fürchte, dieser Fall ist schon zu weit vorgeschritten und nicht mehr durch eine so einfache Kur zu heilen«, sagte Holmes. »Wie lange können Sie in London bleiben?«

»Ich muss heute wieder zurück, unbedingt. Ich möchte meine Frau um alles in der Welt nicht allein lassen während der Nacht. Sie ist sehr nervös und bat mich dringend zurückzukehren.«

»Wenn’s so steht, kann ich Ihnen nur recht geben. Aber wenn Sie einen oder zwei Tage Zeit gehabt hätten, wäre ich vielleicht mit Ihnen nach Hause gefahren. Lassen Sie mir alle diese Zettel unterdessen hier. Ich denke, ich werde Ihnen höchstwahrscheinlich in Kürze einen Besuch machen und einiges Licht in diese dunkle Sache bringen können.«

Holmes bewahrte während der Anwesenheit unseres Besuchers seine geschäftliche Ruhe, obgleich er stark erregt war, wie ich wohl merkte. Sobald aber Hilton Cubitts breiter Rücken in der Tür verschwunden war, schritt er schnell zum Schreibtisch, breitete die sämtlichen Papierzettel darauf vor sich aus und begann eine schwierige und mühsame Berechnung. Zwei Stunden lang beobachtete ich ihn, wie er ein Blatt nach dem anderen mit Figuren und Zeichen beschrieb und so sehr in die Arbeit vertieft war, dass er meine Gegenwart augenscheinlich ganz vergessen hatte. Manchmal, wenn es mit seiner Lösung vorwärts ging, fing er an zu pfeifen und zu singen, manchmal, wenn er in Verlegenheit kam, sah er längere Zeit mit gerunzelter Stirn starr vor sich hin. Endlich sprang er mit einem Ausruf der Befriedigung vom Stuhl auf und ging, sich die Hände reibend, im Zimmer auf und ab. Dann nahm er ein Depeschenformular und setzte ein langes Telegramm auf. »Wenn ich darauf die gewünschte Antwort erhalte, werden Sie einen sehr hübschen Fall für Ihre Sammlung bekommen, Watson«, sagte er dann zu mir. »Ich hoffe, dass wir morgen nach Norfolk hinunterfahren können, um unserem Freund endgültig Bescheid bezüglich seiner Kümmernis zu bringen.«

Ich muss gestehen, dass ich neugierig war. Da ich aber wusste, dass Holmes seine Enthüllungen zu seiner Zeit und auf seine eigene Weise bekannt zu geben pflegte, wartete ich geduldig, bis es ihm passen würde, mich ins Vertrauen zu ziehen.

In der Beantwortung des Telegramms trat jedoch eine Verzögerung ein. Es folgten zwei Tage, in denen Holmes sehr ungeduldig war und bei jedem Klingeln emporfuhr. Am Abend des zweiten Tages traf dagegen wieder eine Nachricht von Cubitt ein. Es sei alles ruhig geworden, nur heute Morgen habe er an der Sonnenuhr eine lange Reihe tanzender Männchen gefunden. Er legte eine Abschrift davon bei. Sie sah folgendermaßen aus:

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Holmes beugte sich einige Minuten über diese seltsamen Zeichen, dann stieß er plötzlich einen Schrei der Überraschung und des Entsetzens aus. Sein Gesicht war ganz entstellt vor Schrecken.

»Wir haben der Sache nun lange genug ihren Lauf gelassen«, sagte er, »es ist höchste Zeit, dass wir einschreiten. Geht heute Nacht noch ein Zug nach North Walsham?«

Ich sah sofort auf dem Fahrplan nach. Der letzte war gerade abgegangen.

»Dann müssen wir morgen bald frühstücken und gleich den ersten Zug benutzen. Unsere Anwesenheit ist dringend nötig. Aha, hier kommt auch die erwartete Depesche. Einen Augenblick, Mrs Hudson, vielleicht muss ich darauf antworten. Nein, es ist gut so. Diese Nachricht zeigt noch deutlicher, dass wir keine Minute Zeit verlieren dürfen, um Cubitt vom Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen. Der gute Mann ist in ein gefährliches Netz geraten.«

Tatsächlich erwies es sich so. Und auch jetzt, wo ich nun das Ende dieser tragischen Geschichte erzählen muss, die mir anfangs kindisch und töricht erschienen war, empfinde ich wieder von neuem jenen Schauder und Schrecken, der mir damals durch die Glieder ging. Ich wünschte, meinen Lesern einen glücklichen Ausgang berichten zu können. Ich muss jedoch den Vorgang so schildern, wie er sich wirklich zugetragen hat, und darf auch das schreckliche Ende nicht verschweigen, das Riding eine Zeitlang zu einer traurigen Berühmtheit verholfen hat.

Wir waren kaum in North Walsham ausgestiegen und hatten einen Wagen zu unserer Weiterreise bestellt, als der Stationsvorstand auf uns zueilte und uns anredete:

»Ich vermute, dass Sie die Londoner Geheimpolizisten sind?«

Holmes war durch diese Frage unangenehm berührt.

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil Inspektor Martin aus Norwich auch eben durchgekommen ist. Vielleicht sind Sie auch die Ärzte. Sie ist nicht tot – wenigstens nach den letzten Nachrichten noch nicht. Möglicherweise treffen Sie noch rechtzeitig ein, um sie vom Tod zu retten – wenn’s auch nur für den Galgen ist.«

Holmes’ Antlitz verfinsterte sich.

»Wir wollen allerdings nach Riding«, sagte er, »aber von dem, was sich nach Ihren Reden dort zugetragen hat, haben wir noch nichts gehört.«

»Ein furchtbares Blutbad«, fuhr der Bahnhofsvorsteher fort, »sie sind beide erschossen, Mr Cubitt und seine Frau. Sie hat ihn erschossen und dann sich selbst – wenigstens sagt das Personal so aus. Er ist bereits gestorben, und sie schwebt in Lebensgefahr. Heiliger Herr! Eine der ältesten und geachtetsten Familien in der ganzen Grafschaft.«

Ohne ein Wort zu verlieren sprang Holmes in den Wagen. Er sprach während der ganzen Fahrt kein Wort. Ich habe ihn selten in einer so verzweifelten Stimmung gesehen. Er war schon von Anfang an unruhig gewesen, und hatte, wie mir nicht entgangen war, die Morgenzeitungen ängstlich durchblättert; aber diese plötzliche Verwirklichung seiner schlimmsten Befürchtungen hatte ihn vollends niedergedrückt. Er saß zurückgelehnt in seiner Ecke und war in düsteres Nachdenken versunken, obgleich es vielerlei Interessantes zu sehen gab, denn wir fuhren durch eine der schönsten und eigenartigsten Gegenden in ganz England. Kleine, zerstreut liegende Häuschen waren aus der heutigen Zeit, während die gewaltigen Kirchen mit den viereckigen Türmen, die sich zu beiden Seiten des Weges aus der flachen, grünen Landschaft hervorhoben, von dem Reichtum und der Macht Alt-Englands Zeugnis ablegten. Endlich sah man hinter der grünen Küste von Norfolk die blauen Fluten der Nordsee auftauchen, und der Kutscher zeigte mit der Peitsche auf zwei alte Giebel aus Stein- und Holzfachwerk, die hinter einem Hain hervorlugten. »Das ist Riding«, sagte er.

Als wir durch das Parktor die Allee entlangfuhren, erblickte ich gerade vor uns den alten Wagenschuppen und die Sonnenuhr, an die sich so merkwürdige Beziehungen knüpften. Aus einem Jagdwagen war eben ein flinker, kleiner Mann mit einem großen, gewichsten Schnurrbart gestiegen. Er stellte sich uns selbst als Inspektor Martin von der Norfolker Kriminalpolizei vor und zeigte sich nicht wenig erstaunt, als er den Namen meines Gefährten hörte.

»Ei, Mr Holmes, das Verbrechen ist erst heute Nacht um drei Uhr verübt worden, wie konnten Sie das schon in London wissen und ebenso früh am Tatort eintreffen wie ich?«

»Ich ahnte es. Ich kam in der Absicht, es zu verhüten.«

»Dann müssen Sie Material haben, das wir nicht kennen; denn soviel uns gesagt worden ist, hat das Ehepaar sehr einig gelebt.«

»Ich kenne nur die Geschichte von den tanzenden Männchen«, erwiderte Holmes. »Ich werde Ihnen das später auseinandersetzen. Zunächst will ich, da ich das Unglück nicht habe verhüten können, diese meine Kenntnis benutzen, um den Täter zu ermitteln. Wollen Sie mich bei diesen Nachforschungen unterstützen, oder wollen Sie lieber unabhängig von mir vorgehen?«

»Es würde mich außerordentlich freuen, wenn ich mit Ihnen zusammenarbeiten dürfte, Mr Holmes«, antwortete der Inspektor ernst.

»Dann wollen wir unverzüglich den Tatbestand aufnehmen und danach gleich mit den Vorarbeiten anfangen.«

Inspektor Martin war so vernünftig, meinen Freund allein gewähren zu lassen und sich damit zu begnügen, die Ergebnisse sorgfältig aufzuzeichnen. Der Arzt des Ortes, ein älterer Herr mit weißem Haar und Bart, kam gerade aus dem Zimmer der Mrs Cubitt. Er teilte uns mit, dass ihre Verletzungen zwar schwer, aber nicht unbedingt tödlich seien. Die Kugel sei durch das Stirnbein ins Gehirn gedrungen und es würde voraussichtlich längere Zeit dauern, bis sie das Bewusstsein wiedererlangte. Auf die Frage, ob sie erschossen worden sei oder sich selbst erschossen habe, wagte er keine bindende Antwort zu geben. Es sei nur so viel sicher, dass die Kugel aus unmittelbarer Nähe gekommen sei. Im Zimmer sei nur ein Revolver gefunden worden, aus dem zwei Kugeln abgefeuert worden seien. Mr Cubitt sei mitten ins Herz getroffen. Es wäre ebenso gut denkbar, dass er sie zuerst und dann sich selbst getötet habe, denn die Schusswaffe läge auf dem Boden in der Mitte zwischen beiden.

»Ist die Leiche schon von der Stelle geschafft worden?«, fragte Holmes.

»Nur die schwerverwundete Frau wurde weggetragen, denn man konnte sie unmöglich auf dem Boden liegen lassen.«

»Wie lange sind Sie schon hier, Herr Doktor?«

»Seit vier Uhr.«

»Ist sonst noch jemand hier?«

»Ja, der Polizeidiener.«

»Und Sie haben nichts angefasst?«

»Gar nichts.«

»Dann sind Sie sehr vernünftig gewesen. Wer hat Sie holen lassen?«

»Das Hausmädchen Saunders.«

»Hat sie Lärm geschlagen?«

»Sie und die Köchin, Miss King.«

»Wo sind die Mädchen jetzt?«

»Ich glaube, in der Küche.«

»Dann wollen wir sie sofort verhören.«

Die alte Vorhalle mit Eichenholztäfelung und den hohen Fenstern wurde in einen Gerichtssaal verwandelt. Holmes nahm auf einem großen altmodischen Lehnstuhl Platz. Er war ernst und niedergeschlagen, aber in seinem Blick lag Trotz und Unerbittlichkeit. Ich konnte in seinen Augen den festen Vorsatz lesen, dass er seinen Kunden, den er leider nicht gerettet hatte, wenigstens unter allen Umständen rächen wollte. Der Inspektor, der alte grauhaarige Landdoktor, ein Ortspolizist und ich bildeten die Beisitzer dieses eigenartigen Gerichtshofes.

Die beiden Mädchen gaben eine ziemlich klare Darstellung des Vorfalls. Sie waren durch einen lauten Knall aus dem Schlaf aufgeweckt worden; kurz darauf hatten sie einen zweiten gehört. Sie schliefen in zwei aneinanderstoßenden Kammern. Miss King war zur Saunders gestürzt und sie waren zusammen die Treppe hinuntergelaufen. Die Tür des Arbeitszimmers stand offen, und auf dem Tisch brannte eine Kerze. Ihr Herr lag mitten im Zimmer auf dem Fußboden, das Gesicht nach unten gekehrt. Er war tot. In der Nähe des Fensters lag seine Frau, mit dem Kopf an die Wand gelehnt. Sie hatte eine furchtbare Verwundung, und ihre eine Seite war ganz von Blut überströmt. Sie gab noch Lebenszeichen von sich, konnte aber nicht sprechen. Das Fenster war zu und von innen geschlossen. In diesem Punkt stimmten die Aussagen beider Mädchen vollständig überein. Sie hatten sofort zum Arzt und zur Polizei geschickt. Dann hatten sie mit Hilfe des Dieners und des Stallburschen ihre verwundete Herrin in ihr Zimmer gebracht. Beide Ehegatten hatten vorher das Bett benutzt. Die Frau war angekleidet, der Mann hatte über den Unterkleidern seinen Schlafrock an. Im Arbeitszimmer war nichts angerührt, es stand noch jedes Ding an seinem Platz. Soweit die Mädchen wussten, hatten die Eheleute im besten Einvernehmen gelebt und allgemein als ein sehr glückliches Paar gegolten.

Das waren die hauptsächlichsten Angaben. Auf eine Frage des Inspektors Martin konnten sie bestimmt behaupten, dass alle Haustüren von innen geschlossen gewesen waren und niemand aus dem Haus entwischt sein konnte. Holmes antworteten sie, dass ihnen, sobald sie aus ihren Zimmern auf den Flur gestürzt seien, augenblicklich ein starker Pulvergeruch aufgefallen sei. »Auf diesen Punkt mache ich Sie ganz besonders aufmerksam«, sagte Holmes zu seinem Berufsgenossen Martin. »Und nun können wir uns, glaube ich, an die Untersuchung des Zimmers begeben.«

Das Arbeitszimmer des Mr Cubitt war nicht allzu groß; an drei Wänden standen Bücherregale, an einem gewöhnlichen Fenster stand ein Schreibtisch. Von hier aus konnte man den Hof und den Garten überschauen. Unsere erste Aufmerksamkeit galt der Leiche des unglücklichen Besitzers, dessen Körper ausgestreckt am Boden lag. Daraus, dass seine Kleidung nicht ganz geordnet war, konnte man entnehmen, dass er Eile gehabt hatte. Die Kugel war von vorne gekommen und, nachdem sie das Herz durchbohrt hatte, im Körper stecken geblieben. Der Tod musste augenblicklich und schmerzlos eingetreten sein. Weder sein Schlafrock noch seine Hände zeigten irgendwelche Pulverspuren. Nach Aussage des Arztes waren dagegen im Gesicht der Frau solche Flecken wahrnehmbar, an ihren Händen dagegen nicht.

»Das Fehlen dieser Flecken beweist nichts, wenn auch ihr Vorhandensein sehr vielsagend ist«, bemerkte Holmes. »Ich glaube, wir können Mr Cubitts Leiche wegtragen lassen. Die Kugel, welche die Frau getroffen hat, haben Sie wohl nicht gefunden, Herr Doktor?«

»Dazu ist eine schwierige Operation nötig. Aber im Revolver stecken noch vier Kugeln. Zwei Schüsse sind abgegeben, und zwei Verwundungen sind zu konstatieren; es muss also jede Kugel getroffen haben.«

»So könnte es scheinen«, sagte Holmes. »Aber welche Kugel hat denn den Fensterrahmen durchschlagen?«

Er drehte sich rasch um und zeigte mit seinen langen, dünnen Fingern auf ein Loch im unteren Fensterrahmen, ungefähr einen Zoll über dem Fensterbrett.

»Weiß Gott!«, rief der Inspektor. »Wie haben Sie das nur sehen können?«

»Weil ich danach gesucht habe.«

»Wunderbar!«, sagte der Arzt. »Sie haben sicher recht. Dann muss ein dritter Schuss gefallen und auch eine dritte Person zugegen gewesen sein. Aber wer mag dies gewesen, und wie mag sie hinausgekommen sein?«

»Diese Frage müssen wir uns zu beantworten suchen«, sagte Holmes. »Sie erinnern sich noch, Mr Martin, dass ich Ihnen den Umstand, dass die beiden Mädchen beim Verlassen ihrer Kammern sofort Pulvergeruch wahrgenommen haben, als außerordentlich wichtig bezeichnete?«

»Jawohl; aber ich muss offen gestehen, dass ich Ihnen nicht ganz zu folgen vermochte.«

»Im Augenblick, als die Schüsse fielen, hat wahrscheinlich sowohl die Tür wie das Fenster offengestanden. Wenn es nicht gezogen hätte, würde sich der Pulverdampf nicht so schnell durch das ganze Haus verbreitet haben. Aber Tür und Fenster sind bald wieder zugemacht worden.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Daraus, dass das Licht nicht ausgeblasen worden ist.«

»Großartig!«, rief der Inspektor. »Großartig!«

»Ich hatte die feste Überzeugung, dass das Fenster, während das Unheil passiert ist, offen war. Daraus schloss ich weiter, dass eine dritte Person ihre Hand im Spiel gehabt habe. Diese muss draußen gestanden und geschossen haben. Ein Schuss hinwieder auf diese Person konnte leicht den Fensterrahmen getroffen haben. Ich sah nach und fand denn auch das Loch.«

»Aber wer soll das Fenster zugemacht und von innen verriegelt haben?«

»Das hat sicher gleich die Frau getan. Aber hallo! Was seh ich hier?«

Auf dem Schreibtisch lag das Handtäschchen einer Dame, ein niedliches, kleines Täschchen aus Krokodilleder und mit Silber beschlagen. Holmes öffnete es und stülpte es um. Was kam zum Vorschein? – Ein Bündel von zwanzig Fünfzigpfundscheinen der Bank von England, die mit einem roten Bändchen zusammengebunden waren – weiter nichts.

»Das muss aufgehoben werden, denn es wird in der Verhandlung eine Rolle spielen«, sagte Holmes und händigte das Täschchen nebst Inhalt dem Polizeiinspektor ein. »Wir müssen uns zunächst nun mit dieser dritten Kugel etwas eingehender beschäftigen. Wie sich an den Splittern im Holz erkennen lässt, ist sie vom Zimmer aus gekommen. Ich möchte die Köchin gerne noch etwas fragen. – Sie sagten vorhin, Miss King, dass Sie durch einen lauten Knall geweckt worden seien. Wollten Sie mit diesem Beiwort sagen, dass Ihnen der erste Schuss lauter vorgekommen ist als der zweite?«

»Nun, ich erwachte gerade aus dem Schlaf und kann daher nicht allzu genau urteilen, mein Herr; er erschien mir allerdings sehr laut.«

»Glauben Sie nicht, dass vielleicht im selben Augenblick zwei Schüsse gefallen sind?«

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, Herr.«

»Ich glaube das ganz sicher. Im Übrigen, Mr Martin, bin ich der Meinung, dass wir hier in diesem Zimmer nichts mehr zu suchen haben. Wir wollen nun lieber einen Rundgang durch den Garten machen und sehen, was wir dort für neues Beweismaterial finden.«

Vor dem Fenster von Mr Cubitts Arbeitszimmer war ein Blumenbeet. Als wir in dessen Nähe kamen, sahen wir zu unserer größten Überraschung, dass die Blumen zusammengetreten waren. Der weiche Erdboden zeigte noch zahlreiche Spuren von großen Mannsfüßen mit auffallend langen, spitzen Schuhen. Holmes spürte wie ein Jagdhund, der ein verwundetes Stück Wild sucht, in dem Gras und den Blättern herum. Plötzlich stieß er einen Ruf der Befriedigung aus, bückte sich und hob eine kleine Metallhülse auf.

»Das dachte ich mir gleich«, sagte er, »der Revolver hat einen Auswerfer gehabt, das ist also die dritte Patrone. Ich glaube wahrhaftig, Mr Martin, unsere Untersuchung ist schon ziemlich beendigt.«

Der Inspektor war über die raschen Fortschritte, die seines Kollegen Nachforschungen machten, ganz erstaunt. Er war verwundert über die meisterhafte Leistung und folgte ihr, ohne selbst einzugreifen.

»Wen haben Sie in Verdacht?«, fragte er.

»Darauf werde ich erst später eingehen, ich muss Ihnen dann überhaupt noch Verschiedenes erklären. Vorläufig aber muss ich diesen Weg weiter verfolgen und ihnen dann alles auf einmal und im Zusammenhang auseinandersetzen.«

»Ganz wie Sie meinen, Mr Holmes. Wenn wir nur unseren Mann bekommen.«

»Ich bin sonst kein Freund von Geheimtuerei, aber jetzt in dem Augenblick, wo wir handeln müssen, fehlt mir die Zeit zu langen und schwierigen Erörterungen, ich habe jetzt alle Fäden in meiner Hand. Selbst wenn die Frau das Bewusstsein nie wiedererlangen sollte, können wir doch das Drama der vergangenen Nacht aufklären und die gerichtliche Bestrafung des Schuldigen herbeiführen. Zunächst möchte ich nun wissen, ob in der Nachbarschaft eine Örtlichkeit, ein Gutshof oder dergleichen, unter dem Namen ›Elriges‹ bekannt ist.«

Die Bediensteten wurden in ein Kreuzverhör genommen, aber keiner hatte von einer solchen gehört. Endlich fiel dem Stalljungen ein, dass ein Landwirt einige Meilen von hier nach East Ruston zu, ein Besitztum dieses Namens habe.

»Ist es abgelegen?«

»Ganz abgelegen, Herr.«

»Man wird also dort von dem hiesigen Unglück wahrscheinlich noch keine Nachricht haben?«

»Das kann sein.«

Holmes überlegte einige Sekunden, dann spielte ein zufriedenes Lächeln um seinen Mund.

»Sattle ein Pferd, mein Junge«, sagte er zu dem Burschen. »Du sollst einen Brief nach Elriges Hof bringen.«

Er nahm die verschiedenen Blätter mit den tanzenden Männchen aus der Tasche, breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus und schrieb eine Zeitlang. Endlich übergab er dem Jungen ein Schreiben mit der Anweisung, es dem Adressaten persönlich auszuhändigen und auf keinerlei Fragen, die man etwa an ihn richten sollte, Aufschluss zu geben.

Ich bemerkte, dass die Adresse auf dem Umschlag nicht Holmes’ gewöhnliche feste Handschrift zeigte, sondern weitläufige, unzusammenhängende, ungleichmäßige Schriftzüge; sie lautete:

Mr Abe Slaney

Elriges Hof

East Ruston, Norfolk.

»Ich halte es für ratsam, sofort um Verstärkung zu telegrafieren, Herr Inspektor, denn wenn sich meine Berechnung als richtig erweist, werden Sie einen besonders gefährlichen Gefangenen zu transportieren haben. Der Junge, der den Brief besorgt, könnte gleich das Telegramm aufgeben. – Wenn nachmittags ein Zug nach London abgeht, wollen wir zurückfahren, Watson, ich habe nämlich eine interessante chemische Analyse fertig zu machen, und diese Untersuchung hier wird bald zum Abschluss kommen.«

Als der Junge mit dem Brief fort war, gab Holmes der Dienerschaft die nötigen Anweisungen. Wenn irgendjemand nach Mrs Cubitt fragen sollte, dürfte ihm nichts über ihr Befinden gesagt werden, sondern er müsse sofort ins Empfangszimmer geführt werden. Er schärfte ihnen das sehr ernstlich ein. Darauf ging er selbst mit uns ins Empfangszimmer und sagte uns, dass wir einstweilen in der Sache nichts mehr tun könnten. Wir sollten ruhig abwarten, wie sich die Angelegenheit weiter entwickeln würde, und uns unterdessen nach Belieben die Zeit vertreiben. Der Arzt ging auf seine Praxis, und nur der Inspektor und ich blieben bei Holmes zurück.

»Ich glaube, wir können diese Wartezeit ganz angenehm und nützlich ausfüllen«, sagte er, indem er seinen Stuhl an den Tisch rückte und die verschiedenen Papiere mit den rätselhaften, tanzenden Figuren vor sich ausbreitete. »Ihnen, mein Freund Watson, zolle ich die größte Hochachtung dafür, dass Sie Ihre natürliche Neugier so lange gemeistert haben. Ihnen, Inspektor Martin, mag der Fall als eine interessante Fachstudie dienen. Ich muss Ihnen vor allen Dingen das mitteilen, was ich durch Mr Cubitt erfahren habe; er hat mich zweimal in der Baker Street aufgesucht.« Holmes wiederholte dann kurz die Tatsachen, die oben bereits erzählt wurden. »Ich habe hier diese eigentümlichen Erzeugnisse vor mir liegen; wenn sie nicht die Vorläufer einer so furchtbaren Tragödie gewesen wären, möchte man darüber lachen. Ich bin mit allen Arten von Geheimschriften ziemlich vertraut, ich habe sogar eine kleine Abhandlung darüber veröffentlicht und darin hundertundsechzig verschiedene Chiffren nachgewiesen. Doch muss ich gestehen, dass mir diese Form vollkommen neu ist. Der Erfinder dieses Systems hat offenbar den Glauben erwecken wollen, als ob diese Figuren gar nicht zur Übermittlung irgendwelcher Nachrichten dienten, sondern das zufällige Gekritzel von Kinderhand wären.

Nachdem ich aber einmal erkannt hatte, dass die Zeichen an Stelle von Buchstaben standen, und gefunden hatte, dass dieselben Regeln wie bei allen übrigen Geheimschriften befolgt waren, machte mir ihre Lösung keine allzu großen Schwierigkeiten mehr. Die erste Probe, die mir übermittelt wurde, war zu kurz, um mehr herauszubringen, als dass dieses Zeichen ein e vorstellen müsste:

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Wie sie wissen, ist e der häufigste Buchstabe im Englischen; er ist so vorherrschend, dass man das schon in einem kurzen Satz bestätigt findet. Von fünfzehn Zeichen in der ersten Nachricht waren vier gleich, was meine Annahme also ziemlich rechtfertigte. Nun trug diese Figur manchmal eine Flagge und manchmal nicht, aber aus der Art ihrer Verteilung ging mit einiger Wahrscheinlichkeit hervor, dass diese Fähnchen dazu dienen sollten, den Satz in einzelne Worte zu zergliedern. Ich legte diese Annahme zugrunde und setzte für dieses

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ein e.

Die weitere Untersuchung gestaltete sich jedoch nicht so einfach. Die Häufigkeit der übrigen Buchstaben im Englischen steht durchaus nicht fest. Die Reihenfolge auf einer Druckseite ergab ungefähr folgendes: t, a, o, i, n, s, h, r, d, l. Nun sind aber die Unterschiede in der Häufigkeit des Vorkommens zwischen t, a, o und i sehr gering, und es war unmöglich, alle Verbindungen zu versuchen, bis sich aus dem Satz ein Sinn ergab. Ich wartete also auf neues Material. Bei seinem zweiten Besuch konnte mir Mr Cubitt zwei andere kurze Sätze und ein einzelnes Wort übergeben. Dass das letztere kein Satz war, sondern nur ein Wort, schien daraus hervorzugehen, dass kein Fähnchen dabei war. Da habe ich diese Zeichen. In diesem einzelnen Wort kannte ich nun die beiden e; das eine steht an zweiter, das andere an vierter Stelle bei fünf Buchstaben. Es konnte also sever, lever oder never (niemals) heißen. Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass die letzte Bedeutung als Antwort auf eine Aufforderung die wahrscheinlichste war, und aus diesen Umständen ging hervor, dass es eine Erwiderung auf einen Vorschlag der Mrs Cubitt war. Nehmen wir diese Vermutung als richtig an, so können wir bereits sagen, dass die Zeichen

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den Buchstaben n, v, r entsprechen.

Aber auch jetzt waren noch nicht alle Schwierigkeiten überwunden; doch ein glücklicher Zufall ließ mich mehrere andere Zeichen enträtseln. Ich kam auf den Gedanken, dass, wenn diese Zuschrift meiner Vermutung entsprechend von jemand herrührte, der früher in näheren Beziehungen zu der Dame gestanden hatte, ein Wort mit je einem e am Anfang und Ende und mit drei andern Buchstaben dazwischen wohl den Namen Elsie bedeuten könnte. Bei genauer Prüfung fand ich denn auch, dass diese Zeichenverbindung in drei aufeinanderfolgenden Fällen den Schluss der Mitteilung bildete. Es war also sicher eine Aufforderung an Elsie. Auf diese Weise kannte ich 1, s und i. Aber was war der Inhalt dieser vorausgehenden Mitteilung? Das Wort vor Elsie bestand aus vier Buchstaben, deren letzter ein e war. Es musste wohl come (komm!) heißen. Ich probierte alle anderen Wörter mit vier Buchstaben und einem e am Schluss durch, aber kein anderes passte in diesen Zusammenhang. So hatte ich denn auch c, o und m herausgebracht und konnte nunmehr die Auflösung der ersten Zuschrift wieder von neuem in Angriff nehmen. Ich teilte sie in Worte ab und ersetzte die bekannten Zeichen durch entsprechende Buchstaben und die unbekannten durch Punkte. Auf diese Weise erhielt ich Folgendes:

.m .ere ..e sl.ne.

Der erste Buchstabe kann nur ein a sein. Diese Entdeckung war sehr wichtig, weil dasselbe Zeichen in dem kurzen Satz dreimal vorkommt. Im zweiten Wort fehlte vorne offenbar ein h; setzen wir das ein, so ergibt sich:

am here a.e slane.

und wenn man die leeren Stellen im dritten und vierten Wort, was sicher der Name ist, noch durch die offenbar fehlenden Buchstaben ergänzt:

am here abe slaney

(Bin hier Abe Slaney).

Ich hatte nun so viele Buchstaben gefunden, dass ich zuversichtlich an die Entzifferung der zweiten Nachricht gehen konnte, die vorläufig folgende Gestalt annahm:

a. elri.es

Das ergab nur einen Sinn, wenn ich an die Stelle der Punkte ein t beziehungsweise ein g setzte, sodass die Botschaft heißt: at elriges (in Elriges), und annahm, dass es der Name irgendeines Wirtshauses oder Hofes sei, wo der Schreiber wohnte.«

Inspektor Martin und ich hatten mit größtem Interesse den klaren und ausführlichen Auseinandersetzungen meines Freundes zugehört, wodurch er alle Schwierigkeiten dieses verzwickten Falles aus dem Weg geräumt hatte.

»Was taten Sie dann weiter?«, fragte der Inspektor.

»Ich vermutete mit gutem Grund, dass dieser Abe Slaney ein Amerikaner sei, weil Abe eine amerikanische Zusammenziehung ist und weil mit einem Brief aus Amerika die ganze Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Ich hatte ferner alle Ursache, anzunehmen, dass irgendein heimliches Verbrechen dahintersteckte. Die Anspielungen der Dame auf ihre Vergangenheit und ihre Weigerung, ihrem Gatten das Geheimnis anzuvertrauen, wiesen stark darauf hin. Ich telegrafierte daher an meinen Freund Wilson Hargreave von der New Yorker Polizei, dem ich auch schon verschiedentlich Dienste erwiesen hatte, und fragte an, ob ihm der Name Abe Slaney bekannt sei. Hier habe ich seine Antwort: ›Ist der gefährlichste Bursche in Chicago‹. An demselben Abend, kurz bevor ich diese Nachricht erhielt, bekam ich auch einen Brief von Mr Cubitt, worin er mir die letzte Nachricht Slaneys zusandte. Mit Hilfe meiner mittlerweile erlangten Kenntnisse konnte ich sie folgendermaßen entziffern:

elsie .re.are to meet thy go.

Durch Hinzufügung zweier p und eines d am Ende erhielt ich den Satz: elsie prepare to meet thy god (Elsie, mache dich bereit, deinem Gott gegenüberzutreten). Aus dieser Mitteilung konnte ich entnehmen, dass der Kerl von Überredungen zu Drohungen übergegangen war, und soweit ich die Chicagoer Verbrecher kannte, ließen sie den Worten rasch die Tat folgen. Ich eilte also sobald wie möglich mit meinem Freund und Kollegen Doktor Watson nach Norfolk, wo ich leider schon zu spät eintraf und das Unglück bereits geschehen war.«

»Es ist ein großer Vorzug, mit Ihnen gemeinsam einen Fall behandeln zu können«, sagte der Inspektor. »Sie werden jedoch entschuldigen, wenn ich so frei bin, Ihnen zu sagen, dass Sie nur sich selbst Rechenschaft zu geben brauchen, während ich mich aber vor meinen Vorgesetzten zu verantworten habe. Wenn dieser Abe Slaney in Elriges wirklich der Mörder ist, und, während ich untätig hier sitze, die Flucht ergreift, würde ich große Unannehmlichkeiten bekommen.«

»Sie brauchen sich in keiner Weise zu beunruhigen. Er wird noch nicht einmal den Versuch machen, zu entfliehen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Durch die Flucht würde er sich ja schuldig bekennen.«

»Dann wollen wir ihn in seiner Wohnung festnehmen?«

»Ich erwarte ihn jeden Augenblick hier.«

»Aber warum sollte er hierher kommen?«

»Weil ich ihm geschrieben und ihn darum gebeten habe.«

»Das ist doch nicht sehr glaubwürdig, Mr Holmes! Warum sollte er kommen, wenn Sie ihn darum ersucht haben? Sollte ihm diese Bitte nicht eher verdächtig vorkommen und ihn zur Flucht veranlassen?«

»Sie können mir wohl zutrauen, dass ich den Brief darnach abgefasst habe«, erwiderte Holmes. »Übrigens, wenn ich nicht irre, kommt er dort schon den Weg herauf.«

Auf dem Gartenweg kam nach der Haustür zu ein Mann einhergeschritten. Es war ein großer, stattlicher Kerl mit sonnenverbranntem Gesicht. Er trug einen grauen Sommeranzug und einen Panamahut, hatte einen struppigen, schwarzen Bart, eine starke, gebogene Nase und schwang einen Spazierstock in der Hand. Er kam an wie der Herr des Hauses und klingelte laut und zuversichtlich.

»Ich glaube, meine Herren«, sagte Holmes in aller Ruhe, »es ist am besten, wenn wir uns hinter der Tür aufstellen. Wenn man mit einem solchen Burschen zu tun hat, ist die größte Vorsicht am Platz. Sie werden die Handschellen anwenden müssen, Mr Martin; die mündliche Unterhaltung können Sie mir überlassen.«

Wir warteten schweigend eine Minute – eine jener Minuten, die ich nie vergessen werde. Da ging die Tür auf und herein trat unser Mann. Im Nu setzte ihm Holmes die Pistole auf die Brust, und Martin und ich legten ihm die Handschellen an. Es geschah dies so plötzlich und rasch, dass er bereits überwältigt war, ehe er seine Lage richtig erkannte. Er starrte uns mit seinen flammenden, schwarzen Augen nacheinander an und begann dann bitter zu lachen.

»Nun, meine Herren, diesmal haben Sie mich allerdings überrumpelt. Ich scheine an die verkehrte Adresse gekommen zu sein. Ich folgte einer Einladung der Mrs Cubitt. Ich hoffe nicht, dass sie an diesem Anschlag beteiligt ist, nein, ich glaube nicht, dass sie dazu geholfen hat, mich in die Falle zu locken.«

»Mrs Cubitt ist schwer verwundet und kann jeden Augenblick sterben.«

Als er das hörte, stieß der Mann einen Schmerzensschrei aus, der durch das ganze Haus drang.

»Sie sind nicht recht bei Trost!«, schrie er wütend. »Er wurde verletzt, nicht sie. Wer könnte der kleinen Elsie ein Leid antun? Ich mag ihr gedroht haben, Gott verzeih mir’s, aber ich könnte ihr nicht einmal ein Haar krümmen. Nehmen Sie dies Wort zurück! Sagen Sie, dass sie nicht verletzt ist!«

»Sie wurde schwer verwundet neben der Leiche ihres Gatten gefunden.«

Da sank der Mann stöhnend auf einen Lehnstuhl und verbarg das Gesicht in seinen gefesselten Händen. Einige Minuten saß er ganz regungslos und gab keinen Laut von sich. Dann hob er den Kopf in die Höhe und sprach mit der kalten Ruhe der Verzweiflung:

»Ich brauche Ihnen nichts mehr zu verheimlichen, meine Herren«, begann er. »Wenn ich den Mann getötet habe, so geschah es, nachdem er auf mich einen Schuss abgegeben hatte; das ist kein Mord. Wenn Sie aber glauben, ich hätte die Frau verwundet, kennen Sie weder mich noch sie. Ich schwöre Ihnen, noch kein Mann auf Erden hat ein Weib mehr geliebt als ich sie geliebt habe. Ich hatte ein Anrecht auf sie. Sie war vor Jahren meine Braut. Warum musste dieser Engländer dazwischentreten? Ich versichere Ihnen nochmals, ich hatte das erste Recht an ihr, und nur das beanspruchte ich.«

»Sie entzog sich aber Ihrem Einfluss, als sie merkte, was für ein Mensch Sie sind«, erwiderte Holmes. »Sie floh aus Amerika, um Sie loszuwerden, und heiratete in England einen ehrbaren Mann. Sie spürten sie auf und verfolgten sie und verbitterten ihr das Leben, indem Sie sie aufforderten, ihren Gatten zu verlassen, den sie liebte und achtete, und mit Ihnen zu fliehen, den sie fürchtete und hasste. Sie haben schließlich einen braven Mann erschossen und seiner Frau den Revolver in die Hand gedrückt, um sich selbst zu töten. Das haben Sie erreicht, Mr Abe Slaney, und vor Gericht zu verantworten.«

»Wenn Elsie stirbt, ist mir’s gleichgültig, was aus mir wird«, sagte der Amerikaner. Er machte die eine Hand auf und starrte lange auf ein zerknittertes Papier, das er darin hielt. »Sehen Sie hier, Herr«, rief er, und Verdacht leuchtete aus seinen Augen. »Das schafft mir schlimmen Argwohn und schwere Sorge. Wie soll ich mir das erklären? Wenn diese Dame so schwer verwundet ist, wie Sie behaupten, wer hat dann diese Notiz geschrieben? Sagen Sie mir das!« Und damit warf er den Zettel auf den Tisch.

»Die habe ich geschrieben, um Sie hierher zu bringen.«

»Das haben Sie geschrieben? Kein Mensch auf der Welt außer unserer Gesellschaft kannte das Geheimnis der tanzenden Männchen. Wie konnten Sie in dieser Schrift schreiben?«

»Was ein Mensch erfindet, kann ein anderer aufdecken«, antwortete Holmes. »Es ist übrigens ein Wagen unterwegs, der Sie nach Norwich bringen wird, Mr Slaney. Die Zeit bis zu seiner Ankunft können Sie noch benutzen, um das begangene Unrecht wenigstens einigermaßen gutzumachen. Wissen Sie, dass Mrs Cubitt stark im Verdacht stand, ihren Mann ermordet zu haben, und dass sie es nur meiner Gegenwart und meiner zufälligen Kenntnis des ganzen Falles verdankt, dass sie nicht unter Anklage gestellt wird? Zum wenigsten sind Sie ihr schuldig, vor aller Welt offen auszusprechen, dass sie in keiner Weise, weder direkt noch indirekt, an dem tragischen Ende ihres Gatten eine Schuld trifft.«

»Nichts tue ich lieber als das«, versetzte der Amerikaner. »Ich halte es für das beste, was ich tun kann, die volle Wahrheit zu sagen.«

»Ich habe die Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie nichts Belastendes gegen sich selbst auszusagen brauchen«, rief der Inspektor dazwischen – der bekannte Paragraf des englischen Strafgesetzbuches.

Slaney zuckte mit der Schulter.

»Ich werde mich danach richten«, sagte er. »Vor allem, meine Herren, muss ich Ihnen mitteilen, dass ich die Dame von Kindheit an kenne. Wir waren sieben Mann in Chicago, und Elsies Vater war die Stütze unseres Bundes. Er war ein feiner Kerl, der alte Patrick. Er hat auch diese Schrift erfunden, die für das Gekritzel von Kindern gehalten worden wäre, wenn Sie nicht jetzt die Lösung gefunden hätten. Auch Elsie lernte einige unserer Schliche, aber ihr sagte diese Tätigkeit nicht zu; sie nahm ihr bisschen ehrlich erworbenes Vermögen, verließ uns und ging nach London. Sie war mit mir verlobt und würde mich, glaube ich, auch geheiratet haben, wenn ich eine andere Laufbahn eingeschlagen hätte; aber von einem solchen Leben wollte sie nichts wissen. Erst nach ihrer Verheiratung mit dem Engländer gelang es mir, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Ich schrieb ihr, erhielt jedoch keine Antwort. Dann kam ich selbst herüber, und da Briefe nichts nützten, schrieb ich meine Mitteilungen dahin, wo sie sie sehen und lesen musste.

Ich bin nun einen Monat hier. Ich wohnte auf jenem Hof, wo ich im Erdgeschoss ein Zimmer innehatte und alle Nacht nach Belieben ein- und ausgehen konnte. Ich kam aber nicht weiter. Ich versuchte alles, um Elsie zur Trennung von ihrem Mann zu bewegen. Ich wandte zuerst Schmeicheleien an, später ging ich zu Drohungen über. Dass sie meine Nachrichten las, wusste ich, denn sie hatte einmal eine Antwort darunter geschrieben. Zuletzt schickte sie mir einen Brief, worin sie mich inständig bat fortzugehen; es würde ihr das Herz brechen, wenn ihr Mann einen Skandal erleben müsste. Sie schrieb, dass sie um drei Uhr morgens, während ihr Mann schliefe, ans Fenster herunterkommen und mit mir sprechen wolle. Sie erschien und brachte Geld mit, um mich dadurch zur Abreise zu bewegen. Das machte mich wahnsinnig. Ich ergriff ihren Arm und suchte sie durchs Fenster zu ziehen. In diesem Augenblick stürzte der Mann ins Zimmer. Er hatte einen Revolver in der Hand. Elsie war zu Boden gesunken, und wir Männer standen uns gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Ich war ebenfalls bewaffnet und hielt ihm den Revolver entgegen. Er schoss und ich beinahe zugleich mit ihm; er aber fehlte, während mein Schuss tödlich war. Ich machte mich sofort durch den Garten aus dem Staub; ich hörte nur noch, wie hinter mir das Fenster geschlossen wurde. So, bei Gott, ist es gewesen, das ist die volle Wahrheit, meine Herren. Ich habe dann weiter nichts mehr über die Sache erfahren, bis vorhin der Junge zu mir geritten kam und mir die Botschaft brachte, die mich veranlasste, hierher zu kommen und wie ein Vogel ins Garn zu gehen.«

Während der Amerikaner dieses Geständnis abgelegt hatte, war der Wagen mit zwei uniformierten Schutzleuten vorgefahren. Inspektor Martin stand auf und klopfte seinem Gefangenen auf die Schulter:

»Wir müssen gehen.«

»Kann ich sie erst noch mal sehen?«

»Nein, sie ist bewusstlos. – Mr Holmes, ich hoffe weiter nichts, als dass mir in schwierigen Fällen stets das Glück zuteil wird, Sie an der Seite zu haben.«

Wir standen am Fenster und sahen dem davonfahrenden Wagen nach. Als ich mich umwandte, fiel mein Blick auf das zerknitterte Papier, das der Gefangene auf den Tisch geworfen hatte. Es enthielt die Notiz, womit ihn Holmes hinters Licht geführt hatte.

»Sehen Sie mal, ob Sie es lesen können, Watson«, sagte er lächelnd.

Es stand weiter nichts darauf als folgende Reihe tanzender Männchen:

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»Wenn Sie meine Ausführungen von vorhin begriffen haben, werden Sie leicht finden, dass es einfach heißt: come here at once (komm sofort hierher). Ich war überzeugt, dass er diese Einladung nicht ausschlagen würde, weil er sich nicht denken konnte, dass sie von einem anderen Menschen als von ihr käme. Auf diese Weise, mein lieber Watson, haben wir die tanzenden Männchen auch einmal in den Dienst des Guten gestellt, nachdem sie so oft bösem Zweck gedient haben, und ich glaube, mein Versprechen, Ihnen etwas Ungewöhnliches für Ihr Buch zu liefern, gehalten zu haben. Drei Uhr vierzig geht unser Zug, sodass wir zum Essen wieder in der Stadt sein können.«

Noch ein paar Worte zum Schluss! Der Amerikaner Abe Slaney wurde zum Tode verurteilt, aber in Anbetracht der mildernden Umstände und weil feststand, dass Hilton Cubitt zuerst geschossen hatte, zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt. Von Mrs Cubitt habe ich nur gehört, dass sie noch Witwe ist. Sie ist vollständig wiederhergestellt und widmet ihr Leben der Fürsorge für die Armen und der Verwaltung des Gutes ihres Gatten.