SHERLOCK HOLMES ALS EINBRECHER

Obwohl die Vorgänge, von denen ich sprechen will, Jahre zurückliegen, kostet es mich doch eine gewisse Überwindung, sie jetzt dem Publikum zu erzählen. Vorher freilich würde es auch bei der größten Diskretion und Zurückhaltung einfach unmöglich gewesen sein, sie der Öffentlichkeit zu übergeben. Aber jetzt, wo sich die Hauptpersönlichkeit außerhalb der Reichweite des irdischen Gerichtes befindet, darf ich es bei der nötigen Vorsicht wagen, die Geschichte mitzuteilen, ohne dass sich jemand verletzt fühlen wird. Sie behandelt ein ganz eigenartiges Erlebnis meines Freundes Sherlock Holmes und meiner selbst. Der Leser wird wohl entschuldigen, dass ich das Datum, die Namen und alle sonstigen Angaben weglasse beziehungsweise abändere, sodass niemand der wirklichen Begebenheit auf die Spur kommen könnte.

Holmes und ich hatten unseren üblichen Abendspaziergang gemacht und waren um sechs Uhr in die Baker Street zurückgekehrt; es war ein kalter Wintertag, trüb und neblig. Als Holmes Licht machte, sahen wir eine Visitenkarte auf dem Tisch liegen. Mein Freund warf einen flüchtigen Blick darauf und schleuderte sie verächtlich und unwillig auf den Fußboden. Ich hob sie auf und las:

Charles Augustus Milverton

Agent

Appledore Towers.       Hampstead

»Wer ist das?«, fragte ich.

»Der schlechteste Kerl in ganz London«, antwortete Holmes, als er sich an den Kamin setzte und seine Füße am Feuer wärmte. »Steht etwas auf der Rückseite der Karte?«

Ich wandte sie um und las:

»Werde um 6 Uhr 30 vorsprechen – C. A. M.«

»Hm! Dann muss er ja gleich kommen. Kennen Sie das schleichende, zusammenziehende Gefühl, Watson, wenn man im Zoologischen Garten vor dem Schlangenkäfig steht und die glatten, glänzenden, giftigen Geschöpfe mit den stechenden Augen und den bösartigen, breiten Gesichtern völlig lautlos umhergleiten sieht? Das ist ungefähr der Eindruck, den dieser Milverton auf mich macht. Ich habe in meinem Beruf mit etwa fünfzig Mördern zu tun gehabt, aber auch der schlimmste von ihnen war mir nicht so widerwärtig wie dieser eklige Mensch. Und doch muss ich leider geschäftlich mit ihm verhandeln – er kommt tatsächlich auf meine Einladung hierher.«

»Was ist denn der Mensch?«

»Das will ich Ihnen sagen, Watson, er ist der erste aller Erpresser. Gott sei dem oder noch mehr der Ärmsten gnädig, wenn Milverton ihre Geheimnisse in Erfahrung bringt. Mit lächelndem Mund und steinernem Herzen quetscht er sie aus wie eine Zitrone. Der Kerl ist genial in seiner Art und würde sich eine geachtete Stellung im Leben errungen haben, wenn er weniger anrüchige Geschäfte machte. Er geht in folgender Weise vor: Er lässt durchblicken, dass er für Briefe, die für reiche und hochgestellte Persönlichkeiten kompromittierend sind, hohe Summen zu zahlen bereit ist. Er bekommt dieses Material an Schriftstücken nicht nur von verräterischen Dienern und Dienstmädchen, sondern häufig auch von vornehmen Schurken, die in den Salons der feinen Welt verkehren und sich dort die Gunst und Zuneigung vertrauensseliger Weiber erworben haben. Dabei zahlt er nicht knauserig. Mir ist zufällig ein Fall bekannt, wo er einem Diener für bloße zwei Zeilen siebenhundert Pfund Sterling gegeben hat. Jener Fall endigte daraufhin natürlich mit dem Ruin einer hochangesehenen altenglischen Familie. Alles, was in dieser Beziehung vorkommt, gelangt zur Kenntnis von Milverton, und es gibt Hunderte auf dieser Insel, die bei der Nennung seines Namens erblassen. Kein Mensch weiß, was ihm noch für Gefahren von diesem Mann drohen, keine unüberlegte Jugendtorheit ist mehr harmlos und vergessen, wenn Milverton davon weiß, denn er ist so reich und so schlau, dass er nicht von der Hand in den Mund arbeitet. Ich sagte bereits, er sei der schlechteste Kerl in ganz London, und ich möchte Sie fragen, ob er nicht auch nach Ihrer Ansicht wirklich viel schlimmer ist als einer, der in der Leidenschaft seinen Gefährten niederschlägt; er, der planmäßig und zum Vergnügen seine Mitmenschen quält und martert, nur, um seine sowieso schon dicken Geldsäcke noch mehr zu füllen?«

Ich hatte selten meinen Freund so tiefempfunden sprechen hören.

»Aber der Kerl muss doch strafrechtlich irgendwie zu fassen sein«, sagte ich.

»Theoretisch, gewiss; aber praktisch nicht. Was würde es einer Frau zum Beispiel nützen, wenn sie den Vampir ein paar Monate hinter Schloss und Riegel brächte und sich selbst dabei zugrunde richtete? Seine Opfer können nicht gegen ihn vorgehen. Wenn er jemals einen Unschuldigen bedrückte, dann wollten wir ihn wahrhaftig bald kriegen, aber er ist schlau wie der Teufel. Nein, nein, wir müssen auf andere Mittel und Wege sinnen, um ihm das Handwerk zu legen.«

»Und weshalb kommt er her?«

»Weil eine hochstehende Klientin mir ihren bedauerlichen Fall zu regeln übertragen hat. Es ist dies Miss Eva Brackwell, die gefeierte, schöne Debütantin der vergangenen Theatersaison. Sie will sich in ungefähr vierzehn Tagen mit dem Grafen von Dovercourt verheiraten. Dieser elende Milverton hat nun einige ziemlich unbesonnene Briefe von ihr in Händen – unbesonnene, Watson, durchaus keine schlimmen – die sie früher an einen armen Verehrer geschrieben hat. Sie würden aber in den Händen Milvertons genügen, um das Verhältnis zu lösen. Milverton will nun diese Schriftstücke dem Grafen zuschicken, wenn ihm nicht alsbald ein hoher Geldbetrag ausgezahlt wird. Ich habe jetzt den Auftrag, mich mit ihm in Verbindung zu setzen und mit ihm eine möglichst günstige Vereinbarung zu treffen.«

In diesem Augenblick hörte ich vor unserem Haus auf der Straße den Hufschlag von Pferden und das Rasseln eines Wagens. Ich ging ans Fenster und sah einen eleganten Wagen mit zwei dampfenden Rappen unten halten. Ein Diener öffnete den Wagenschlag, und ein kleiner, dicker Mann in einem schweren Pelzmantel trat heraus auf den Fußsteig. In der nächsten Minute stand er uns in unserm Zimmer gegenüber.

Charles Augustus Milverton war ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er hatte einen großen, klugen Kopf, ein rundes, bartloses Gesicht, ein stetes, eisiges Lächeln und zwei kühne, graue Augen, die hinter einer großen goldenen Brille hervorleuchteten. In seiner ganzen Erscheinung lag ein gewisses Wohlwollen, das nur durch das erzwungene Lächeln und das Funkeln der unruhigen, durchbohrenden Augen beeinträchtigt wurde. Seine Stimme war ebenso sanft und süß wie sein Gesicht, als er uns seine kleine fleischige Hand reichte und seinem Bedauern darüber Ausdruck gab, dass er uns bei seinem ersten Besuch nicht getroffen habe. Holmes tat, als ob er die ausgestreckte Hand nicht sähe, und blickte ihm mit eisiger Kälte ins Gesicht. Milvertons Lächeln wurde noch breiter; er zuckte mit der Schulter, zog seinen Pelzmantel aus, legte ihn, sorgfältig zusammengeschlagen, auf eine Stuhllehne und nahm dann Platz.

»Wer ist dieser Herr hier?«, sagte er auf mich zeigend. »Ist er diskret? Ist er zuverlässig?«

»Doktor Watson, mein Freund und Teilhaber.«

»Schon gut, Mr Holmes. Ich fragte ja nur im Interesse unserer Klientin. Die Angelegenheit ist sehr delikat ...«

»Doktor Watson kennt sie bereits.«

»Ah so! Nun, dann können wir gleich miteinander verhandeln. Wie Sie sagen, sind Sie der Vertreter von Miss Eva. Haben Sie von ihr die Ermächtigung, meine Bedingungen anzunehmen?«

»Welches sind Ihre Bedingungen?«

»Siebentausend Pfund.«

»Und sonst?«

»Mein verehrter Herr, es ist mir peinlich, mich darüber auszulassen; wenn aber das Geld bis zum vierzehnten nicht ausgezahlt ist, wird am achtzehnten die Hochzeit nicht stattfinden.«

Sein unleidliches Lächeln war noch höflicher als gewöhnlich. Holmes überlegte einen Moment. Dann sagte er schließlich: »Sie scheinen mir dieses Geschäft doch als etwas zu sicher zu betrachten. Ich bin selbstverständlich über den Inhalt der fraglichen Briefe genau unterrichtet, und meine Klientin wird gewiss tun, was ich ihr rate. Ich werde ihr den Vorschlag machen, die ganze Sache ihrem zukünftigen Gatten vorzustellen und seiner Großmut zu vertrauen.«

Milverton fing laut zu lachen an.

»Sie kennen den Grafen offenbar nicht«, sagte er.

An meines Freundes fast unmerklich enttäuschtem Gesicht konnte ich sehen, dass er ihn wohl kannte.

»Was steht denn überhaupt Schlimmes in diesen Briefen drin?«, fragte er.

»Sie sind launig, diese Briefe – sehr launig«, versetzte Milverton. »Die Dame war eine reizende Korrespondentin. Aber ich kann Ihnen versichern, dass der Graf sehr wenig Verständnis dafür zeigen würde. Doch, wenn Sie anderer Meinung sind, haben wir ja nichts mehr miteinander zu tun. Es ist eine rein geschäftliche Angelegenheit. Wenn Sie wirklich glauben, dass es Ihrer Schutzbefohlenen weiter nichts schadet, wenn die Briefe dem Grafen ausgehändigt werden, so würde es natürlich töricht sein, so viel Geld für ihre Rückgabe zu zahlen.«

Er stand auf und nahm seinen Mantel. Holmes war grau und grün vor Arger und Entrüstung.

»Warten Sie noch ein bisschen«, sagte er, »Sie haben es wohl nicht so eilig. Wir würden sicher gerne alles Mögliche tun, um jeden Skandal in einer so persönlichen Sache zu vermeiden.«

Milverton setzte sich wieder in seinen Stuhl.

»Ich nahm bestimmt an, dass Sie es von dieser Seite betrachten würden«, sagte er gedehnt.

»Immerhin müssen Sie aber bedenken, dass Miss Brackwell über keine großen Mittel verfügt«, fuhr Holmes fort. »Ich gebe Ihnen die Versicherung, dass ihr zweitausend Pfund zu zahlen schon schwer fallen würde und dass die Summe, die Sie fordern, ihre Kräfte bei Weitem übersteigt. Ich bitte Sie also, Ihre Forderung zu mäßigen und die Briefe für den Betrag, den ich genannt habe, zurückzugeben. Es ist, wie ich Ihnen nochmals versichere, das Höchste, was Sie bekommen können.«

Milvertons Mund verzog sich zu einem breiteren Lächeln, und er zwinkerte vergnügt mit den Augen.

»Ich weiß wohl, dass das, was Sie über die Vermögensverhältnisse der Dame sagen, auf Wahrheit beruht«, antwortete er. »Sie müssen aber auch zugeben, dass sich bei einer solchen Gelegenheit, wie es die Verheiratung einer Dame ist, auch ihre Freunde und Verwandten etwas zu ihren Gunsten anstrengen dürfen. Sie können’s ihr als passendes Hochzeitsgeschenk verehren. Ich bin fest überzeugt, dass ihr dieses kleine Bündelchen Briefe mehr Freude bereiten würde als sämtliche Armleuchter und Butterdosen in ganz London.«

»Es geht nicht«, sagte Holmes.

»Je nun«, rief Milverton und nahm eine umfangreiche Brieftasche heraus. »Das ist natürlich schlimm, wenn es nicht geht. Ich finde nur, dass Damen in solchen Fällen sehr verkehrt beraten sind, wenn sie nicht alles aufbieten. Sehen Sie hier!« – ein kleines Briefchen emporhaltend, mit einem Wappen auf dem Umschlag. »Das ist von – nun, vielleicht ist’s nicht schön, den Namen vor morgen früh zu verraten. Aber um diese Zeit wird der kleine Brief in den Händen des Gemahls der Dame sein. Und warum? Nur weil sie den armseligen Betrag nicht aufbringen können will, den sie innerhalb einer Stunde für ihre Diamanten haben könnte. Es ist ein Jammer, so etwas. Ferner: Erinnern Sie sich noch der plötzlichen Aufhebung der Verlobung zwischen Miss Miles und dem Obersten Dorkung? Nur zwei Tage vor der Hochzeit stand in der ›Morning Post‹ die Anzeige, dass alles aus sei. Und warum? Es klingt fast unglaublich; aber die lächerliche Summe von zwölfhundert Pfund würde die ganze Geschichte in Ordnung gebracht haben. Ist das nicht traurig? Und jetzt wollen nun Sie, ein vernünftiger Mann, über die Höhe des Preises feilschen, wo doch die Zukunft und die Ehre Ihrer Klientin auf dem Spiel stehen? Das wundert mich von Ihnen, Mr Holmes.«

»Ich sage die Wahrheit«, antwortete Holmes. »Das Geld kann nicht beschafft werden. Und es ist für Sie entschieden besser, die angebotene Summe zu nehmen als diesem Weib die ganze Zukunft zu verderben, wovon Sie rein gar nichts haben.«

»Da irren Sie sich, Mr Holmes. Eine solche Bloßstellung würde mir indirekt sehr viel nützen. Unendlich viel! Ich habe acht oder zehn ähnliche Fälle in Händen. Wenn die Beteiligten erführen, dass ich an Miss Brackwell ein Beispiel statuiert hätte, würden sie alle eher geneigt sein, Vernunft anzunehmen. Verstehen Sie meinen Standpunkt?«

Holmes sprang vom Stuhl auf.

»Hinter ihn, Watson! Lassen Sie ihn nicht zur Tür raus! Nun, Herr, jetzt wollen wir den Inhalt dieser Brieftasche sehen.«

Milverton war geschwind wie eine Maus von seinem Platz fortgehuscht und stand mit dem Rücken an der Wand.

»Mr Holmes, Mr Holmes«, sagte er, indem er seinen Rock aufmachte und den Lauf eines großen Revolvers sehen ließ, der aus der inneren Tasche herausguckte. »Ich hatte erwartet, dass Sie etwas Besonderes versuchen würden. Aber das ist schon so häufig geschehen, und was hat’s bisher genützt? Ich bin bis an die Zähne bewaffnet und auch vollkommen entschlossen, meine Waffen zu gebrauchen, weil ich weiß, dass ich’s gesetzlich darf. Übrigens ist Ihre Vermutung, dass ich die Briefe in meinem Notizbuch hierher bringen würde, sehr irrig. So töricht bin ich nicht. Und nun, meine Herren, ich habe heute Abend noch ein paar Zusammenkünfte, und es ist eine lange Fahrt bis Hampstead.«

Er trat wieder vor, nahm seinen Mantel, legte die Hand an den Revolver und wandte sich der Tür zu. Ich erfasste einen Stuhl, aber Holmes schüttelte abwehrend den Kopf, sodass ich ihn enttäuscht wieder hinsetzte. Mit einer eleganten Verbeugung, lächelnd und mit den Augen blinzelnd, verließ Milverton unser Zimmer, und eine Minute danach hörten wir die Wagentür zuschlagen und ihn davonfahren.

Holmes saß regungslos am Kamin; die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, das Kinn auf die Brust gesunken, blickte er in die Glut. Eine halbe Stunde lang saß er so, still und stumm. Dann stand er schnell auf, wie jemand, der einen plötzlichen Entschluss gefasst hat, und ging in sein Schlafzimmer. Kurz darauf kam ein großtuerischer, junger Arbeiter heraus mit Kinnbart und Spazierstock und zündete sich seine alte Tonpfeife über der Gaslampe an, bevor er auf die Straße hinunterging.

»Ich werde einige Zeit wegbleiben, Watson«, sagte er und verschwand.

Ich merkte, dass mein Freund seinen Feldzug gegen Charles Augustus Milverton eröffnet hatte, war aber selber ohne die geringste Ahnung, wie sich dieser Feldzug gestalten sollte.

Einige Tage ging Holmes zu jeder Stunde in diesem Aufzug ein und aus, aber außer einer gelegentlichen Bemerkung, dass er den größten Teil seiner Zeit in Hampstead verbringe und zwar nicht vergeblich, äußerte er kein Wort. Endlich an einem stürmischen Abend, als der Wind heulend durch den Kamin fuhr und an den Fenstern rüttelte, kehrte er von seinem letzten Ausflug zurück und setzte sich, nachdem er seine Arbeiterverkleidung abgelegt hatte, vor das Feuer und fing in seiner stillen, in sich gekehrten Weise herzlich an zu lachen.

»Ich sehe wohl nicht aus wie ein Ehemann, Watson?«

»Nein, wahrhaftig nicht!«

»Es wird Sie interessieren zu hören, dass ich verlobt bin.«

»Lieber Junge! Ich gratu...«

»Mit Milvertons Zimmermädchen.«

»Holmes!«

»Ich musste Auskunft haben.«

»Sie sind entschieden zu weit gegangen!«

»Ich musste unbedingt diesen Schritt tun. Ich bin ein Klempner mit einem in die Höhe gehenden Geschäft und heiße Escott. Ich bin alle Abende mit ihr spazieren gegangen und habe mit ihr geplaudert. Lieber Himmel, diese Unterhaltung! Doch ich habe alles erfahren, was ich wollte. Ich kenne Milvertons Haus wie mein Taschenmesser.«

»Aber das Mädchen, Holmes!«

Er zuckte die Achseln.

»Es blieb nichts anderes übrig, Watson. Man muss alles riskieren, wenn so viel auf dem Spiel steht wie in diesem Fall. Doch ich bin froh, dass ich einen eifersüchtigen Nebenbuhler habe, der sicher meine Stelle einnehmen wird, sobald ich ihr den Rücken kehre. – Was für eine prächtige Nacht wir haben!«

»Haben Sie denn solches Wetter gern?«

»Jawohl, denn es passt für meine Zwecke. Heute Nacht beabsichtige ich, bei dem Gauner einzubrechen, Watson.«

Ich rang nach Atem und wurde eiskalt bei diesen Worten, die mein Freund langsam und im Ton fester Entschlossenheit gesprochen hatte. Wie ein Blitzstrahl in tiefdunkler Nacht für einen Augenblick alle Einzelheiten einer weiten Landschaft zeigt, so sah ich bereits alle Folgen einer solchen Handlung vor mir – die Entdeckung, die Gefangennahme, das schmachvolle Ende einer ehrenvollen Laufbahn und meinen Freund selbst von der Gnade dieses verhassten Milverton abhängig.

»Um Himmels willen, Holmes, bedenken Sie, was Sie tun!«, rief ich.

»Mein lieber Watson, ich habe mir die Sache nach allen Seiten hin wohl überlegt. Solange Sie mich jetzt kennen, hatten Sie Gelegenheit zu beobachten, dass ich nie überstürzt handle. Ich würde auch jetzt keinen so gefährlichen Weg wählen, wenn mir ein anderer übrig bliebe. Wir wollen uns die Sache noch mal in aller Ruhe klarmachen. Ich nehme natürlich an, dass Sie meine Handlungsweise moralisch gerechtfertigt finden, wenn sie auch geeignet ist, mich mit dem Strafgesetz in Konflikt zu bringen. Der Einbruch in seine Wohnung hat keinen anderen Zweck, als ihm mit Gewalt seine Brieftasche abzunehmen, eine Handlung, bei der Sie mir noch vor Kurzem zu helfen bereit waren.«

Ich überlegte sorgfältig.

»Jawohl«, antwortete ich, »es ist zweifellos moralisch zu rechtfertigen, solange wir weiter keinen Zweck verfolgen, als Dinge zu entwenden, die Milverton in gesetzwidriger Weise zu verwerten sucht.«

»Sehr richtig. Da es moralisch einwandfrei ist, habe ich nur noch das persönliche Risiko zu erwägen. Sicherlich würde ein Gentleman kein großes Gewicht darauf legen, wenn eine Dame sich in äußerster Not befindet und seiner Hilfe bedarf?«

»Sie befinden sich tatsächlich in einer solch verzwickten Lage, Holmes.«

»Gut, dann darf ich die Gefahr nicht scheuen. Es gibt keine andere Möglichkeit, die gefährlichen Briefe zu bekommen. Die unglückliche Dame hat das Geld nicht und auch keine Bekannten, denen sie sich anvertrauen könnte. Morgen verstreicht ihre Galgenfrist, und wenn wir nicht in dieser Nacht die Briefe in unseren Besitz bringen können, wird dieser Schurke ohne Frage Miss Brackwell ins Unglück stürzen. Ich muss also meine Klientin ihrem Schicksal überlassen oder diesen letzten Streich wagen. Unter uns gesagt, Watson, ist es auch noch ein Entscheidungskampf zwischen diesem elenden Milverton und mir. Er hat, wie Sie gesehen haben, den Anfang gemacht, und meine Achtung vor mir selbst und mein Ruf verlangen nun, dass ich den Kampf zu Ende kämpfe.«

»Nun, ich finde es nicht gerade schön, aber ich gebe zu, dass es sein muss«, erwiderte ich. »Wann brechen wir auf?«

»Sie sollen nicht mit.«

»Dann gehen Sie auch nicht«, versetzte ich bestimmt. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort – ich habe es noch nie gebrochen –, dass ich einen Wagen nehme und direkt die Polizei in Kenntnis setze, wenn Sie mich heute Nacht nicht mitkommen lassen.«

»Sie können mir nicht helfen.«

»Wie wollen Sie das wissen? Sie können nicht voraussehen, wie es geht. Jedenfalls mein Entschluss steht fest. Andere Menschen haben auch ihre Selbstachtung und sogar mehr.«

Holmes blickte anfangs ärgerlich und missmutig drein, aber sein Gesicht klärte sich bald wieder auf, und er klopfte mir auf die Schulter.

»Gut, gut, mein Lieber, Sie haben Recht. Wir haben jahrelang dasselbe Zimmer geteilt, und es würde spaßig sein, wenn wir am Ende auch in derselben Zelle zusammensäßen. Wissen Sie, Watson, ich geniere mich Ihnen gegenüber nicht, zu gestehen, dass ich stets den Gedanken hatte, dass aus mir ein recht rühriger Verbrecher hätte werden können. Diese Aussicht habe ich immer noch. Sehen Sie her!«

Holmes ging an eine Schublade und entnahm ihr ein niedliches kleines Ledertäschchen. Als er es aufmachte, kamen eine Anzahl glänzender Instrumente zum Vorschein.

»Das ist eine Auswahl erstklassigen, zeitgemäßen Diebeswerkzeugs: eine Reihe vernickelter Dietriche, ein Diamantglasschneider, Normalschlüssel, Stahlschrauben und alle sonstigen Instrumente, die der Fortschritt der Zivilisation erforderlich macht. Hier habe ich auch eine Blendlaterne. Es ist alles instand. Haben Sie ein Paar Schuhe, die nicht knarren?«

»Ich habe ein Paar Tennisschuhe mit Gummisohlen.«

»Ausgezeichnet. Und eine Maske?«

»Ich kann uns welche aus schwarzer Seide machen.«

»Sie scheinen eine gute Naturanlage zu solchen Sachen zu haben. Sehr gut, machen Sie die Masken. Wir werden noch etwas Kaltes essen, ehe wir aufbrechen. Es ist jetzt halb zehn. Um elf Uhr müssen wir in Church Row sein. Von dort ist es noch eine Viertelstunde zu Fuß nach Appledore Towers. Wir werden vor Mitternacht anfangen. Milverton hat einen guten Schlaf und geht jeden Abend pünktlich um halb elf zu Bett. Wenn wir Glück haben, können wir um zwei Uhr wieder hier sein und die Briefe von Miss Brackwell in der Tasche haben.«

Holmes und ich zogen unsere Gesellschaftsanzüge an, sodass wir aussahen wie ein paar Theaterbesucher, die heimgehen. In der Oxford Street nahmen wir eine Droschke und fuhren nach einer Adresse in Hampstead. Hier bezahlten wir den Wagen und wanderten mit unseren zugeknöpften Gehröcken über die Heide. Es war bitter kalt, und der schneidende Ostwind ging uns durch und durch.

»Es ist ein Geschäft, das die größte Vorsicht verlangt«, sagte Holmes. »Diese Briefschaften befinden sich in einem eisernen Schrank in dem Arbeitszimmer von Milverton, und dieses Arbeitszimmer liegt direkt vor seinem Schlafzimmer. Glücklicherweise ist er, wie alle diese kleinen starken Leute, die gut leben, ein sehr fester Schläfer. Agathe – so heißt meine Braut – hat mir gesagt, dass die Dienerschaft scherzhaft behauptet, der Herr sei überhaupt nicht wach zu kriegen. Er hat einen sehr diensteifrigen Sekretär, der den ganzen Tag das Zimmer nicht verlässt. Darum müssen wir nachts gehen. Außerdem hat er einen bissigen Hund, der frei im Garten umherläuft. Ich besuchte Agathe die beiden letzten Abende ziemlich spät, sie sperrt daher das Vieh ein, damit ich ungehindert passieren kann. Das ist das Haus, das große dort. Durchs Tor – nun rechts zwischen den Büschen durch. Ich glaube, wir setzen jetzt besser unsere Masken auf. Sie sehen, an keinem Fenster ist mehr Licht, es geht wie gewünscht.«

Mit unseren schwarzen seidenen Binden, wodurch wir wie ein paar der schrecklichsten Londoner Verbrecher aussahen, schlichen wir uns an das ruhige, dunkle Haus heran. Auf der einen Seite zog sich eine Art Veranda hin, an der sich mehrere Fenster und zwei Türen befanden.

»Das ist sein Schlafzimmer«, flüsterte Holmes. »Diese Tür geht direkt ins Arbeitszimmer. Die würden wir am besten benutzen, aber sie ist nicht nur verschlossen, sondern auch verriegelt, und wir müssten zu viel Geräusch machen, um sie aufzubrechen. Kommen Sie hier ’rum. Da ist ein Gewächshaus, durch das man ins Empfangszimmer gelangt.«

Es war verschlossen. Aber Holmes schnitt ein Stück der Scheibe an der Tür heraus und drehte von innen den Schlüssel herum. Es dauerte kaum einen Augenblick, und wir waren im Sinn des Gesetzes zu Verbrechern geworden. Der süße betäubende Duft der exotischen Pflanzen und die dicke warme Treibhausluft nahmen uns den Atem. Er fasste mich im Dunkel bei der Hand und führte mich schnell an Reihen von Blattgewächsen vorbei, die uns über’s Gesicht strichen. Holmes besaß in hohem Maß die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, und hatte sie auch besonders sorgfältig gepflegt. Während er mich noch immer an der Hand hielt, öffnete er eine Tür, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, als ob wir uns in einem großen Raum befänden, in dem vor nicht langer Zeit eine Zigarre geraucht worden sei. Er tastete sich an den Möbeln vorbei, öffnete eine zweite Tür und schloss sie hinter uns zu. Als ich die Hand ausstreckte, fühlte ich mehrere Röcke an der Wand; ich merkte, dass wir in einem Gang waren. Wir gingen darin lautlos weiter, und Holmes öffnete eine Tür rechts. Es huschte etwas auf uns zu, mir fiel das Herz schon in die Kniekehle, aber ich musste gleich wieder innerlich lachen, als ich gewahr wurde, dass es die Katze war. In diesem Zimmer brannte noch Feuer im Kamin, und ich roch wieder Tabaksrauch. Holmes ging auf den Zehen hinein, wartete, bis ich auch drin war und schloss dann die Tür wieder leise zu. Wir waren in Milvertons Arbeitszimmer. Durch die Portiere an der gegenüberliegenden Wand ging’s in sein Schlafzimmer.

Holmes legte ein wenig Holz in das Feuer, das bald hell aufbrannte, sodass wir gut dabei sehen konnten. In der Nähe der Tür erblickte ich den Drücker für das elektrische Licht, aber es wäre überflüssig gewesen, es anzudrehen, selbst wenn dies sicher gewesen wäre. An der einen Seite vom Kamin hing ein schwerer Vorhang vor dem gewölbten Fenster, das uns daher von außen her dunkel erschienen war. An der anderen Seite befand sich die Tür, die zur Veranda führte. In der Mitte stand ein moderner Schreibpult mit einem rotgepolsterten Drehsessel. Gegenüber befand sich ein Bücherschrank und oben darauf eine Marmorbüste der Athene. In der Ecke sahen wir die blitzenden Schlösser eines großen, grünlackierten Geldschranks. Holmes schlich sich hin und nahm ihn in Augenschein. Dann kroch er an die Schlafzimmertür und horchte. Es war kein Laut zu hören. Währenddessen war mir eingefallen, dass es für alle Fälle klug sein würde, uns den Rückzug durch die äußere Tür zu sichern. Ich untersuchte sie also. Zu meiner Überraschung war sie weder zugeschlossen, noch zugeriegelt! Ich zupfte Holmes am Ärmel; er schaute nach der Tür und stutzte. Offenbar war er ebenso erstaunt wie ich auch.

»Das gefällt mir gar nicht«, flüsterte er mir ins Ohr. »Das versteh ich nicht recht. Doch wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Kann ich was helfen?«

»Ja, stellen Sie sich an die Tür. Wenn Sie jemanden kommen hören, riegeln Sie von innen zu, wir können dann auf dem nämlichen Weg verschwinden, auf dem wir gekommen sind. Falls sie von der anderen Seite kommen, können wir durch diese Tür entwischen, wenn wir unseren Zweck erreicht haben, oder wenn nicht, uns hinter diesem Fenstervorhang verstecken. Verstanden?«

Ich nickte und stellte mich an die Tür. Mein anfängliches Bangigkeitsgefühl war schon längst geschwunden, und ich empfand als Übertreter des Gesetzes eine viel intensivere Lust als in unseren früheren Fällen als Hüter desselben. Das hohe Ziel unserer Mission, das Bewusstsein, selbstlos und ritterlich zu handeln, der scheußliche Charakter unseres Feindes, alles trug dazu bei, das Interesse am Gelingen unseres Abenteuers zu erhöhen. Ich dachte gar nicht mehr an eine Schuld, sondern war trotz der Gefahr froh und guten Mutes. Voll Bewunderung sah ich Holmes zu, wie er sein Diebeswerkzeug auseinanderbreitete und mit der Ruhe und wissenschaftlichen Sorgfalt eines Operateurs das passende Instrument aussuchte. Ich wusste, dass das Öffnen von Schränken sein Steckenpferd war, und ich begriff die offensichtliche Freude, die es ihm machte, sich diesem stählernen grünen Ungeheuer gegenüberzubefinden, dessen Magen verfängliche Briefschaften so mancher schönen Dame enthielt. Mit aufgekrempelten Ärmeln legte er zwei Drillbohrer, ein kleines Brecheisen und mehrere Dietriche heraus. Ich stand an der Haupttür und beobachtete mit meinen Blicken zugleich auch die anderen, auf alles gefasst, wenn auch meine Pläne für den Fall, dass wir gestört werden sollten, wirklich recht unbestimmter Natur waren. Holmes arbeitete eine halbe Stunde unter Anspannung aller Kräfte. Er legte ein Instrument hin, nahm ein anderes, und handhabte jedes mit der Gewandtheit und Fertigkeit des gelernten Mechanikers. Endlich hörte ich einen Knacks, und die große grüne Tür sprang auf, sodass ich eine große Menge Paketchen liegen sehen konnte. Sie waren alle verschnürt, versiegelt und mit einer Aufschrift versehen. Holmes nahm eins in die Hand. Bei dem flackernden Lichtschein vom Kamin her konnte man aber kaum lesen; er zog daher, weil es neben Milvertons Schlafzimmer doch gewagt gewesen wäre, das elektrische Licht anzudrehen, seine Blendlaterne hervor. Mit einem Mal hielt er inne, horchte gespannt, machte geschwind die Schranktür zu, steckte sein Handwerkszeug in die Taschen, schloss seine Blendlaterne und huschte hinter den Fenstervorhang. Mir winkte er rasch, ihm zu folgen.

Ich stand kaum neben ihm, da hörte ich auch, was seine schärferen Ohren schon eher vernommen hatten. Es war irgendwo ein Geräusch im Haus. In einiger Entfernung wurde eine Tür zugeschlagen. Ein undeutliches, dumpfes Geräusch drang an unser Ohr und gleich danach der gleichmäßige Ton von schweren Tritten, die schnell näherkamen. Es ging jemand in dem Gang draußen auf uns zu. Die Tür wurde aufgemacht und das elektrische Licht angedreht. Die Tür ging zu, und wir rochen sofort den scharfen Geruch einer starken Zigarre. Nur wenige Meter von uns entfernt marschierte jemand auf und ab. Endlich krachte ein Stuhl, und die Schritte hörten auf. Dann wurde ein Schlüssel in einem Schloss herumgedreht, und bald hörte man das Knittern von Papieren.

Bis dahin hatte ich noch nicht gewagt, hinauszulugen, aber nun nahm ich den Vorhang vorsichtig auseinander und warf einen Blick durch den unmerklichen Spalt. Dass Holmes die Gelegenheit ebenfalls benutzte, sagte mir der Druck seiner Schulter auf die meinige. Gerade vor uns und beinahe in erreichbarer Nähe erblickten wir den breiten, gekrümmten Rücken von Milverton. Wir hatten uns offenbar stark verrechnet, denn er war gar nicht in der Schlafstube gewesen, sondern hatte in einem abgelegenen Flügel des Hauses, dessen Fenster wir nicht gesehen hatten, in irgendeinem Rauch- oder Billardsalon gesessen. Die Glatze an seinem Hinterkopf leuchtete uns geradezu entgegen. Er hatte sich in seinem rotledernen Stuhl weit zurückgelehnt, die Beine lang ausgestreckt und eine lange, dunkle Zigarre im Mund. Er trug einen rötlichen Smoking mit schwarzem, schmalem Samtkragen und hielt ein großes Aktenstück in der Hand, dessen Inhalt er behaglich studierte, während er gleichzeitig große, blaue Rauchwolken in die Luft blies. Sein gelassenes Benehmen und seine gemütliche Haltung ließen nicht auf baldigen Aufbruch schließen.

Ich fühlte, wie Holmes meine Hand suchte und sie zuversichtlich drückte, als ob er sagen wollte, dass er sich der Situation gewachsen fühle und noch immer gute Hoffnung habe. Ich wusste nicht genau, ob er bemerkt hatte, was ich von meinem Standpunkt aus nur zu deutlich sehen konnte, dass nämlich die Schranktür nur unvollkommen geschlossen war, was Milverton jeden Augenblick gewahr werden konnte. Ich hatte mir fest vorgenommen, wenn ich an seinem Blick merken würde, dass es ihm aufgefallen sei, sofort hervorzuspringen, ihm die Portiere zur Schlafzimmertür über den Kopf zu werfen, ihn so festzuhalten und das übrige Holmes zu überlassen. Aber Milverton sah gar nicht auf. Er war ganz in seine Papiere vertieft und wandte Blatt um Blatt um. Endlich, dachte ich, wenn er mit dem Schriftstück und der Zigarre zu Ende ist, wird er sich doch in sein Schlafgemach zurückziehen. Aber ehe er noch mit dem einen oder dem anderen fertig war, nahm die Sache eine ganz unvorhergesehene Wendung, wodurch unsere Gedanken in eine vollkommen andere Bahn gelenkt wurden.

Es war mir aufgefallen, dass Milverton schon mehrere Male nach der Uhr gesehen hatte, und einmal war er auch aufgestanden, war ein paar Schritte auf und ab gegangen und hatte sich ungeduldig wieder gesetzt. Ich ahnte jedoch nicht, dass er um diese Stunde der Nacht noch ein Stelldichein hatte, bis draußen von der Veranda her ein schwaches Geräusch an mein Ohr drang. Milverton ließ sein Schriftstück auf den Tisch sinken und setzte sich auf seinem Stuhl in Positur. Es klopfte leise an die Verandatür, und Milverton erhob sich und öffnete sie.

»Nun«, sagte er barsch, »Sie kommen nahezu eine halbe Stunde zu spät.«

Das war also die Erklärung dafür, dass die Tür nicht verschlossen und Milverton noch so spät auf war. Wir hörten das Rauschen eines Frauenkleides. Ich hatte vorhin, als Milverton sich umgedreht hatte, den Vorhang fest geschlossen, aber jetzt wagte ich wieder, ihn behutsam ein wenig auseinanderzunehmen. Er saß noch auf seinem Stuhl vor dem Schreibtisch und hielt die Zigarre taktlos im linken Mundwinkel. Vor ihm stand im hellen Schein des elektrischen Lichtes ein großes, schlankes, dunkles Weib; sie hatte einen dichten schwarzen Schleier vor und einen bis zum Boden reichenden Mantel um. Sie atmete rasch und stark, und jeder Zoll ihrer geschmeidigen Gestalt zitterte vor heftiger Erregung.

»Nun«, sagte Milverton, »Sie haben mich um ein gutes Stück Nachtruhe gebracht, meine Teure. Ich hoffe, dass Sie das zu schätzen wissen. Konnten Sie nicht zu einer anderen Zeit kommen – he?«

Die Dame schüttelte mit dem Kopf.

»Na, wenn’s nicht ging, ging’s eben nicht. Wenn Sie von der Gräfin schlecht behandelt werden, können Sie sich jetzt dafür rächen. Zum Teufel, warum zittern Sie denn so? Das ist recht! Nehmen Sie sich zusammen! Nun wollen wir das Geschäft abmachen.«

Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu und nahm ein Blatt Papier aus der Schublade.

»Sie sagen, dass Sie fünf Briefe in Ihrem Besitz haben, welche die Gräfin Albert kompromittieren. Die wollen Sie verkaufen. Ich bin ein Abnehmer dafür. Gut, so bleibt nur der Preis noch festzusetzen. Ich muss natürlich erst einen Einblick in die Schreiben nehmen, bevor ich sie Ihnen abkaufe. Wenn sie wirklich von Wert sind – heiliger Himmel, Sie sind’s?«

Das Weib hatte den Schleier vom Gesicht genommen und ihren Umhang zurückgeschlagen. Sie hatte ein dunkles, hübsches, scharfgeschnittenes Gesicht, eine feingebogene Nase, ein Paar blitzende Augen unter starken, schwarzen Brauen und einen geraden, dünnen Mund, um den ein gefährliches, grimmes Lächeln spielte.

»Jawohl, ich bin’s«, antwortete sie; »das Weib, dessen Dasein Sie ruiniert haben.«

Milverton lachte, aber der Klang seiner Stimme verriet seine Furcht.

»Sie waren zu eigensinnig«, versetzte er, »warum haben Sie mich bis zum Äußersten getrieben? Ich versichere Ihnen, dass ich aus eigenem Antrieb keiner Fliege ein Leid antun kann, aber jeder Mann hat sein Geschäft, und was sollte ich machen? Ich habe den Preis durchaus Ihren Verhältnissen entsprechend festgesetzt. Sie blieben aber hartnäckig und wollten nicht bezahlen.«

»So sandten Sie also die Briefe an meinen Gatten und brachen ihm – dem edelsten Mann, der je gelebt hat und dessen Schuhriemen zu lösen ich nicht würdig war – sein edles Herz und trieben ihn in den Tod! Sie werden noch nicht vergessen haben, dass ich Sie vorgestern Nacht an dieser Stelle anflehte und auf den Knien um Barmherzigkeit bat und dass Sie mir ins Gesicht lachten, wie Sie’s eben wieder zu tun versuchen. Nur dass Ihre zuckenden Lippen jetzt die erbärmliche Feigheit Ihres Herzens verraten. Ja, Sie haben nicht geglaubt, mich hier wiederzusehen, aber von jener Nacht her wusste ich, wie ich Sie wieder treffen würde, von Angesicht zu Angesicht und unter vier Augen. Nun, Charles Milverton, was haben Sie zu erwidern?«

»Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie mich ins Bockshorn jagen können«, antwortete er und erhob sich. »Ich brauche nur den Mund aufzutun und meine Diener zu rufen und Sie fortbringen zu lassen. Ich will jedoch Ihrem erklärlichen Zorn Rechnung tragen und Sie schonen. Verlassen Sie sofort dieses Zimmer auf demselben Weg, auf dem Sie gekommen sind, weiter sage ich nichts mehr.«

Das Weib blieb stehen, sie hatte die Hand in ihrem Busen vergraben, und ihre dünnen Lippen zeigten wieder dasselbe unheilvolle Lächeln.

»Sie sollen in Zukunft kein Leben mehr zugrunde richten, wie Sie meines zugrunde gerichtet haben. Sie sollen keine Herzen mehr zerfleischen, wie Sie meines zerfleischt haben. Ich will die Welt von einem giftigen Geschwür befreien. Hier haben Sie Ihren Lohn, Sie Hund, hier! – hier! – hier! – hier!«

Sie hatte einen kleinen blitzenden Revolver hervorgezogen und ungefähr einen Fuß vor Milvertons Brust vier Schüsse auf ihn abgefeuert. Er fuhr zurück und fiel über den Schreibtisch, furchtbar keuchend und in den Papieren herumkratzend. Dann richtete er sich in die Höhe, erhielt noch zwei Schüsse und sank zu Boden. »Ich bin getroffen«, rief er. Dann regte er sich nicht mehr. Das Weib sah ihn starr an und versetzte ihm noch einen Fußtritt ins Gesicht. Sie sah ihn wieder an, er gab aber kein Lebenszeichen mehr von sich. Wir hörten eine Tür aufreißen, die kalte Nachtluft wehte in das heiße Zimmer, und die Rächerin war fort.

Wir hätten den Mann durch unser Eingreifen nicht von seinem Geschick erretten können. Aber als das Weib Kugel auf Kugel auf den sich zusammenkrampfenden Körper Milvertons abfeuerte, wollte ich doch hinausspringen. Da fühlte ich meines Freundes starken Arm. Ich verstand, warum er mich mit fester Hand zurückhielt – dass es uns nichts angehe; dass einen Schurken die gerechte Strafe getroffen habe; dass wir uns und unsere eigenen Pflichten und Ziele im Auge behalten mussten. Kaum war die Frau hinaus, als Holmes geschwind an die andere Tür eilte und leise den Schlüssel herumdrehte. Sofort wurden auch Stimmen laut und rasche Schritte hörbar. Der Knall der Schüsse hatte die Dienerschaft des Hauses munter gemacht. In aller Eile ging Holmes an den Schrank, nahm einen ganzen Arm voll Bündel mit Briefschaften heraus und warf sie ins Feuer. Dies wiederholte er, bis der Schrank leer war. Draußen arbeitete inzwischen jemand an der Klinke und schlug gegen die Tür. Holmes warf einen flüchtigen Blick im Zimmer umher. Der Brief, der Milvertons Todesbote gewesen war, lag mit Blut besudelt auf dem Tisch. Er warf ihn schnell in das knisternde Feuer und goss rasch das Öl aus seiner Laterne darüber, sodass die Flammen hoch aufschlugen. Dann öffnete er die äußere Tür, und nachdem wir draußen waren, schloss er sie von außen zu. »Hierher, Watson«, sagte er zu mir; »hier können wir über die Gartenmauer klettern.«

Man hätte es nicht glauben sollen, wie schnell der Lärm sich verbreitete. Als wir uns umblickten, war bereits das ganze mächtige Gebäude erleuchtet. Der Haupteingang war offen, und dunkle Gestalten liefen den Weg hinunter. Der ganze Garten stand voll Menschen, und ein Kerl erhob ein Mordsgeschrei, als er uns aus der Veranda kommen sah und war uns eng auf den Fersen. Holmes schien die Wege genau zu kennen, er lief geschwind durch eine Anpflanzung von jungen Bäumchen, ich folgte ihm auf dem Fuß, und hinter uns her keuchte unser vorderster Verfolger. Eine sechs Fuß hohe Mauer versperrte uns den Weg, aber Holmes setzte mit einem Sprung darüber hinweg. Als ich darüberkletterte, bemerkte ich, dass mich der Bursche hinten am Fuß fasste. Ich machte mich aber durch einige Fußtritte wieder frei und fiel auf der anderen Seite mit dem Oberkörper in die Hecke. Holmes brachte mich rasch wieder auf die Beine, und weiter ging’s im Galopp über die weite Hampsteader Heide, unser Verfolger hinter uns her. Als wir wenigstens zwei Meilen gelaufen waren, machte Holmes endlich Halt und horchte. Hinter uns war alles ganz still. Wir hatten unsere Verfolger abgeschüttelt und befanden uns in Sicherheit.

Am Morgen nach dieser denkwürdigen Nacht saßen wir am Frühstückstisch und rauchten unsere Pfeife, als Mr Lestrade von Scotland Yard mit feierlicher, ernster Miene unser bescheidenes Wohnzimmer betrat.

»Guten Morgen, Mr Holmes«, sagte er; »guten Morgen. Darf ich Sie vielleicht fragen, ob Sie augenblicklich sehr beschäftigt sind?«

»Nicht so, dass ich keine Zeit hätte, Sie zu hören.«

»Ich möchte Sie nämlich, wenn Sie nichts Besonderes vorhaben, bitten, uns Ihre Hilfe in einem äußerst merkwürdigen Fall, der sich erst vergangene Nacht in Hampstead ereignet hat, angedeihen zu lassen.«

»Nanu!«, sagte Holmes. »Was war denn da wieder los?«

»Ein Mord – ein höchst theatralischer und eigenartiger Mord. Ich weiß, wie gerne und wie scharfsichtig Sie solche Fälle untersuchen, und Sie würden mir eine große Gunst erweisen, wenn Sie mit hinunter nach Appledore Towers fahren und uns beraten wollten. Es handelt sich um kein gewöhnliches Verbrechen. Wir haben schon eine ganze Zeit lang ein wachsames Auge auf den Ermordeten – Milverton heißt er – geworfen, und, unter uns gesagt, er war eine Art Gauner. Er verschaffte sich, wie die Polizei bestimmt weiß, Papiere und übte dann Erpressungen damit aus. Diese Briefschaften sind sämtlich von den Mördern verbrannt worden. Wertgegenstände sind nicht entwendet worden; daraus geht hervor, dass die Verbrecher den besseren Ständen angehört und nur den Zweck verfolgt haben, gesellschaftliche Bloßstellungen zu verhüten.«

»Die Verbrecher?«, sagte Holmes. »Mehrere?«

»Ja, es sind ihrer zwei gewesen. Sie wären beinahe ergriffen worden. Wir haben ihre Fußabdrücke, wir haben auch eine Beschreibung von ihnen; und es ist zehn gegen eins zu wetten, dass wir sie aufspüren. Der erste Bursche war etwas zu flink, aber den zweiten hat ein Gärtnergehilfe erwischt, und er ist erst nach heftiger Gegenwehr entkommen. Es war ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann – mit starken Kiefern, festem Nacken, Schnurrbart und einer schwarzen Maske vor dem oberen Teil des Gesichts.«

»Das ist eine ziemlich unbestimmte Beschreibung«, sagte mein Freund Holmes. »Ei der Daus, die könnte ja beinahe auf Watson passen.«

»Das ist wahr«, meinte der Inspektor belustigt. »Es könnte eine Beschreibung des Herrn Doktor sein.«

»Ich muss Ihnen leider meine Hilfe in diesem Fall versagen, Lestrade«, bemerkte Holmes. »Ich habe diesen Milverton gründlich gekannt, ihn als einen der gefährlichsten Gauner in ganz London angesehen, und meiner Meinung nach gibt es gewisse Verbrechen, gegen welche das Gesetz nicht ankommen kann und gegen die daher, innerhalb gewisser Grenzen, die private Rache gerechtfertigt ist. Alles Überreden ist zwecklos. Meine Sympathien in diesem Fall sind mehr auf Seiten der Verbrecher als auf Seiten des Opfers, und ich lehne es darum ab, hier irgendwie handelnd einzugreifen.«

Holmes hatte über die tragische Szene, der wir beigewohnt hatten, noch kein Wort zu mir geäußert, aber ich bemerkte jeden Morgen an ihm, dass er sehr nachdenklich war, und aus seinem Blick und seinem Benehmen war zu schließen, dass er sich bemühte, sich irgendeine Erinnerung ins Gedächtnis zurückzurufen. Mitten im Frühstück sprang er eines Tages plötzlich vom Stuhl auf und rief: »Bei Gott, Watson; ich hab’s! Nehmen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit!« In größter Eile ging’s die Baker Street hinunter und die Oxford Street entlang bis fast an den Regent’s Circus. Hier befand sich links ein Schaufenster, in dem Fotografien berühmter Männer und schöner Frauen ausgestellt waren. Holmes fasste eines dieser Bilder scharf ins Auge. Ich folgte seinem Blick und sah das Bildnis einer fürstlichen, stattlichen Dame in Hofkostüm und mit einer diamantenen Krone auf dem fein geschnittenen Kopf. Ich betrachtete die fein gebogene Nase, die charakteristischen Augenbrauen, den geraden Mund und das energische kleine Kinn. Als ich dann darunter den Namen des bedeutenden und hochangesehenen Staatsmannes von altem Adel las, dessen Gemahlin sie war, blieb mir vor Staunen fast der Atem stehen. Mein Blick begegnete dem meines Freundes.

Sherlock Holmes legte, als wir von dem Fenster weggingen, statt eine Antwort zu geben, den Finger vor den Mund.