»Wer die Kunst um ihrer selbst willen liebt«, begann eines Tages Sherlock Holmes, indem er das Anzeigenblatt des ›Telegraph‹ aus der Hand legte, »der findet häufig in den unwichtigsten und geringfügigsten Erscheinungen den höchsten Genuss. Wie ich mit Vergnügen sehe, haben Sie sich, mein lieber Watson, diese Wahrheit bis zu einem gewissen Grad zu eigen gemacht. Haben Sie doch in den kurzen Berichten über unsere Fälle, die Sie aufzuzeichnen und – ich muss es sagen – gelegentlich auch auszuschmücken so freundlich waren, nicht sowohl die vielen ›causes célèbres‹ und sensationellen Prozesse, in denen ich eine Rolle gespielt habe, in den Vordergrund gestellt, als vielmehr jene kleinen Fälle, die – obwohl an sich vielleicht alltäglicher Art – mir doch oft gerade Gelegenheit zu den streng folgerichtigen Beweisführungen und Schlüssen gaben, die meine eigenste Spezialität bilden.«
»Und doch«, versetzte ich, »kann ich mich selbst nicht ganz von dem Vorwurf der Sensationssucht freisprechen, der gegen meine Berichte schon erhoben worden ist.«
»Sie haben vielleicht den Fehler gemacht«, fuhr er fort, während er mit einem Stückchen glühender Kohle aus dem Kamin seine lange Weichselrohrpfeife anbrannte, die er an Stelle der Tonpfeife zu nehmen pflegte, wenn er sich eher in streitbarer als in beschaulicher Stimmung befand – »Sie haben vielleicht den Fehler gemacht, dass Sie sich bemüht haben, allen unseren Leistungen Farbe und Leben zu verleihen, statt sich auf die Darstellung meiner streng logischen Schlussfolgerungen von der Ursache auf die Wirkung zu beschränken, die in Wirklichkeit das einzig Bemerkenswerte an der ganzen Sache bilden.«
»Ich denke doch, ich habe Ihnen dabei volle Gerechtigkeit angedeihen lassen«, entgegnete ich etwas kühl, denn mir war das starke Selbstgefühl zuwider, welches, wie ich mich schon mehr als einmal überzeugt hatte, einen ziemlich ausgesprochenen Zug in meines Freundes merkwürdigem Charakter bildete.
»Nein, es ist nicht Eigenliebe oder Einbildung von mir«, bemerkte er darauf, indem er nach seiner Gewohnheit nicht meine Äußerung beantwortete als vielmehr das, was ich dabei gedacht hatte. »Wenn ich volle Gerechtigkeit für meine Kunst verlange, so tue ich das, weil ich dieselbe als etwas Unpersönliches – als etwas über mir Stehendes betrachte. Verbrechen kommen alle Tage vor, streng folgerichtiges Denken findet sich selten. Deshalb hätten Sie sich mehr bei dem Letzteren als bei Ersterem aufhalten sollen. Statt einer Reihe belehrender Vorträge ist unter Ihrer Hand ein ganz gewöhnliches Geschichtenbuch entstanden.«
Es war ein kalter Morgen am Beginn des Frühjahrs, als wir nach dem Frühstück unter solchen Reden bei einem munter flackernden Feuer in dem alten Zimmer in der Baker Street beisammensaßen. Dicker Nebel wallte zwischen den schwärzlichen Häuserreihen, und die Fenster gegenüber nahmen sich hinter den schweren gelben Dunststreifen aus wie dunkle, formlose Flecken. Unsere Gaslampe brannte und warf ihren blendenden Schein auf das weiße Tischzeug, das blinkende Porzellan und Silberzeug unseres noch nicht abgedeckten Frühstückstisches. Holmes war den ganzen Morgen über sehr schweigsam gewesen und hatte sich ununterbrochen in den Anzeigenteil einer ganzen Reihe von Zeitungen vertieft, bis er schließlich seine Nachforschungen aufgab und in nicht besonders rosiger Laune aus seiner Versunkenheit erwachte, um mir über meine schriftstellerischen Missgriffe eine Vorlesung zu halten.
»Sensationssucht«, fuhr er nach einer langen Pause fort, während deren er immerzu Wolken aus seiner Pfeife geblasen und in das Kaminfeuer geblickt hatte, »wird man Ihnen übrigens kaum zur Last legen können; handelt es sich doch bei einem guten Teil der Fälle, die Sie Ihres Interesses gewürdigt haben, gar nicht um Verbrechen im strengen Sinn des Wortes. Eher sind Sie vielleicht über dem Bestreben, dem Sensationellen aus dem Weg zu gehen, ins Alltägliche verfallen.«
»Dies lässt sich wohl manchmal von dem Ausgang sagen, die Methode aber, nach der die Behandlung der Fälle erfolgte, war stets eigenartig und interessant, dabei bleibe ich.«
»Ach was, mein lieber Freund, was kümmert sich das Publikum, das große, oberflächliche Publikum, um die feineren Schattierungen streng logischer Ableitung und Schlussfolgerung! Aber wahrhaftig, wenn Ihre Erzählungen trivial ausfallen, so kann man Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, denn die Tage der großen Fälle sind vorüber. Die Menschheit, oder zum wenigsten die Verbrecherwelt, hat alle Kühnheit und Originalität verloren. Meine eigene bescheidene Praxis befindet sich allem Anschein nach auf dem besten Weg, zu einem Fundbüro für verlorene Gegenstände und zu einer Auskunftsstelle für Schullehrerinnen herabzusinken. Schlimmer kann es übrigens jetzt wohl kaum mehr werden. Mit dieser Zuschrift, die ich heute früh erhielt, dürfte ich vermutlich beim Nullpunkt angelangt sein. Da, lesen Sie!« Damit warf er mir einen ganz zerknitterten Brief hin. Er war den Abend vorher am Montague Square geschrieben und lautete:
Werter Mr Holmes!
Ich bin im Zweifel, ob ich eine mir angebotene Gouvernantenstelle annehmen soll oder nicht und möchte sehr gerne Ihren Rat in der Sache in Anspruch nehmen. Wenn ich Sie nicht störe, werde ich morgen Vormittag um halb elf Uhr bei Ihnen vorsprechen. Ihre ergebene
Violet Hunter
»Kennen Sie die Schreiberin?«, fragte ich.
»Nein.«
»Es ist gerade halb elf.«
»Jawohl, und ich glaube, ich höre sie eben klingeln.«
»Die Sache kann interessanter ausfallen, als Sie denken; Sie erinnern sich doch der Geschichte mit dem blauen Karfunkel, die sich zuerst ganz wie eine Posse ausnahm und sich dann zu einem wichtigen Kriminalfall entwickelte. So kann es diesmal auch gehen.«
»Nun, wir wollen hoffen! Wir werden ja nicht lange im Zweifel darüber sein. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist die Schreiberin des Briefchens bereits zur Stelle.«
Er hatte noch nicht ausgeredet, als die Tür aufging und eine junge Dame eintrat. Sie war einfach, aber hübsch gekleidet, hatte ein frisches aufgewecktes Gesicht voll Sommersprossen und verriet durch ihr entschiedenes Auftreten, dass sie sich bis dahin allein hatte durch die Welt schlagen müssen.
»Sie nehmen mir doch nicht übel, dass ich Sie belästige?«, begann sie, als mein Freund sich erhob, um sie zu begrüßen; »aber es ist mir etwas höchst Sonderbares begegnet, und da ich keine Eltern oder sonstige Angehörige habe, die ich um Rat fragen könnte, dachte ich, Sie wären vielleicht so freundlich, mir zu sagen, was ich tun soll.«
»Bitte, nehmen Sie Platz, Miss Hunter. Mit Vergnügen stehe ich Ihnen in jeder Weise zu Diensten.«
Ich sah wohl, dass Holmes sich von dem Wesen und der Ausdrucksweise seiner neuen Klientin angenehm berührt fühlte. Er ließ den Blick prüfend über sie hingleiten und setzte sich dann mit gesenkten Lidern und aneinandergelegten Fingerspitzen zurecht, um ihrer Geschichte zuzuhören.
»Ich war fünf Jahre lang Erzieherin in der Familie des Obersten Spence Munro«, begann sie. »Allein vor etwa zwei Monaten erhielt derselbe einen Posten in Halifax in Neu-Schottland und nahm seine Kinder mit, sodass ich meine Stelle verlor. Längere Zeit suchte ich durch die Zeitungen nach einem passenden Platz, jedoch ohne Erfolg. Zuletzt begann die kleine Summe, die ich mir erübrigt hatte, zur Neige zu gehen, und ich wusste mir nun nicht mehr zu helfen.
In dem bekannten Westaway’schen Stellenvermittlungsbüro im Westend pflegte ich so ziemlich jede Woche einmal nachzufragen, ob sich nicht etwas für mich gezeigt habe. Als ich nun vorige Woche von der Inhaberin des Büros, Miss Stoper, in ihr Privatkabinett gerufen wurde, fand ich einen Herrn an ihrer Seite sitzen. Er war von ungeheurer Körperfülle, und sein mächtiges Kinn fiel ihm in mehrfachen Falten auf die Brust herab; dabei hatte er äußerst freundliche Züge und trug einen Zwicker auf der Nase, durch den er die eintretenden jungen Damen angelegentlichst musterte.
Bei meinem Eintritt schnellte er förmlich von seinem Stuhl empor und wandte sich hastig zu Miss Stoper. ›Das ist die Rechte‹, sagte er, ›ich könnte gar nichts Besseres finden. Herrlich, herrlich!‹ Er schien ganz entzückt, rieb sich die Hände vor Vergnügen und machte einen solchen Eindruck von Wohlbehagen, dass es eine wahre Freude war, ihn anzuschauen.
›Sie wollen sich nach einer Stelle umsehen, Miss?‹, redete er mich an.
›Jawohl.‹
›Als Gouvernante?‹
›Ja.‹
›Und welches sind Ihre Gehaltsansprüche?‹
›In meiner letzten Stelle, bei Oberst Munro, hatte ich vier Pfund monatlich.‹
›Oh, ho, ho! Eine wahrhaft hundemäßige Bezahlung!‹, rief er, mit seinen fetten Händen in der Luft herumfahrend, als befände er sich in höchster Aufregung. ›Wie kann man nur einer Dame von so hervorragenden Eigenschaften und Leistungen eine so erbärmliche Summe bieten!‹
›Meine Leistungen sind doch vielleicht nicht so bedeutend, als Sie glauben‹, bemerkte ich. ›Etwas Französisch, etwas Deutsch, Musik und Zeichnen.‹
›Ah, pah, pah‹, rief er, ›das kommt alles nicht infrage. Ob Sie Erscheinung und Benehmen einer Dame von Stand haben oder nicht, darauf allein kommt es an. Ist dies nicht der Fall, so eignen Sie sich nicht zur Erziehung eines Kindes, dem eines Tages vielleicht eine wichtige Rolle in der Geschichte des Landes zufallen wird. Trifft es aber zu, wie konnte Ihnen dann ein anständiger Mann zumuten, sich mit weniger als hundert Pfund zu begnügen? Bei mir würde Ihr Gehalt mit diesem Betrag beginnen.‹
Sie können sich vorstellen, Mr Holmes, dass mir in meiner bedrängten Lage dies Angebot so verlockend erschien, dass ich kaum meinen Ohren traute. Der Herr jedoch, der vielleicht den ungläubigen Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte, nahm nun eine Banknote aus seiner Brieftasche.
›Es ist außerdem meine Gewohnheit‹, fuhr er fort und verzog dabei sein Gesicht zu einem so liebenswürdigen Lächeln, dass seine Augen nur noch wie zwei glänzende Streifen zwischen den sie umgebenden Falten hervorblitzten, ›meinen jungen Damen die Hälfte ihres Gehaltes im Voraus auszuhändigen, damit ihnen die kleinen Auslagen für die Reise und für ihre Garderobe nicht schwer fallen.‹
Eine derartige Liebenswürdigkeit und Rücksicht war mir, soweit ich mich erinnern konnte, in meinem ganzen Leben noch bei keinem Herrn vorgekommen. Da ich bereits Schulden bei meinen Lieferanten hatte, so kam mir der Vorschuss sehr gelegen; aber trotzdem lag etwas Unnatürliches in dem ganzen Handel, das in mir den Wunsch erweckte, noch einiges Nähere zu erfahren, ehe ich mich völlig band.
›Darf ich fragen, wo Sie wohnen?‹, fragte ich.
›Hampshire – Copper Beeches; reizender Landsitz fünf Meilen hinter Winchester. Sie können sich keine anmutigere Gegend, keine heimlichere Behausung denken, mein liebes Fräulein.‹
›Und meine Obliegenheiten? Darüber möchte ich doch auch gerne etwas erfahren.‹
›Ein einziges Kind, ein kleiner, lieber Bengel von genau sechs Jahren. Wenn Sie sehen könnten, wie er Schaben und andere Käfer mit dem Pantoffel totschlägt! Klatsch, klatsch! geht es, und im Nu sind sie kaputt.‹ Dabei lehnte er sich in den Stuhl zurück und lachte wieder, dass seine Augen völlig verschwanden.
Ich war nicht wenig verdutzt über den eigentümlichen Zeitvertreib des Kindes, allein da dessen Vater so darüber lachte, dachte ich, er mache vielleicht Scherz.
›Meine einzige Obliegenheit wäre also‹, fragte ich weiter, ›für das eine Kind zu sorgen?‹
›Nein, nein, das ist nicht alles!‹, rief er. ›Sie wären außerdem verpflichtet, was Sie ja gewiss als selbstverständlich betrachten würden, den Weisungen vonseiten meiner Frau nachzukommen, vorausgesetzt, dass deren Befolgung für eine gebildete Dame keinerlei Anstoß böte. Dagegen haben Sie doch kein Bedenken, wie?‹
›Es wird mir ein Vergnügen sein, mich nützlich machen zu können.‹
›Nun, ja, zum Beispiel was die Kleidung betrifft. Wir sind wunderliche Leute, wissen Sie – wunderlich, aber gutmütig, Falls wir von Ihnen verlangten, ein Kleid von uns anzuziehen, würden Sie keinen Einwand gegen diesen kleinen Wunsch erheben, nicht wahr?‹
›Nein‹, erwiderte ich, ziemlich erstaunt über diese Äußerung.
›Oder sich dahin und dorthin zu setzen – daran würden Sie doch keinen Anstoß nehmen?‹
›Oh nein.‹
›Oder vor Ihrem Eintritt bei uns Ihr Haar ganz kurz abzuschneiden?‹
Ich traute meinen Ohren kaum. Wie Sie vielleicht bemerken, Mr Holmes, ist mein Haar ziemlich üppig und hat eine ganz besondere kastanienbraune Färbung, die schon von künstlerischer Seite Beachtung gefunden hat. Es fiel mir deshalb nicht ein, es so kurzerhand einfach zu opfern.
›Ich bedaure, aber das geht schlechterdings nicht‹, erwiderte ich. Er hatte seine kleinen Augen voll gespannter Erwartung auf mich geheftet, und ich sah, wie bei meiner Antwort ein Schatten über seine Züge flog.
›Leider ist dieser Punkt ganz wesentlich‹, sagte er. ›Es ist das eine kleine Grille von meiner Frau, und auf weibliche Grillen muss man Rücksicht nehmen, wissen Sie, Fräulein. Also, Sie wollen Ihr Haar wirklich nicht abschneiden?‹
›Nein, dazu könnte ich mich in der Tat unmöglich entschließen‹, antwortete ich fest.
›So, dann muss ich leider verzichten. Es ist schade, denn Sie würden sonst wirklich sehr hübsch gepasst haben. Unter diesen Umständen, Miss Stoper, möchte ich gerne noch ein paar von Ihren jungen Damen sehen.‹
Die Genannte hatte sich die ganze Zeit über mit ihren Papieren zu schaffen gemacht, ohne an einen von uns beiden ein Wort zu richten, allein nun warf sie mir einen so unfreundlichen Blick zu, dass ich nicht anders annehmen konnte, als dass ich sie durch meine abschlägige Antwort um eine recht ansehnliche Vermittlungsgebühr gebracht habe.
›Wünschen Sie noch länger vorgemerkt zu bleiben?‹, fragte sie mich.
›Bitte, ja, Miss Stoper.‹
›Nun, das wird wohl keinen großen Wert haben, da Sie die vortrefflichsten Anerbietungen in dieser Weise ausschlagen. Sie können doch kaum von uns erwarten, dass wir uns noch viele Mühe geben werden, Ihnen abermals eine solche Gelegenheit zu verschaffen. Guten Tag, Miss Hunter.‹ Damit gab sie dem Türsteher das Zeichen, mich hinauszugeleiten.
Als ich nun wieder zu Hause war, Mr Holmes, und dort nichts vorfand als eine ziemlich leere Speisekammer und auf dem Tisch zwei oder drei Rechnungen, da begann ich mir doch die Frage vorzulegen, ob ich nicht einen törichten Streich gemacht habe. Denn schließlich, wenn diese Leute absonderliche Launen hatten und höchst merkwürdige Dinge von einem verlangten, so zahlten sie auch gehörig dafür. Hundert Pfund im Jahr verdienen nur sehr wenige Gouvernanten in England. Und dann, was nützten mir meine Haare? Es gibt viele, denen sie kurz geschnitten besser stehen; vielleicht gehöre ich auch zu dieser Zahl. Am nächsten Tag neigte ich bereits sehr der Auffassung zu, dass ich einen Fehler begangen hätte, und am dritten war ich fest davon überzeugt. Ich hatte meinen Stolz schon beinahe so weit überwunden, dass ich nochmals auf dem Büro nachfragen wollte, ob die Stelle noch offen sei, als ich von dem Herrn selbst diesen Brief hier erhielt. Ich will Ihnen denselben vorlesen:
The Copper Beeches bei Winchester.
Wertes Fräulein!
Miss Stoper war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben; ich schreibe Ihnen deshalb von hier aus, um bei Ihnen anzufragen, ob Sie sich Ihren Entschluss noch einmal überlegt haben. Meine Frau wünscht sehr, dass Sie bei uns eintreten; sie ist ganz entzückt von der Schilderung, die ich ihr von Ihnen gemacht habe. Wir sind bereit, 30 Pfund das Vierteljahr, also jährlich 120 Pfund zu geben, um Sie für alle Unannehmlichkeiten, die Ihnen etwa aus unseren Grillen erwachsen könnten, schadlos zu halten. Im Grunde wollen diese Letzteren übrigens gar nicht so viel bedeuten. Meine Frau hat eine Vorliebe für eine ganz bestimmte Schattierung von ›bleu électrique‹ und wünscht deshalb, dass Sie morgens im Haus ein Kleid von dieser Farbe tragen. Sie brauchen sich jedoch ein solches nicht anzuschaffen, da wir selbst eines besitzen, das meiner zur Zeit in Philadelphia befindlichen lieben Tochter gehörte und das Ihnen vermutlich vollkommen passen wird. Unsere besonderen Wünsche wegen des Ortes, wo Sie sich hinsetzen, oder wegen der Art, wie Sie sich die Zeit vertreiben sollen, werden Ihnen keinerlei Unannehmlichkeit verursachen. Was Ihr Haar betrifft, so ist es schade darum; mir selbst ist während unseres kurzen Zusammenseins dessen Schönheit aufgefallen, allein leider muss ich auf diesem Punkt unwiderruflich beharren und will nur hoffen, dass Sie in der Erhöhung Ihres Gehalts einen Ersatz für den Verlust finden. Ihre Obliegenheiten bei dem Kind sind nicht schwer. Also machen Sie den Versuch; ich werde Sie von Winchester in meinem Wagen abholen. Lassen Sie mich wissen, mit welchem Zug Sie eintreffen.
Ihr ergebener
Jephro Rucastle.
Dies ist der Brief, und ich bin entschlossen, die Stelle anzunehmen. Ehe ich jedoch den entscheidenden Schritt tue, wollte ich gerne die ganze Angelegenheit noch Ihrer Erwägung unterbreiten.«
»Wenn Sie sich bereits entschlossen haben, Miss Hunter, so ist die Frage ja schon entschieden«, meinte Holmes lächelnd.
»Sind Sie denn der Ansicht, ich sollte sie lieber abschreiben?«
»Hätte eine Schwester von mir Aussicht auf diese Stelle, wäre mir dies nicht gerade erwünscht, das muss ich gestehen.«
»Wie soll man sich nur alles erklären, Mr Holmes?«
»Ohne nähere Anhaltspunkte möchte ich keine Vermutung aussprechen. Vielleicht haben Sie sich selbst eine Ansicht darüber gebildet?«
»Ich kann mir nur eine einzige Erklärung dafür denken. Mr Rucastle machte einen sehr freundlichen, gutmütigen Eindruck. Wäre es nicht möglich, dass seine Frau verrückt ist und dass er dies geheimzuhalten sucht, damit sie nicht etwa in eine Anstalt verbracht wird, und dass er ihren tollen Launen in jeder Weise entgegenkommt, um einem Ausbruch vorzubeugen?«
»Diese Erklärung hat, wie die Sache liegt, in der Tat am meisten für sich. So viel ist jedenfalls sicher, dass eine solche Häuslichkeit nichts Anziehendes für eine junge Dame hat.«
»Aber das Gehalt, Mr Holmes, das Gehalt!«
»Nun ja, freilich, die Bezahlung ist gut – zu gut; das ist es gerade, was mir nicht behagen will. Warum bezahlt man Ihnen 120 Pfund im Jahr, während unter gewöhnlichen Verhältnissen 40 Pfund vollauf genügen? Dahinter muss ein ganz gewichtiger Grund stecken.«
»Ich dachte, es wäre gut, Sie in die Verhältnisse einzuweihen, damit Sie wissen, um was es sich handelt, falls ich später einmal Ihrer Hilfe bedürfen sollte. Das Bewusstsein, dass Sie hinter mir stehen, würde mir viel mehr Mut verleihen.«
»Nun, dieses Bewusstsein dürfen Sie getrost mitnehmen. Ich versichere Ihnen, dass Ihr kleines Problem das interessanteste zu werden verspricht, das mir seit mehreren Monaten vorgekommen ist. Es bietet einige Züge ganz besonderer, überraschender Art. Sollten Sie sich je einmal in Zweifel oder in Gefahr befinden ...«
»Gefahr? – Was für eine Gefahr denken Sie sich als möglich?«
Holmes schüttelte ernst den Kopf. »Könnten wir uns darüber bestimmt aussprechen, wäre es ja keine Gefahr mehr. Doch es bedarf nur eines Telegramms, und ich werde zu jeder Tages- oder Nachtstunde zu Ihrem Beistand bereit sein.«
»Das genügt.« Damit erhob sie sich frisch und munter, und ihre Züge zeigten keine Spur von Ängstlichkeit mehr. »Nun gehe ich ganz guten Mutes meiner neuen Bestimmung entgegen. Ich werde Mr Rucastle unverzüglich schreiben, mein teures Haar heute Abend opfern und morgen nach Winchester fahren.«
»Die junge Dame scheint mir Manns genug zu sein, sich selbst zu beschützen«, bemerkte ich, als wir ihren raschen, festen Schritt auf der Treppe hörten.
»Sie wird es wohl auch tun müssen«, erwiderte Holmes ernst; »wenn ich mich nicht sehr täusche, werden wir schon in wenigen Tagen Nachricht von ihr erhalten.«
Es dauerte auch gar nicht lange, so ging seine Vorhersage in Erfüllung. Während der nächsten vierzehn Tage ertappte ich meine Gedanken häufig auf der Wanderung zu dem alleinstehenden Mädchen, das vom Schicksal auf einen so rätselhaften Irrweg verschlagen worden war. Das ungewöhnlich hohe Gehalt, die sonderbaren Bedingungen, die leichten Obliegenheiten – dies alles war ganz gegen die Regel, und doch konnte ich schlechterdings nicht mit mir darüber ins Reine kommen, ob es sich dabei nur um eine verrückte Laune oder um einen verbrecherischen Zweck handelte und ob der Mann ein philanthropischer Schwärmer oder ein Schurke war. Was Holmes betrifft, so sah ich ihn oft eine volle halbe Stunde lang mit gerunzelten Brauen in tiefes Nachdenken versunken dasitzen; fing ich jedoch von der Sache an, winkte er immer ab. »Tatsachen, Tatsachen!«, rief er ungeduldig aus. »Ich muss doch vor allem festen Grund unter den Füßen haben.« Wenn er sich aber dann erhob, machte er jedesmal die Bemerkung, seiner eigenen Schwester würde er niemals gestattet haben, eine derartige Stelle anzunehmen. Das erwartete Telegramm traf eines Abends spät ein, als ich eben im Begriff war, mich zurückzuziehen, und Holmes sich anschickte, seine geliebten chemischen Untersuchungen anzustellen, die ihn die ganze Nacht festhielten; hatte ich ihn doch schon oft abends über seine Gefäße und Gläser gebeugt verlassen und ihn am nächsten Morgen zur Frühstücksstunde noch in derselben Stellung getroffen. Er riss den gelben Umschlag auf, überflog den Inhalt der Depesche, und dann reichte er sie mir.
»Sehen Sie gleich die Züge im Kursbuch nach«, sagte er dabei, indem er sich wieder seiner Beschäftigung zuwandte. Es war eine kurze, dringende Aufforderung. Sie lautete:
»Kommen Sie bitte morgen Mittag in den ›Schwarzen Schwan‹ in Winchester. Kommen Sie ganz bestimmt, ich weiß nicht mehr aus noch ein.
Hunter.«
»Wollen Sie mich begleiten?«, fragte Holmes aufschauend.
»Ja, gerne.«
»Dann sehen Sie nur gleich nach.«
»Ein Zug um halb zehn Uhr«, sagte ich, in mein Kursbuch blickend, »trifft in Winchester um halb zwölf Uhr ein.«
»Das passt ja ganz gut. Dann will ich meine Untersuchung hier lieber auf sich beruhen lassen, denn wir müssen morgen früh frisch und munter sein.«
Am nächsten Vormittag befanden wir uns gegen elf Uhr nicht mehr weit vom Ziel unserer Fahrt. Holmes hatte sich während der ganzen Zeit in die Morgenblätter vergraben. Als wir jedoch auf dem Gebiet von Hampshire angelangt waren, warf er sie beiseite, um seine Blicke an der Gegend zu weiden. Es war ein wundervoller Frühlingstag, am lichtblauen Himmel flogen weiße Federwölkchen hin, und bei dem hellen Sonnenschein lag in der Luft etwas wonnig Erfrischendes. Rings in der Runde bis zu den fernen Hügeln von Aldershot blickten allenthalben die roten und grauen Dächer der Gehöfte aus dem zarten jungen Grün hervor.
»Wie frisch und hübsch diese Häuschen daliegen!«, rief ich mit der Begeisterung eines Menschen, der eben erst die Nebeldünste Londons hinter sich gelassen hatte.
Doch Holmes schüttelte ernst den Kopf. »Wissen Sie, Watson«, meinte er, »das gehört mit zu den Schattenseiten meiner Geistesanlage, dass ich immer alles unter dem Gesichtspunkt des Falles ansehen muss, der mich gerade beschäftigt. Sie haben beim Anblick dieser zerstreuten Behausungen nur die Empfindung ihrer Schönheit. Ich dagegen muss immer daran denken, wie einsam sie liegen und wie leicht sich darin ein Verbrechen begehen lässt, das seiner Strafe entgeht.«
»Gütiger Himmel«, rief ich aus, »wer möchte bei diesen lieben alten Heimstätten an Verbrechen denken?«
»Mich erfüllen sie stets mit einem gewissen Schauder. Nach meinen Erfahrungen bin ich fest überzeugt: Die verrufensten Gassen Londons liefern keine so reiche Ausbeute an Missetaten als dieses lachende Gelände hier.«
»Das klingt ja ganz entsetzlich!«
»Und doch liegt der Grund sehr nahe. In der großen Welt tritt die öffentliche Meinung ergänzend ein, wo die Macht des Gesetzes nicht ausreicht. Da gibt es keine noch so elende Gasse, wo der Schmerzensschrei eines gequälten Kindes oder die rohe Gewalttat eines Trunkenbolds nicht Mitleid und Empörung bei den Nachbarn erweckte, auch sind sämtliche Werkzeuge der Rechtspflege jederzeit so bei der Hand, dass ein Wort der Klage hinreicht, um sie in Bewegung zu setzen, und es ist nur ein Schritt vom Verbrechen zum Gefängnis. Betrachten Sie dagegen diese einsamen Häuser, umgeben von eigenem Grund und Boden, bewohnt von armem, unwissendem Volk, das Gesetz und Recht kaum von ferne kennt. Stellen Sie sich die Taten höllischer Grausamkeit, heimlicher Verruchtheit vor, die sich vielleicht jahraus jahrein an solchen Stätten abspielen, ohne dass eine Seele es ahnt. Wäre die Familie, bei der unsere Schutzbefohlene einzutreten hatte, in Winchester, ich würde mir niemals Sorgen um sie gemacht haben; dass sie fünf Meilen von dort entfernt auf dem Land wohnt, darin liegt die Gefahr. Und doch ist sie selbst offenbar persönlich nicht bedroht.«
»Nein, wenn sie uns nach Winchester entgegenkommen kann, so darf sie ja ihren Aufenthaltsort ungehindert verlassen.«
»Gewiss. Ihre Freiheit ist ihr nicht genommen.«
»Was kann aber nur dahinterstecken? Wissen Sie denn gar keine Erklärung dafür?«
»Ich habe mir sieben verschiedene Erklärungen ausgedacht, von denen jede sich mit den Tatsachen, soweit wir solche kennen, decken würde. Aber welche die richtige ist, lässt sich nur aufgrund der neuen Mitteilungen bestimmen, die unser zweifellos harren. Nun, da ist ja bereits der Turm der Kathedrale, wir werden also bald alles wissen, was Miss Hunter uns mitzuteilen hat.«
Das Gasthaus ›Zum schwarzen Schwan‹ an der Hauptstraße, nicht fern vom Bahnhof gelegen, steht in gutem Ruf; dort fanden wir Miss Hunter bereits unser wartend. Sie hatte ein Zimmer für uns bestellt, und auf dem Tisch stand ein Imbiss bereit.
»Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie lebhaft. »Es ist sehr gütig von Ihnen beiden, aber ich weiß auch wirklich nicht, was ich tun soll. Ihr Rat wird mir von unschätzbarem Wert sein.«
»Bitte, erzählen Sie uns Ihre Erlebnisse.«
»Das will ich, und ich muss mich damit beeilen, denn ich habe Mr Rucastle versprochen, um drei Uhr zurück zu sein. Er erlaubte mir heute Vormittag, in die Stadt zu fahren; natürlich hatte er keine Ahnung, zu welchem Zweck.«
»Erzählen Sie uns nur alles hübsch in der Reihe«, wiederholte Holmes, indem er seine Beine am Feuer ausstreckte und sich zum Zuhören zurechtsetzte.
»Ich möchte gleich vorausschicken«, begann Miss Hunter, »dass mir im Großen und Ganzen keinerlei schlechte Behandlung von Mr und Mrs Rucastle widerfahren ist. Gerechterweise muss ich das hervorheben. Allein ich werde nicht klug aus den Leuten und fühle mich daher beunruhigt.«
»Was kommt Ihnen unverständlich vor?«
»Die Gründe für ihr Verhalten. Doch ich will Ihnen alles ganz genau berichten. Bei meiner Ankunft hier holte mich Mr Rucastle in seinem Jagdwagen nach Copper Beeches ab. Die Umgegend ist allerdings schön, wie er gesagt hatte, das Haus selbst aber durchaus nicht freundlich, nur ein plumpes viereckiges Gebäude, dessen weiße Tünche überall mit Flecken und Streifen von innerer und äußerer Feuchtigkeit durchzogen ist. Ringsherum ist ein freier Platz, dann erstreckt sich auf drei Seiten Wald, auf der vierten ein Feld bis zur Straße nach Southampton, die auf etwa hundert Schritt Entfernung im Bogen am Einfahrtstor vorbeiführt. Die Anlagen auf der Vorderseite gehören zum Haus, während die Wälder ringsum Lord Suthertons Privateigentum sind. Gerade vor dem Haupteingang des Hauses steht eine Gruppe Blutbuchen, von denen das Anwesen seinen Namen hat. – Während der Fahrt war Mr Rucastle, der selbst kutschierte, äußerst liebenswürdig, und noch am selben Abend stellte er mich seiner Frau und seinem Kind vor. Die Vermutung, die uns bei meinem Besuch bei Ihnen so naheliegend erschien, hat sich nicht bestätigt. Mrs Rucastle ist nicht geisteskrank. Ich fand in ihr eine stille, blasse Frau, die offenbar noch nicht dreißig Jahre alt, also bedeutend jünger ist als ihr Mann, der wohl kaum weniger als fünfundvierzig zählen wird. Aus dem Gespräch der beiden entnahm ich, dass sie seit ungefähr sieben Jahren verheiratet sind, dass er Witwer war und aus erster Ehe die eine Tochter hatte, die sich nun in Philadelphia befindet. Unter vier Augen teilte mir Mr Rucastle mit, der Grund, der sie fortgetrieben habe, sei eine ganz unvernünftige Abneigung gegen ihre Stiefmutter. Da die Tochter nicht unter zwanzig Jahren alt gewesen sein kann, lässt sich denken, dass ihre Stellung gegenüber der jungen Frau ihres Vaters nicht die angenehmste war. Mrs Rucastles geistiges Wesen ist genau so farblos wie ihr Gesicht. Sie machte gar keinen Eindruck auf mich, weder in günstigem noch in entgegengesetztem Sinn. Sie ist eine völlige Null. An ihrem Gatten und ihrem kleinen Jungen hängt sie sichtlich mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Unablässig wandern ihre hellgrauen Augen von dem einen zum anderen, um ihnen jeden geringsten Wunsch an den Augen abzulesen und demselben wenn möglich zuvorzukommen. Er seinerseits ist gegen sie ebenfalls gut in seiner plumpen, ungestümen Weise, und so musste ich sie im Ganzen für ein glückliches Paar halten. Und doch hatte sie eine geheime Sorge, diese Frau. Oft saß sie ganz in Gedanken verloren mit dem allertraurigsten Ausdruck da, mehr als einmal habe ich sie in Tränen getroffen. Manchmal dachte ich schon, sie betrübe sich so über die Sinnesart ihres Knaben, denn ein so gänzlich verdorbenes, bösartiges, kleines Wesen ist mir noch nie vorgekommen. Er ist klein für sein Alter, hat aber einen ganz unverhältnismäßig großen Kopf. Ausbrüche wilder Leidenschaft und finsterer Trotz wechseln unaufhörlich bei ihm. Geschöpfe, die schwächer sind als er, zu quälen, ist das einzige Vergnügen, nach dem er strebt, und für den Fang von Mäusen, kleinen Vögeln und Insekten verrät er eine ganz bemerkenswerte Begabung. Doch ich will über diesen Jungen lieber keine Worte mehr verlieren, er hat ja auch mit meiner Geschichte nur wenig zu schaffen.«
»Ich bin dankbar für alle Einzelheiten«, bemerkte mein Freund, »ganz gleich, ob dieselben Ihnen wichtig erscheinen oder nicht.«
»Ich werde mich bestreben, nichts von Bedeutung zu übergehen. Das einzige Unangenehme im Haus, was mir sogleich auffiel, war das Aussehen und Benehmen der Dienerschaft. Diese besteht nur aus einem Mann und dessen Frau. Toller, so heißt er nämlich, ist ein rauer, wunderlicher Mensch mit grauem Haar und Bart und riecht beständig nach geistigen Getränken. Zweimal schon, seit ich da bin, war er gänzlich betrunken, und doch schien Mr Rucastle sich nichts daraus zu machen. Seine Frau ist eine sehr große, starke Person mit mürrischem Gesicht, so schweigsam wie ihre Herrin, nur weit weniger liebenswürdig. Die beiden sind ein höchst unangenehmes Paar, allein glücklicherweise komme ich wenig mit ihnen in Berührung, denn ich bringe meine Zeit meist in der Kinderstube und in meinem eigenen Zimmer zu, welche ganz nahe beisammen in einem Flügel des Gebäudes liegen.
Die ersten zwei Tage nach meiner Ankunft in Copper Beeches ist mein Leben sehr ruhig verlaufen. Am dritten jedoch kam Mrs Rucastle gleich nach dem Frühstück herunter und flüsterte ihrem Gatten etwas zu.
›Oh ja‹, sagte dieser darauf, sich zu mir wendend; ›wir sind Ihnen sehr verbunden, Miss Hunter, dass Sie auf unsern Wunsch eingegangen sind und sich Ihr Haar abgeschnitten haben. Ich versichere Ihnen, es hat Ihrer Erscheinung nicht im mindesten Eintrag getan. Jetzt wollen wir sehen, wie Ihnen das blaue Kleid steht. Es liegt auf Ihrem Bett, und wenn Sie es anziehen wollten, so würden wir Ihnen beide sehr dankbar sein.‹
Das Kleid, das für mich bereitlag, hatte einen ganz eigentümlichen blauen Farbenton, der Stoff war ausgezeichnet, eine Art beige, doch verrieten unverkennbare Spuren, dass es früher schon getragen worden war. Es passte, wie wenn mein Maß dazu genommen worden wäre. Als sich Mr und Mrs Rucastle hiervon überzeugten, legten beide ein Entzücken an den Tag, das mir ganz unnatürlich übertrieben vorkam. Sie warteten im Wohnzimmer auf mich, einem sehr großen Raum, der die ganze Front des Hauses einnimmt und dessen drei hohe Fenster bis auf den Boden herabreichen. Am Mittelfenster, und zwar mit der Lehne dagegen, stand ein Stuhl. Auf diesen Stuhl musste ich mich setzen, während Mr Rucastle vor mir im Zimmer auf- und abging und dabei eine ganze Reihe der tollsten Geschichten zum Besten gab, die ich je gehört habe. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie komisch das war; ich wurde schließlich ganz müde vor lauter Lachen. Mrs Rucastle dagegen, die offenbar keinen Sinn für Humor besitzt, verzog den Mund nicht zum leisesten Lächeln, sondern saß, die Hände im Schoß, mit trauriger, ängstlicher Miene da. Nach einer Stunde ungefähr bemerkte Mr Rucastle plötzlich, es sei jetzt Zeit, an die täglichen Beschäftigungen zu gehen, ich könne mich wieder umkleiden und zu dem kleinen Edward ins Kinderzimmer begeben.
Zwei Tage darauf wiederholte sich dieser ganze Vorgang unter völlig ähnlichen Umständen. Wieder musste ich das andere Kleid anziehen, wieder mich ans Fenster setzen, und abermals lachte ich aus vollem Hals über Mr Rucastles tolle Geschichten, von denen er einen unerschöpflichen Vorrat besitzt und die er unnachahmlich vorträgt. Darauf gab er mir ein Buch in die Hand, rückte meinen Stuhl ein wenig zur Seite, damit mein Schatten nicht auf das Buch falle, und bat mich, ihm aus demselben laut vorzulesen. Ich musste irgendwo im Kapitel anfangen und las etwa zehn Minuten lang, bis er mich plötzlich mitten in einem Satz aufhören ließ und mir sagte, ich solle mich wieder umkleiden. Sie können sich denken, Mr Holmes, wie groß meine Neugier war, die Bedeutung dieser merkwürdigen Komödie zu erfahren. Soviel ich bemerkt hatte, waren beide Ehegatten stets eifrig bestrebt, meine Blicke vom Fenster abzuhalten; ich verging deshalb förmlich vor Begierde, zu sehen, was hinter meinem Rücken vorgehe. Zuerst kam mir dies unmöglich vor, allein bald verfiel ich auf ein Mittel. Mein Handspiegel war zerbrochen, und so kam mir der glückliche Einfall, ein Stück von dem Glas in meinem Taschentuch zu verstecken. Das nächste Mal hielt ich mir dieses beim Lachen vor die Augen und war nun mit einiger Geschicklichkeit imstande, alles hinter mir Befindliche zu sehen. Ich muss gestehen, ich war enttäuscht, denn ich bemerkte gar nichts. Wenigstens war dies mein erster Eindruck. Beim zweiten Blick jedoch sah ich einen Mann auf der Landstraße stehen, einen kleinen, bärtigen, grau gekleideten Mann, der nach mir herüberzuschauen schien. Da es eine Hauptverkehrsstraße ist, sieht man meist Leute auf derselben. Dieser Mann jedoch stand an den Zaun gelehnt, der das Grundstück umgibt, und schaute angelegentlich nach dem Fenster. Ich nahm mein Taschentuch vom Gesicht und blickte Mrs Rucastle an; ihre Augen waren mit forschendem Blick auf mich gerichtet. Sie sagte nichts, aber ich bin fest überzeugt, sie hatte erraten, dass ich einen Spiegel in der Hand hielt und gesehen hatte, was hinter mir vorging. Mit einem Mal stand sie auf.
›Jephro‹, sagte sie, ›da steht ein unverschämter Kerl auf der Straße, der zu Miss Hunter heraufschaut.‹
›Doch nicht etwa ein Bekannter von Ihnen, Miss Hunter?‹, fragte er.
›Nein, ich kenne niemand hier in der Gegend.‹
›Nein, welche Frechheit! Bitte wenden Sie sich doch um und winken Sie ihm zu, er solle fortgehen.‹
›Es wäre gewiss besser, die Sache unbeachtet zu lassen.‹
›Nein, nein; wir würden ihn sonst immerfort hier herumlungern sehen. Bitte drehen Sie sich um und winken Sie ihm ab.‹
Ich tat es, und im selben Augenblick ließ Mr Rucastle das Rouleau herab. Dies war vor einer Woche, und seither habe ich nicht mehr am Fenster sitzen und das blaue Kleid nicht mehr anziehen müssen, habe auch den Mann auf der Straße nicht mehr gesehen.«
»Bitte, fahren Sie fort«, bemerkte Holmes, »Ihre Erzählung verspricht, höchst interessant zu werden.«
»Ich fürchte, sie ist recht unzusammenhängend; es kann wohl sein, dass die verschiedenen Vorfälle, auf welche ich jetzt zu sprechen komme, sehr wenig miteinander zu tun haben. Gleich am allerersten Tag führte mich Mr Rucastle an ein kleines Häuschen, das neben dem Eingang zur Küche steht. Beim Hinzutreten vernahm ich das scharfe Rasseln einer Kette und ein Geräusch, wie wenn ein großes Tier sich darin herumbewegte.
›Da, schauen Sie hinein‹, sagte Mr Rucastle und zeigte mir eine Ritze zwischen zwei Planken. ›Ist es nicht ein Prachtexemplar?‹
Ich blickte hindurch und begegnete zwei glühenden Augen und einer Gestalt, die in unbestimmten Umrissen aus der Finsternis heraustrat.
›Haben Sie keine Angst‹, beruhigte mich mein Begleiter lachend, als er meine Gebärde des Schreckens sah, ›es ist nur Carlo, der Kettenhund. Er gehört wohl mir, aber in Wirklichkeit ist der alte Toller, mein Bedienter, der einzige, der etwas mit ihm machen darf. Er bekommt nur einmal am Tag zu fressen und auch da nicht zu viel, sodass er jederzeit scharf ist wie Gift. Jede Nacht lässt Toller ihn los, und Gott sei dem Eindringling gnädig, der ihm zwischen die Zähne gerät. Setzen Sie um des Himmels willen nachts niemals unter irgendeinem Vorwand den Fuß über Ihre Schwelle, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.‹
Diese Warnung war auch sehr am Platz. In der übernächsten Nacht schaute ich zufällig etwa um zwei Uhr morgens aus meinem Schlafzimmerfenster. Es war eine schöne Mondnacht, und der Rasenplatz vor dem Haus strahlte fast taghell in Silberglanz. Gebannt von der friedlichen Schönheit dieses Bildes, stand ich da, als ich gewahr wurde, dass sich im Schatten der Blutbuchen etwas regte. Als es in den Mondschein heraustrat, sah ich, was es war: ein riesiger Hund, so groß wie ein Kalb, von braungelber Farbe, mit hängenden Backen, schwarzer Schnauze und gewaltigen, weit vorstehenden Knochen. Er schlich langsam über den Rasen und verschwand dann wieder auf der anderen Seite in der Dunkelheit. Ich glaube, kein Einbrecher wäre imstande gewesen, mir einen solchen Todesschrecken einzujagen wie dieser furchtbare stumme Wächter.
Und nun habe ich Ihnen noch eine ganz merkwürdige Entdeckung mitzuteilen. Ich hatte mir, wie Sie wissen, in London mein Haar abschneiden lassen und verwahrte es, zu einem großen Knäuel zusammengerollt, unten in meinem Koffer. Eines Abends, nachdem das Kind zu Bett war, begann ich zum Zeitvertreib die Einrichtung meines Zimmers zu mustern und meine wenigen Habseligkeiten aufzuräumen. In meinem Zimmer stand eine alte Kommode, deren zwei oberste Schubfächer offen waren, während ich das unterste verschlossen fand. Nachdem ich die beiden oberen mit meinem Weißzeug angefüllt hatte, war sonst noch gar vieles unterzubringen, und so verdross es mich natürlich sehr, dass ich das dritte nicht auch zur Verfügung hatte. Ich nahm an, dieses sei vielleicht lediglich aus Versehen verschlossen worden, deshalb zog ich mein Schlüsselbund heraus und versuchte, es zu öffnen. Gleich der erste Schlüssel passte, und so zog ich die Schublade auf. Es war nur ein einziger Gegenstand darinnen, aber was für einer würden Sie ganz gewiss niemals erraten. Es war mein Haarzopf.
Ich nahm denselben heraus, um ihn zu besichtigen. Die Haare hatten ganz genau die eigentümliche Farbe und die Stärke meiner eigenen. Aber dann drängte sich mir wieder die Unmöglichkeit der Sache auf. Wie konnten denn meine Haare in diese verschlossene Schublade kommen? Mit zitternden Händen öffnete ich meinen Koffer, räumte ihn aus und zog zu unterst meinen Zopf hervor. Ich legte die beiden Zöpfe nebeneinander, und ich gebe Ihnen die Versicherung, sie waren vollkommen gleich. War das nicht merkwürdig? Ich mochte mir den Kopf zerbrechen, wie ich wollte, die Sache blieb mir ein völliges Rätsel. Ich legte den fremden Zopf wieder in die Schublade, ohne Mr Rucastle und seiner Frau gegenüber etwas von der Sache zu erwähnen, denn ich fühlte wohl, dass es nicht recht von mir gewesen war, eine Schublade zu öffnen, die sie verschlossen hatten. Ich bin von Natur eine scharfe Beobachterin, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, Mr Holmes, und hatte bald einen ziemlich genauen Plan des ganzen Gebäudes im Kopf. Ein Flügel desselben schien völlig unbewohnt zu sein. Eine Tür, dem Eingang zur Behausung des Tollerschen Ehepaares gegenüber, führte zu diesem Flügel, allein sie war stets verschlossen. Eines Tages jedoch stieß ich auf der Treppe auf Mr Rucastle, wie er, seine Schlüssel in der Hand, aus dieser Tür herauskam, und zwar mit einem so veränderten Ausdruck, dass ich den sonst so behäbigen, gemütlichen Mann kaum wiedererkannte. Seine Wangen waren gerötet, seine Brauen zornig gerunzelt, und in der Erregung traten ihm die Adern an den Schläfen weit hervor. Er verschloss die Tür und eilte hinter mir die Treppe herauf, ohne ein Wort oder einen Blick an mich zu richten.
Dies erregte meine Neugier, und ich richtete deshalb den nächsten Spaziergang, den ich mit dem Kleinen machte, so ein, dass ich dabei die Fenster an diesem Teil des Hauses im Auge hatte. Es waren vier in einer Reihe, drei davon ganz mit Staub überzogen, während an dem vierten der Laden geschlossen war. Offenbar waren die Räume, zu denen sie gehörten, sämtlich unbewohnt. Während ich auf- und abschlenderte und dabei gelegentlich einen Blick nach den Fenstern warf, kam Mr Rucastle zu mir heraus; seine Züge zeigten jetzt wieder ganz den heiteren, gemütlichen Ausdruck wie immer.
›Ach‹, redete er mich an, ›Sie müssen mich nicht für rücksichtslos halten, weil ich ohne ein Wort an Ihnen vorübergeeilt bin, mein liebes Fräulein. Ich hatte den Kopf voll Geschäftssachen.‹
Ich gab ihm die Versicherung, dass ich es ihm nicht übel genommen habe.
›Sie scheinen da oben eine ganze Reihe überzähliger Zimmer zu haben‹, fuhr ich fort, ›und an einem ist der Laden geschlossen.‹
Er sah überrascht und, wie es mir vorkam, etwas verdutzt aus über meine Bemerkung. ›Ich bin Fotograf aus Liebhaberei‹, sagte er, ›und habe da oben meine Dunkelkammer eingerichtet. Aber du meine Güte, an was für eine Beobachterin wir geraten sind! Wer hätte das geglaubt; wer hätte das für möglich gehalten?‹ Seine Worte klangen scherzhaft, aber in dem Blick, den er dabei auf mich richtete, lag kein Scherz. Ich las darin wohl Argwohn und Ärger, aber nichts Spaßhaftes.
Sehen Sie, Mr Holmes, von dem Augenblick an, als mir klar wurde, dass es mit diesen Zimmern etwas auf sich habe, wovon ich nichts wissen sollte, brannte ich vor Begierde, hinter die Sache zu kommen. Es war mehr als bloße Neugier, obwohl ich auch davon mein gutes Teil besitze. Es war mehr ein Pflichtgefühl, die Empfindung, dass es zum Guten dienen werde, wenn ich mir in diese Räume Eingang verschaffe. Man spricht von weiblichem Instinkt; vielleicht war es dieser, der mir das Gefühl einflößte. Ich spähte nun emsig nach einer Gelegenheit zum Überschreiten der verbotenen Schwelle.
Beiläufig bemerkt, haben außer Mr Rucastle auch Toller und seine Frau gelegentlich in den unbewohnten Räumen zu schaffen; einmal sah ich die beiden zusammen ein großes Bündel schwarzer Wäsche durch die Tür tragen. In den letzten Tagen trank Toller stark, sodass er gestern völlig betrunken war, und als ich die Treppe heraufkam, steckte der Schlüssel an der fraglichen Tür. Ganz sicher hatte er ihn stecken lassen. Mr Rucastle und seine Frau waren mit dem Kind unten, und so bot sich mir die allerschönste Gelegenheit, mein Vorhaben auszuführen. Sachte drehte ich den Schlüssel im Schloss um, öffnete die Tür und schlüpfte hindurch.
Vor mir lag ein kurzer Gang, der sich am oberen Ende rechtwinklig fortsetzte. Um die Ecke befanden sich drei Türen in einer Reihe, von denen die erste und die dritte offen waren. Sie führten in leere, staubige, öde Zimmer, das eine mit zwei, das andere mit einem Fenster, die sämtlich derart mit Schmutz überzogen waren, dass die abendliche Helle nur trübe durchschimmerte. Die mittlere Tür war zu und quer herüber durch eine dicke eiserne Stange verrammelt, die an einem Ende mit einem Vorlegeschloss an einen Ring in der Wand befestigt war, am anderen mit einem starken Strick. Die Tür selbst war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Diese verrammelte Tür gehörte offenbar zu demselben Raum wie das Fenster mit dem geschlossenen Laden an der Außenseite, und doch konnte ich an dem hellen Streifen unten sehen, dass es drinnen nicht dunkel war. Offenbar fiel durch ein Oberlicht Licht hinein. Während ich in dem Gang stand und die unheimliche Tür betrachtete und mich dabei verwundert fragte, hörte ich plötzlich im Innern Schritte und sah, wie in dem schmalen, trüben Lichtstreifen, der unter der Tür durchfiel, ein Schatten sich vor- und rückwärts bewegte. Ein jäher sinnloser Schrecken fasste mich bei diesem Anblick. Meine überreizten Nerven versagten plötzlich, ich wandte mich um und rannte davon – rannte, als wäre eine grässliche Hand hinter mir her, um mich am Saum meines Kleides zu fassen. Ich lief den Gang entlang und zu der Tür hinaus – gerade Mr Rucastle in die Arme, der außen stand und wartete.
›So‹, sagte er lächelnd, ›also Sie waren es. Ich dachte es mir gleich, als ich die Tür offen stehen sah.‹
›Oh, ich bin so erschrocken‹, stieß ich zitternd hervor.
›Mein liebes Fräulein, mein liebes Fräulein!‹ Sie glauben gar nicht, in wie liebevollem, sanftem Ton er dies sagte. ›Und was hat Sie erschreckt, mein liebes Fräulein?‹
Aber seine Stimme klang doch ein wenig gar zu schmeichelnd. Man merkte gleich, dass er unbefangen scheinen wollte.
›Ich war so töricht und betrat den unbewohnten Flügel‹, antwortete ich. ›Aber es ist so einsam und öde dort bei dieser trüben Beleuchtung, dass mich die Angst packte und ich eilends wieder umkehrte. Oh, es ist so schauerlich still da drinnen!‹
›Nichts sonst?‹, fragte er und sah mich dabei scharf an.
›Wieso, was meinen Sie damit?‹, fragte ich.
›Wozu glauben Sie wohl, dass ich diese Tür verschließe?‹
›Das weiß ich wirklich nicht.‹
›Nun, damit niemand hineingeht, der nichts darin zu schaffen hat. Verstehen Sie?‹ Dabei lag noch immer das liebenswürdige Lächeln auf seinen Zügen.
›Ganz gewiss, hätte ich das gewusst, ich ...‹
›Nun, jetzt wissen Sie es also; und sofern Sie je wieder Ihren Fuß über jene Schwelle setzen‹ – dabei verwandelte sich sein Lächeln mit einem Schlag in ein wuterfülltes Grinsen, und er stierte mich mit einem teuflischen Gesichtsausdruck an – ›so werfe ich Sie dem Hund vor.‹
Ich war so entsetzt, dass ich nicht mehr sagen kann, was ich tat. Vermutlich bin ich an ihm vorbei auf mein Zimmer geeilt. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett und bebte am ganzen Körper. Da fielen Sie mir ein, Mr Holmes. Ich hielt es nicht länger aus ohne Beistand. Es graute mir vor dem Haus, vor dem Herrn, vor der Frau, vor den Dienstboten, selbst vor dem Kind. Wenn ich Sie nur hier hätte, dachte ich, wäre ich ganz ruhig. Ich hätte ja freilich aus dem Haus entfliehen können, allein meine Neugier war fast ebenso groß wie meine Angst. Mein Entschluss war bald gefasst, ich wollte Ihnen telegrafieren. Ich nahm Hut und Mantel und ging nach dem ungefähr eine halbe Meile entfernten Telegrafenamt, und als ich zurückkam, war mir bereits viel leichter ums Herz. Vor dem Tor fasste mich plötzlich der schreckliche Gedanke, der Hund möchte am Ende losgelassen worden sein; doch fiel mir dann wieder ein, dass Toller sich an jenem Abend bis zur Sinnlosigkeit betrunken hatte, und er war, wie ich wusste, der einzige, der etwas mit dem gefährlichen Tier machen durfte; außer ihm würde es niemand wagen, dasselbe loszulassen. Unversehrt schlüpfte ich wieder herein und konnte die halbe Nacht nicht schlafen vor Freude bei dem Gedanken, dass Sie nun bald da sein würden. Urlaub in die Stadt erhielt ich heute früh ohne Schwierigkeit, aber ich muss vor drei Uhr zurück sein, denn Mr Rucastle geht mit seiner Frau fort auf Besuch, und sie werden den ganzen Abend ausbleiben, sodass ich nach dem Kind sehen muss. – Jetzt habe ich Ihnen alle meine Erlebnisse erzählt, Mr Holmes, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir sagen könnten, was dies alles zu bedeuten hat, und vor allem, was ich tun soll.«
Wir beide hatten mit atemloser Spannung diesem merkwürdigen Bericht zugehört. Nun erhob sich Holmes und schritt, die Hände in den Rocktaschen und mit dem Ausdruck tiefsten Ernstes, im Zimmer auf und ab.
»Ist Toller noch betrunken?«, fragte er.
»Ja; ich hörte, wie seine Frau zu Mr Rucastle sagte, sie könne gar nichts mit ihm anfangen.«
»Das ist gut. Und Rucastles gehen heute Abend aus?«
»Ja.«
»Ist ein Keller mit gutem, festem Schloss vorhanden?«
»Jawohl. Der Weinkeller.«
»Nach meinem Dafürhalten, Miss Hunter, haben Sie in dieser Sache bis jetzt recht viel Mut und Umsicht bewiesen. Glauben Sie, dass Sie noch etwas Weiteres leisten könnten? Ich würde die Frage nicht an Sie richten, wenn ich Sie nicht für eine Ausnahme unter den Frauen hielte.«
»Ich will sehen, ob ich es vermag. Was ist es?«
»Wir werden gegen sieben Uhr in Copper Beeches eintreffen, mein Freund und ich. Die Rucastles sind wohl um diese Zeit bereits fort, und Toller wird hoffentlich noch nicht wieder zu sich gekommen sein. Die einzige, die dann allenfalls noch Lärm machen könnte, ist also Tollers Frau. Wenn Sie diese mit irgendeinem Auftrag in den Keller schicken und denselben hinter ihr abschließen könnten, so würden Sie uns die Sache außerordentlich erleichtern.«
»Ich bin dazu bereit.«
»Vortrefflich. Nun wollen wir einmal das Ding genauer ins Auge fassen. Selbstverständlich gibt es nur eine einzige mögliche Erklärung. Sie sind hier, um irgendeine andere Person vorzustellen, und diese Person selbst wird in dem Zimmer gefangen gehalten. Das liegt ja auf der Hand; und die Gefangene ist, wie ich nicht im Mindesten bezweifle, die Tochter, Miss Alice Rucastle, wenn ich mich recht erinnere, die sich angeblich in Amerika befindet. Jedenfalls ist die Wahl auf Sie gefallen, weil Sie ganz dieselbe Größe, Figur und Haarfarbe haben. Ihr hatte man höchst wahrscheinlich infolge irgendeiner Krankheit, die sie durchgemacht hat, das Haar abgeschnitten, und so mussten Sie das Ihrige gleichfalls opfern. Durch einen merkwürdigen Zufall sind Ihnen die Strähnen in die Hände gefallen. Der Mann auf der Straße war zweifellos ein Bekannter von ihr, oder wohl ihr Verlobter – da Sie nun Miss Alices Kleider trugen und ihr so ähnlich sehen, so musste er aus Ihrer Heiterkeit bei seinem jedesmaligen Erscheinen und dann vollends aus Ihrer Handbewegung schließen, dass seine Angebetete völlig zufrieden sei und seine Aufmerksamkeiten ferner nicht wünsche. Der Hund wird nachts losgelassen, damit ihr Verehrer keinen Versuch macht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. So weit ist alles ganz klar. Den ernstesten Punkt bildet der Charakter des Kindes.«
»Was in aller Welt hat denn das damit zu tun?«, rief ich aus.
»Mein lieber Watson, wenn Sie sich in Ihrem Beruf als Arzt über die Neigungen eines Kindes Aufschluss verschaffen wollen, so studieren Sie jedesmal dessen Eltern. Sehen Sie denn nicht ein, dass das umgekehrte Verfahren ganz dieselbe Berechtigung hat? Ich habe oft und viel wirkliches Verständnis für den Charakter der Eltern erst durch das Studium ihrer Kinder gewonnen. Dieses Kind hat einen abnormen Hang zur Grausamkeit, und mag dieser nun von seinem stets lächelnden Vater herrühren, wie ich vermute, oder von seiner Mutter – jedenfalls bedeutet er nichts Gutes für das arme Mädchen, das sich in ihrer Gewalt befindet.«
»Sie haben ganz gewiss Recht, Mr Holmes«, rief Miss Hunter aus. »Es fallen mir jetzt tausenderlei Dinge wieder ein, die mir beweisen, dass Sie das Richtige getroffen haben. Oh, wir wollen keinen Augenblick verlieren, um dem armen Geschöpf zu Hilfe zu kommen.«
»Wir müssen vorsichtig zu Werke gehen, denn wir haben es mit einem ganz durchtriebenen Patron zu tun«, versetzte Holmes. »Vor sieben Uhr können wir nichts beginnen. Um diese Stunde werden wir bei Ihnen eintreffen, und dann wird das Rätsel bald gelöst sein.«
Ganz pünktlich um sieben Uhr fanden wir uns ein – unsern Wagen hatten wir in einem Wirtshaus an der Straße eingestellt. An der Baumgruppe mit ihrem dunklen Laub, das jetzt im Licht der sinkenden Sonne einen blinkenden Metallglanz ausstrahlte, würden wir das Haus sofort erkannt haben, auch wenn Miss Hunter nicht freundlich lächelnd an der Haustreppe gestanden hätte.
»Haben Sie es ausgeführt?«, fragte Holmes.
Ein lautes, heftiges Pochen drang von unterhalb des Treppenhauses herauf. »Das ist Mrs Toller im Keller«, sagte sie, »ihr Mann liegt schnarchend auf der Küchenbank. Hier sind seine Schlüssel; er hat ganz die gleichen wie Mr Rucastle.«
»Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht«, rief Holmes entzückt aus. »Nun gehen Sie voran, und wir werden dieser dunklen Geschichte bald auf den Grund kommen.«
Wir stiegen die Treppe hinauf, schlossen die Tür auf und gingen den Gang entlang, bis wir vor der verrammelten Tür standen, die Miss Hunter uns beschrieben hatte. Holmes schnitt den Strick durch und nahm die vorgelegte Stange weg. Dann probierte er verschiedene Schlüssel im Schloss, aber ohne Erfolg. Drinnen vernahm man keinen Laut, und bei dieser Stille verdüsterten sich Holmes’ Züge. »Ich will nicht hoffen, dass wir zu spät kommen«, sagte er. »Wir wollen lieber ohne Sie hineingehen, Miss Hunter. Nun, Watson, stemmen Sie einmal Ihre Schulter an, dann werden wir ja sehen, was sich ausrichten lässt.« Es war eine alte, wackelige Tür, die unserem vereinten Druck sofort nachgab. Zusammen drangen wir in das Zimmer ein. Es war leer. Ein schmales Feldbett, ein kleiner Tisch und ein Korb mit Wäsche bildeten die ganze Einrichtung. Das Oberlicht stand offen, und die Gefangene war fort. »Hier ist eine Schurkerei vorgegangen«, sagte Holmes, »der saubere Herr hat Miss Hunters Absichten erraten und sein Opfer fortgebracht.«
»Aber wie?«
»Durch das Oberlicht. Wir werden bald sehen, wie er es angestellt hat.« Damit schwang er sich auf das Dach hinauf. »Oh ja«, rief er aus, »hier schaut eine lange, leichte Leiter über die Dachrinne empor; mit dieser hat er die Sache ausgeführt.«
»Aber das kann ja nicht sein«, bemerkte Miss Hunter, »die Leiter stand noch nicht da, als die Rucastles fortgingen.«
»Dann ist er zu diesem Zweck noch einmal heimgekommen. Ich sage Ihnen, er ist ein schlauer, gefährlicher Mensch. Es sollte mich auch gar nicht wundern, wenn es sein Tritt wäre, den ich eben auf der Treppe höre. Ich glaube, Watson, Sie werden gut daran tun, Ihre Pistole bereitzuhalten.«
Kaum waren diese Worte aus seinem Mund, als ein sehr dicker, aufgedunsener Mann, mit einem schweren Stock in der Hand, unter der Tür des Zimmers erschien. Miss Hunter schrie laut auf bei seinem Anblick und drückte sich an die Wand, Holmes dagegen sprang vor und trat ihm gegenüber.
»Sie Elender«, rief er ihm entgegen, »wo ist Ihre Tochter?«
Der dicke Mann sah sich rings um und schaute dann nach dem Oberlicht hinauf.
»Diese Frage muss ich an euch richten, ihr Spitzbuben und Diebe! Aber jetzt habe ich euch gefangen. Ihr seid in meinen Händen. Ich will euch heimleuchten!« Damit wandte er sich um und eilte die Treppe hinunter, was er laufen konnte.
»Er holt den Hund«, rief Miss Hunter.
»Ich habe meinen Revolver«, sagte ich.
»Wir wollen lieber die Haustür schließen«, schlug Holmes vor, und sofort stürmten wir alle zusammen die Treppe hinunter. Kaum hatten wir den Hausgang erreicht, als wir das Bellen eines Hundes und gleich darauf einen kläglichen Hilferuf vernahmen. Ein ältlicher Mann mit rotem Gesicht und schlotternden Gliedern trat taumelnd aus einer Nebentür und rief: »Wer hat den Hund losgemacht?! Seit zwei Tagen hat er nichts zu fressen bekommen. Schnell, schnell zu Hilfe, ehe es zu spät ist!«
Ich stürzte mit Holmes zur Tür hinaus und um die Hausecke herum, Toller hinter uns drein. Eine gewaltige, heißhungrige Bestie hatte ihre schwarze Schnauze in Mr Rucastles Hals gegraben, der sich ächzend am Boden wand. Ich lief hinzu und jagte dem Hund eine Kugel durch den Kopf. Er stürzte zusammen, aber seine scharfen, weißen Zähne steckten noch in den mächtigen Falten von Mr Rucastles Hals. Mit viel Mühe brachten wir beide auseinander und trugen den Verwundeten zwar lebend, aber schauerlich zugerichtet ins Haus. Wir legten ihn auf das Sofa im Wohnzimmer, und nachdem wir den inzwischen wieder nüchtern gewordenen Toller mit der Botschaft von dem Vorfall an seine Frau geschickt hatten, tat ich, was ich vermochte, um die Qual des Verwundeten zu lindern. Wir standen alle um ihn herum, als die Tür aufging und eine große, hagere Frauensperson ins Zimmer trat.
»Mrs Toller!«, rief Miss Hunter.
»Ja, Miss. Als Mr Rucastle heimkam, ließ er mich zuerst heraus, ehe er zu Ihnen hinaufging. Ach, Miss, es ist schade, dass Sie mich Ihre Absichten nicht wissen ließen; ich würde Ihnen gesagt haben, dass Sie sich vergebliche Mühe machen.«
»Ha«, rief Holmes und blickte sie scharf an, »offenbar weiß Mrs Toller mehr von der Sache als irgend sonst jemand.«
»Jawohl, und ich sage auch ganz gerne, was ich weiß.«
»Dann, bitte, setzen Sie sich und lassen Sie es uns hören, denn ich gestehe, mehrere Punkte sind nun noch nicht ganz klar.«
»Ich würde Ihnen längst alles auseinandergesetzt haben, hätte ich nur aus dem Keller herausgekonnt. Falls die Sache etwa vor Gericht kommen sollte, vergessen Sie nicht, dass ich mich auf Ihre Seite gestellt und es auch mit Miss Alice gut gemeint habe.
Seit der Wiederverheiratung ihres Vaters hat sich Miss Alice zu Hause nicht mehr glücklich gefühlt. Sie sah sich immer zurückgesetzt und durfte nicht viel dreinreden, aber eigentlich schlimm erging es ihr erst, als sie sich mit Mr Frowler verlobte. Soviel ich gehört habe, besaß Miss Alice nach dem Testament ihrer Mutter gewisse Ansprüche, aber sie war viel zu sanft und gutmütig, um dieselben geltend zu machen, und ließ alles in Mr Rucastles Händen. Der wusste wohl, dass er mit ihr machen konnte, was er wollte; als jedoch die Möglichkeit eintrat, dass ein Ehemann kam und alles verlangte, was er nach dem Gesetz beanspruchen konnte, da hielt es ihr Vater an der Zeit, einen Riegel vorzuschieben. Er verlangte von ihr, sie solle ein Schriftstück ausstellen, wonach ihm die Nutznießung an ihrem Vermögen zustehe, sie möge heiraten oder nicht. Als sie das nicht tun wollte, quälte er sie so lange, bis sie ein Nervenfieber bekam, sodass sie sechs Wochen lang am Rand des Grabes schwebte. Zwar erholte sie sich endlich, aber sie war zu einem Schatten abgezehrt, und ihr schönes Haar hatte man ihr abgeschnitten. Doch das machte ihrem Bräutigam alles nichts aus, und er blieb ihr so treu wie nur einer.«
»Durch Ihre freundlichen Mitteilungen«, sagte Holmes, »haben Sie nunmehr die Sache so weit aufgeklärt, dass ich mir das Übrige vollends denken kann. Nicht wahr, Mr Rucastle ging darauf zu seinem Einsperrungssystem über?«
»Jawohl.«
»Und holte Miss Hunter von London, um sich den unbequemen Mr Frowler vom Hals zu schaffen?«
»So ist es.«
»Allein Mr Frowler«, fuhr Holmes fort, »belagerte das Haus mit der Zähigkeit eines echten Liebhabers und verstand es, durch klingende oder anderweitige Beweisgründe Sie in sein Interesse zu ziehen – nicht wahr?«
»Mr Frowler war ein sehr freundlicher, freigebiger Herr«, erwiderte Mrs Toller gelassen.
»Und auf diese Weise sorgte er dafür, dass Ihr guter Mann stets reichlich zu trinken erhielt und dass die Leiter bereit stand, sobald Ihr Herr das Haus verlassen hatte.«
»Sie haben es getroffen, Herr, gerade so ist es gegangen.«
»Wir sind Ihnen wirklich Anerkennung schuldig, Mrs Toller«, sagte Holmes, »denn Sie haben uns über alle Punkte, die noch dunkel waren, volle Aufklärung verschafft. Da kommt ja auch der Distriktsarzt mit Mrs Rucastle; mir scheint, es wird wohl jetzt das beste sein, wir bringen Miss Hunter nach Winchester zurück, da sowohl ihr wie unser ferneres Verbleiben im Haus keinen ersichtlichen Zweck mehr hat.« –
So klärte sich also das Geheimnis des unheimlichen Hauses mit den Blutbuchen am Tor auf. Mr Rucastle kam zwar mit dem Leben davon, blieb jedoch für immer ein gebrochener Mann, der sein Dasein lediglich der aufopfernden Pflege seiner Gattin verdankte. Sie wohnen noch immer mit ihren alten Dienstboten zusammen, welche so viel von Mr Rucastles Vergangenheit wissen, dass er sich nicht entschließen kann, sich von ihnen zu trennen. Mr Frowler und seine Braut ließen sich gleich am Tag nach ihrer Flucht in Southampton trauen; er bekleidet gegenwärtig einen Beamtenposten auf der Insel Mauritius. Was Miss Violet Hunter betrifft, so legte mein Freund Holmes zu meiner ziemlich lebhaften Enttäuschung kein Interesse mehr für sie an den Tag, sobald das Problem, dessen Gegenstand sie gebildet hatte, gelöst war; sie ist zur Zeit Vorsteherin einer Privatschule in Walsall und erzielt, soviel ich weiß, schöne Erfolge in ihrem Beruf.