Wenn ich meine Aufzeichnungen von den siebzig absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten acht Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, finde ich darunter viele von tragischer, einige auch von komischer Art, sodann weiter eine große Anzahl solcher, die sich eben einfach als merkwürdig bezeichnen lassen, dagegen keinen einzigen alltäglichen; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von dem Streben nach Erwerb bestimmen ließ, lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen wüsste ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts von Stoke Moran in Surrey spielte. Die betreffenden Vorkommnisse fielen in die erste Zeit meiner Verbindung mit Holmes, in die Tage unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der Baker Street. Ich würde dieselben vielleicht früher schon veröffentlicht haben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen – eine Pflicht, von der mich erst im vergangenen Monat der vorzeitige Tod der Dame, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben worden war, entbunden hat. Vielleicht ist es ganz zweckmäßig, dass der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich aus guter Quelle erfahre, haben sich über den Tod des Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, welche jene Ereignisse noch grässlicher ausmalen, als sie in Wirklichkeit sind.
Es war im Jahr 1883 Anfang des April, als ich eines Morgens beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett erblickte. Er stand gewöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.
»Tut mir sehr leid, dass ich Sie im Schlaf stören muss, Watson«, sagte er, »aber es geht heute Morgen keinem im Haus besser. Die Haushälterin ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an Sie.«
»Was gibt es denn? Brennt es?«
»Nein, eine Klientin ist da. Es scheint, dass eine junge Dame in höchst erregtem Zustand von auswärts eingetroffen ist, die mich durchaus sprechen will. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe zur Hauptstadt aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, wird sie wohl eine recht dringliche Mitteilung zu machen haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiss gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte Sie deshalb unter allen Umständen wecken, um Sie der günstigen Gelegenheit nicht zu berauben.«
»Mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«
Ich kannte keinen größeren Genuss, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlussfolgerungen zu bewundern, die – blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut – Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund ins Empfangszimmer folgen zu können.
Eine schwarzgekleidete, dicht verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.
Holmes begrüßte sie freundlich und fuhr, nachdem er sich ihr vorgestellt, auf mich deutend fort: »Dies hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Mrs Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«
»Aber nicht vor Kälte«, antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.
»Weshalb denn sonst?«
»Vor Angst, Mr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, dass sie sich in der Tat in einem Zustand bedauerlicher Aufregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach musste man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.
Holmes musterte sie mit einem seiner allesdurchdringenden Blicke. »Sie müssen keine Angst haben«, sagte er in beruhigendem Ton, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiss bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«
»Kennen Sie mich denn?«
»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«
Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.
»Sie brauchen sich nicht zu verwundern, werte Dame«, fuhr dieser lächelnd fort. »Der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«
»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige«, versetzte sie. »Ich fuhr vor sechs Uhr von zu Hause ab, brauchte zwanzig Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zug hier an der Waterloo Station ein. Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig. Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein Einziger nimmt Anteil an mir, und der kann nicht viel für mich tun, der Arme. Man hat mir von Ihnen erzählt, Mr Holmes. Eine meiner Bekannten, Mrs Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die dichte Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Sie für Ihre Dienste zu belohnen, bin ich freilich zurzeit nicht imstande, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«
Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.
»Farintosh«, murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falls. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. Das war noch vor Ihrer Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass ich mich Ihres Falls mit Vergnügen ebenso eifrig annehmen werde wie damals der Angelegenheit der Ihnen befreundeten Dame. Was meine Belohnung betrifft, finde ich solche einzig in meiner Tätigkeit selbst; dagegen steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falls irgend von Wert sein kann.«
»Ach«, begann die Fremde, »das Schrecklichste an meiner Lage ist gerade, dass meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich auf höchst geringfügige Umstände stützt, die jedem anderen bedeutungslos erscheinen. Selbst der Mann, von dem ich in erster Linie Rat und Hilfe zu erwarten berechtigt wäre, betrachtet alle Vermutungen, die ich ihm gegenüber äußere, lediglich als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht geradeheraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Mr Holmes, sollen ja imstande sein, wie nur wenige die mannigfaltige Schlechtigkeit des menschlichen Herzens zu durchschauen. Ihr Rat wird mir den Weg zeigen, der mich glücklich durch die Gefahren hindurchführt, von denen ich rings umgeben bin.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich heiße Helene Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater, dem letzten Spross einer der ältesten Familien Englands, der Roylotts von Stoke Moran, an der Westgrenze von Surrey.«
Holmes nickte. »Der Name ist mir wohlbekannt«, sagte er.
»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England, und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige, verschwenderische Hände, und als sich dann vollends unter der Regentschaft der Erbe der Güter dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber schwere Pfandschulden lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tod dort aus und lernte dabei das schreckliche Los eines verarmten Edelmanns gründlich kennen; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, dass er sich den neuen Verhältnissen anbequemen müsse; er wusste sich einen Vorschuss von einem Verwandten zu verschaffen, der ihm ermöglichte, eine medizinische Prüfung abzulegen und sich in Kalkutta niederzulassen, wo er sich mit großer Willenskraft vermöge seiner tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb. Im Zorn über verschiedene in seinem Haus vorgefallene Diebereien erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien hatte Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie, geheiratet. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein beträchtliches Vermögen, das etwa tausend Pfund jährlich einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Fall unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es ist jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloss in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, schien unserem Glück nichts im Weg zu stehen.
Allein es ging zu jener Zeit mit unserem Stiefvater eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr anzuknüpfen und Besuche mit unseren Nachbarn auszutauschen, die anfangs hocherfreut darüber gewesen waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloss er sich in sein Haus ein, und wenn er dasselbe jemals verließ, war es nur, um mit jedem, der ihm in den Weg kam, den heftigsten Streit anzufangen. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt worden sein. Er wurde in eine Reihe hässlicher Streitigkeiten verwickelt, die ihn zweimal vor Gericht brachten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfs war und alles bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er besitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.
Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser, und ich musste alles opfern, was ich an Geld aufbringen konnte, um die abermalige öffentliche Schande abzuwenden. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf den paar von Dorngestrüpp überwucherten Hufen Landes, die jetzt das ganze Besitztum ausmachten, ihr Lager aufschlagen, wogegen er dann oft unter ihren Zelten einkehrte und sie schließlich wochenlang auf ihren Wanderzügen begleitete. Ferner hegt er eine leidenschaftliche Vorliebe für indische Tiere, die er sich durch einen Korrespondenten schicken lässt; gegenwärtig besitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die frei auf seinem Besitztum umherlaufen und den Dorfbewohnern kaum geringeren Schrecken einflößen als ihr Herr selbst.
Nach dieser Schilderung werden Sie mir gerne glauben, dass das Leben meiner armen Schwester Julia und mir wenig Freuden bot. Kein Dienstbote wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mussten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia bei ihrem Tod erst dreißig Jahr alt war, fing doch ihr Haar auch bereits an, grau zu werden wie das meine.«
»Ihre Schwester ist also gestorben?«
»Ja. Es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Tod möchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es begreiflich finden, dass wir bei dem Leben, wie ich es Ihnen soeben beschrieben habe, wenig Gelegenheit zum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer Tante Honoria Westphail, einer unverheirateten Schwester meiner Mutter, die in der Gegend von Harrow wohnt, durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzen Besuch machen. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold gesetzten Major von der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor dem für die Hochzeit festgesetzten Zeitpunkt trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«
Holmes, der unterdessen mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.
»Bitte vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.
»Das wird mir nicht schwerfallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir noch unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, und es ist zurzeit nur ein Flügel desselben bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoss dieses Flügels, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater inne, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen münden alle auf denselben Gang. Ich spreche doch verständlich?«
»Vollkommen.«
»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Haus. An jenem schrecklichen Abend zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wussten wir wohl, dass er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeit lang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.
›Sag mir, Helene‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹
›Nein, niemals.‹
›Du hältst es doch nicht etwa für möglich, dass du etwa selbst im Schlaf pfeifst?‹
›Gewiss nicht, warum denn?‹
›In den paar letzten Nächten ertönte immer etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin davon aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹
›Nein, ich habe nichts gehört. Das muss von dem Zigeunergesindel unten in den Anlagen herkommen.‹
›Höchstwahrscheinlich. Und doch wundere ich mich, dass du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹
›Ich schlafe eben fester als du.‹
›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloss sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich sie ihren Schlüssel im Schloss umdrehen.«
»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?«, fragte Holmes.
»Stets.«
»Und warum das?«
»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.«
»Ja, freilich. Bitte fahren Sie nur fort.«
»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, dass ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen ja, wie zart die Bande sind, die zwei so engverbundene Wesen aneinanderketten. Es war eine unwirtliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturms der wilde Angstschrei einer weiblichen Stimme. Ich hatte die Stimme meiner Schwester erkannt. Eiligst sprang ich aus dem Bett, warf einen Shawl um und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstands. An dem Zimmer meiner Schwester stand die Tür bereits offen und drehte sich langsam in den Angeln. Starr vor Entsetzen wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›O mein Gott! Helene! Es war … Band! … getupfte Band …!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer grässlicher Krampfanfall ihr die Worte im Mund erstickte. Ich wollte eben unseren Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm, da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte diese bereits das Bewusstsein verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorf herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«
»Einen Augenblick!«, unterbrach sie Holmes. »Haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«
»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus bestimmten Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturms krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«
»War Ihre Schwester angekleidet?«
»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel.«
»Woraus hervorgeht, dass sie Licht gemacht und sich umgeschaut hatte, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«
»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinem Zeugnis ging hervor, dass die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände untersuchte man sorgfältig, fand sie jedoch völlig unversehrt und fest, ebenso wie den Fußboden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«
»Und Gift – wie steht es damit?«
»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«
»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«
»Ich bin der Meinung, dass meine Schwester lediglich infolge einer durch Schrecken verursachten Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«
»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in den Anlagen am Haus auf?«
»Jawohl. Es sind fast immer welche da.«
»So, so. Und was glauben Sie, dass Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«
»Das möchte ich manchmal lediglich für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner in den Anlagen, bezogen haben. Möglich, dass die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, ihr zu der auffallenden Bezeichnung Anlass gegeben haben.«
Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.
»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »bitte fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.«
»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben war inzwischen einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat mir ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage die Ehre erwiesen, um meine Hand anzuhalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so soll unsere Verbindung noch in diesem Frühjahr stattfinden. Seit zwei Tagen hat man begonnen, Ausbesserungen an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses vorzunehmen, wobei die Wand an meinem Schlafzimmer durchbrochen wurde, sodass ich das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in deren Bett schlafen musste. Stellen Sie sich nun meinen grässlichen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht, während ich, gerade mit dem Gedanken an ihr schreckliches Geschick beschäftigt, wachend dalag, plötzlich das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang auf und steckte die Lampe an, vermochte jedoch nichts im Zimmer zu entdecken. Zu erregt, um wieder zu Bett zu gehen, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald der Tag graute, aus dem Haus, ließ mir in dem gegenüberliegenden Wirtshaus zur Krone einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead; von da bin ich heute früh hier eingetroffen zu dem einzigen Zweck, Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«
»Daran haben Sie sehr wohlgetan«, versetzte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«
»Gewiss, alles.«
»Doch nicht, Miss Roylott. Sie schonen Ihren Stiefvater.«
»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«
Als Antwort schlug Holmes die Spitzenmanschette zurück, welche das rechte Handgelenk der Erzählerin bedeckte.
Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem weißen Arm ab.
»Sie sind misshandelt worden«, sagte Holmes.
Tief errötend bedeckte sie die Stelle wieder. »Er ist ein rauer Mann«, sagte sie, »der vielleicht selbst kaum weiß, wie stark er ist.«
Ein langes Schweigen folgte; das Kinn in die Hand stützend, blickte Holmes in das prasselnde Kaminfeuer. »Eine höchst rätselhafte Sache«, sagte er zuletzt. »Ich hätte noch tausenderlei Fragen, ehe ich mich über den einzuschlagenden Weg schlüssig mache. Und doch dürfen wir keinen Augenblick verlieren. Ließe es sich wohl machen, dass wir die fraglichen Zimmer ohne Wissen Ihres Stiefvaters besichtigen könnten, wenn wir heute nach Stoke Moran führen?«
»Er hat gerade zufällig erwähnt, er müsse heute in einer sehr wichtigen Angelegenheit hierherfahren. Vermutlich wird er den ganzen Tag fort sein, und dann wären Sie völlig ungestört. Wir haben zwar gegenwärtig eine Haushälterin, aber die ist alt und einfältig und wäre leicht eine Weile zu entfernen.«
»Vortrefflich. Sie haben doch nichts gegen diesen Ausflug, Watson?«
»Nicht das Geringste.«
»Dann werden wir uns also beide einfinden. Und was tun Sie selbst jetzt?«
»Ich möchte gerne noch ein paar Sachen besorgen, weil ich gerade hier bin. Doch will ich mit dem Zwölfuhrzug wieder nach Hause fahren, sodass Sie mich rechtzeitig dort treffen werden.«
»Bald nach Mittag dürfen Sie uns erwarten. Ich habe selbst noch einige kleine Angelegenheiten zu erledigen. Wollen Sie nicht noch bleiben und etwas frühstücken?«
»Nein, ich muss gehen. Es ist mir schon leichter ums Herz, seit ich Ihnen anvertraut habe, was mich bedrückt. Ich will jetzt nur an unser Wiedersehen heute Nachmittag denken.« Sie zog den dichten schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht und verließ das Zimmer.
»Nun, was halten Sie von der Sache, Watson?«, fragte Holmes, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.
»Es scheint mir eine höchst dunkle, unheimliche Geschichte.«
»Allerdings, recht dunkel und recht unheimlich.«
»Und doch, wenn, wie die Dame sagt, Fußboden und Wände ganz in Ordnung sind und durch Tür, Fenster und Kamin nichts hereinkommen konnte, muss unzweifelhaft die Schwester zur Zeit ihres rätselhaften Todes allein gewesen sein.«
»Wie erklärt sich dann aber das nächtliche Pfeifen und die höchst eigentümliche Äußerung der Sterbenden?«
»Das kann ich mir nicht denken.«
»Dieses nächtliche Pfeifen, die Anwesenheit einer Zigeunerbande, die mit dem alten Doktor auf vertrautem Fuß stand, und die Tatsache, dass Letzterer offenbar das größte Interesse daran hatte, die eheliche Verbindung seiner Stieftochter zu verhindern, sind starke Verdachtsmomente. Wenn ich sie mit der Andeutung der Sterbenden zusammenhalte und schließlich mit dem metallenen Klang, den Miss Stoner gehört hat und der sehr wohl von der Wiederbefestigung der Vorlegestange an einem Fensterladen herrühren konnte, will es mich doch bedünken, als dürften wir hoffen, von dieser Grundlage aus des Rätsels Lösung zu finden.«
»Aber was sollen denn die Zigeuner getan haben?«
»Davon habe ich allerdings keine Ahnung.«
»Ich meine, gegen diese ganze Auffassung ließe sich doch sehr viel einwenden.«
»Das muss ich freilich selbst zugeben; gerade deswegen gehen wir noch heute nach Stoke Moran. Ich muss mich überzeugen, ob die Einwendungen stichhaltig sind oder sich beseitigen lassen. – Aber was zum Henker ist denn das!«, rief er plötzlich aus.
Mit einem Mal war nämlich die Zimmertür aufgeflogen, und eine gewaltige Männergestalt in einem sonderbaren, halb gelehrten, halb bäuerischen Aufzug hatte sich unter derselben aufgepflanzt. Der Eindringling trug einen hohen schwarzen Hut und einen Rock mit langen Schößen, dazu Stulpenstiefel und in den Händen eine Reitpeitsche. Er war so groß, dass er buchstäblich oben am Türbalken anstieß, und so umfangreich, dass er die Türöffnung völlig auszufüllen schien. Auf seinem breiten, mit zahllosen Runzeln übersäten, sonnenverbrannten Gesicht spiegelten sich alle schlechten Leidenschaften. Er wandte den Blick bald mir, bald meinem Freund zu, und dabei gaben ihm seine tiefliegenden, gelb unterlaufenen Augen und die weit vorstehende schmale, fleischlose Nase das Aussehen eines grimmigen alten Raubvogels.
»Welcher von euch beiden ist Holmes?«, fragte er.
»So heiße ich. Aber ich habe nicht das Vergnügen …«, antwortete mein Freund ruhig.
»Ich bin Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran.«
»Darf ich bitten, dass Sie Platz nehmen, Herr Doktor«, sagte Holmes verbindlich.
»Fällt mir nicht ein. Meine Stieftochter ist da gewesen. Ich bin ihr nachgegangen. Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Es ist noch etwas kalt für die Jahreszeit!«, gab Holmes zur Antwort.
»Was hat sie Ihnen gesagt?«, schrie der andere wütend.
»Trotzdem soll sich, wie ich höre, die Krokusblüte ganz gut anlassen«, fuhr Holmes unerschütterlich fort.
»Macht nur keine Winkelzüge«, rief jetzt der Unhold, indem er einen Schritt vortrat und die Reitpeitsche schwang. »Ich kenne Euch Schurken. Habe schon längst von Euch gehört. Ihr seid Holmes, der Schnüffler!«
Mein Freund lächelte.
»Holmes, der Allerweltslückenbüßer!«
Sein Gesicht erheiterte sich immer mehr.
»Holmes, der General-Kriminalpolizeispitzel!«
Jetzt lachte Holmes hell auf. »Sie sind ja äußerst witzig«, sagte er. »Wenn Sie hinausgehen, machen Sie auch die Tür zu, es zieht ganz entschieden.«
»Erst sage ich meine Sache, und dann gehe ich. Lasst Euch nur nicht einfallen, Eure Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Meine Tochter war da – ich weiß es, ich bin ihr nachgegangen! Ich rate keinem, mir in die Quere zu kommen! Da, seht her!« Damit trat er rasch auf den Kamin zu, nahm den Schürhaken und bog ihn mit seinen mächtigen braunen Händen vollständig krumm.
»Seht nur zu, dass Ihr mir nicht unter die Finger kommt!«, schrie er meinem Freund noch zu, warf den verbogenen Schürhaken wieder in den Kamin und schritt hinaus.
»Nun, das ist ja ein recht liebenswürdiger Kumpan«, meinte Holmes lachend. »Ich bin zwar nicht ganz so vierschrötig wie er, aber wenn er noch einen Augenblick dageblieben wäre, hätte ich ihm zeigen können, dass meine Finger an Kraft den seinen nicht viel nachgeben.« Dabei nahm er den stählernen Schürhaken und bog ihn mit einem Ruck wieder gerade.
»Welche Unverschämtheit von dem Menschen, mich mit der Kriminalpolizei in einen Topf zu werfen! Dieser Zwischenfall verleiht übrigens unserem Vorhaben nur noch einen Reiz mehr. Ich will hoffen, dass unsere Schutzbefohlene, die dem Unhold ihre Spur verraten hat, diese Unvorsichtigkeit nicht zu büßen bekommt. Nun wollen wir uns das Frühstück kommen lassen, Watson, und dann will ich zur Gerichtsregistratur gehen, wo ich mir einige Daten zu verschaffen hoffe, die uns in der Sache von Nutzen sein dürften.«
Es war ungefähr ein Uhr, als Holmes von seinem Ausgang zurückkam. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, das ganz mit Notizen und Zeichnungen bedeckt war.
»Ich habe mir das Testament der Erblasserin zeigen lassen«, sagte er. »Um ihre Willensmeinung ganz genau festzustellen, musste ich den heutigen Wert der Anlagepapiere ausrechnen, um die es sich dabei handelt. Der Gesamtertrag, der zur Zeit ihres Todes fast elfhundert Pfund betrug, beläuft sich jetzt infolge des Rückgangs im Wert höchstens noch auf siebenhundertfünfzig Pfund. Nun kann jede der Töchter im Fall ihrer Verehelichung eine Rente von zweihundertfünfzig Pfund beanspruchen. Es ist also augenscheinlich, dass, falls beide Töchter sich verheiratet hätten, von der ganzen Herrlichkeit blutwenig übrig geblieben wäre, ja dass sogar schon die Abfindung einer der Töchter ihm eine ganz empfindliche Einbuße verursacht. Mein Vormittag war also wohlangewendet; habe ich doch jetzt den Beweis in Händen, dass ihm alles daran gelegen sein musste, die Heirat zu hindern; und nun, Watson, lass uns in dieser wichtigen Sache keine Zeit mehr verlieren, zumal der Alte Wind davon hat, dass wir uns mit seinen Angelegenheiten beschäftigen. Wenn Sie also bereit sind, wollen wir uns einen Wagen zur Waterloo Station bestellen. Bitte stecken Sie auch Ihren Revolver ein. Damit kommt man gegenüber Herrschaften, die stählerne Schürhaken krumm biegen, am besten aus. Wenn wir dann noch Kamm und Zahnbürste mitnehmen, haben wir, denke ich, alles, was wir brauchen.«
Am Bahnhof hatten wir das Glück, gerade einen Zug nach Leatherhead zu treffen; dort angekommen, nahmen wir im nächsten Wirtshaus ein Wägelchen, auf dem wir vier oder fünf Meilen weit durch die freundlichen Gelände von Surrey hinfuhren. Es war ein herrlicher Tag, klarer Sonnenschein und kaum ein Wölkchen am Himmel. Die Bäume und Hecken am Weg erglänzten im ersten Grün, und die ganze Luft war von dem erfrischenden Geruch des feuchten Erdreichs erfüllt. Lebhaft empfand wenigstens ich für meine Person den eigentümlichen Gegensatz zwischen dem lieblichen Frühlingsbild und der unheimlichen Aufgabe, die unserer wartete. Holmes saß, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupt, in tiefes Nachdenken versunken da. Plötzlich fuhr er auf, klopfte mir auf die Schulter und deutete nach rechts. »Sehen Sie dorthin!«, rief er.
Ein dichter Park zog sich jenseits der Wiesen einen sanften Abhang hinauf, der oben von einem Wäldchen bekränzt war; mitten aus dem Dickicht ragte der altersgraue Dachfirst eines Herrenhauses hoch hervor.
»Stoke Moran?«, fragte er.
»Jawohl, Herr, das ist Dr. Grimesby Roylotts Haus«, erwiderte der Kutscher.
»Wo der Umbau gemacht wird? Das ist unser Ziel.«
»Dort drüben liegt das Dorf«, fuhr der Kutscher fort, indem er auf einen Haufen von Dächern deutete, die in einiger Entfernung zur Linken sichtbar wurden. »Aber wenn Sie zu dem Haus wollen, sind Sie früher dort, wenn Sie hier die Steige hinaufgehen und dann den Fußweg über die Felder einschlagen. Gerade dort, wo die Dame geht.«
»Die Dame ist Miss Stoner, wie mir scheint«, sagte Holmes und hielt die Hand über die Augen. »Ja, ich glaube, wir werden gut daran tun, Ihrem Rat zu folgen.«
Wir stiegen aus, bezahlten unser Fahrgeld, und das Wägelchen rasselte nach Leatherhead zurück.
»Ich hielt es für zweckmäßig«, meinte Holmes, während wir die Steige hinaufgingen, »den Kutscher glauben zu lassen, wir seien wegen der Bauarbeiten oder zu irgendeinem anderen geschäftlichen Zweck hergekommen. Das beugt vielleicht unnützem Gerede vor. – Guten Tag, Miss Stoner, Sie sehen, wir haben Wort gehalten.«
Mit freudig erregter Miene kam unsere Schutzbefohlene uns entgegengelaufen. »Ich habe Sie sehnlich erwartet«, rief sie und drückte uns warm die Hand. »Es hat sich alles herrlich gefügt. Der Vater ist nach London gegangen und wird schwerlich vor Abend zurückkommen.«
»Wir haben unterdessen das Vergnügen gehabt, des Herrn Doktors Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Holmes und gab ihr mit ein paar Worten eine flüchtige Schilderung unseres Erlebnisses.
Sie wurde bei dieser Kunde weiß bis zu den Lippen. »Gütiger Himmel!«, rief sie. »Er ist mir also nachgegangen!«
»So scheint es.«
»Er ist so schlau, dass ich nie weiß, wann ich sicher vor ihm bin. Was wird er sagen, wenn er heimkommt?«
»Er soll sich nur in Acht nehmen, er könnte sonst vielleicht finden, dass ihm ein noch Schlauerer auf der Spur ist. Sie müssen sich heute Nacht vor ihm einschließen. Wird er gewalttätig, bringen wir Sie zu Ihrer Tante nach Harrow. Jetzt müssen wir aber unsere Zeit nach Kräften ausnützen, also führen Sie uns bitte ohne Verzug nach den Zimmern, die wir zu besichtigen haben.«
Das Gebäude, mit seinen grauen, moosbewachsenen Quadersteinen, bestand aus einem hohen Mittelbau, von dem an jedem Ende ein geschweifter Flügel auslief. An dem linken Flügel waren die zerbrochenen Fenster mit Brettern vernagelt und das Dach teilweise eingestürzt – ein Bild des Verfalls. Der Mittelbau befand sich schon in etwas besserem Stand, und der rechte Flügel machte einen verhältnismäßig neuen Eindruck; die Vorhänge an den Fenstern und der blaue Rauch, der sich über den Schornsteinen kräuselte, zeigten an, dass hier die Familie wohnte. An der Außenwand war ein Gerüst aufgeschlagen und das Mauerwerk durchgebrochen; von einem Arbeiter war jedoch zurzeit weit und breit nichts zu sehen. Holmes ging langsam auf dem schlechtgepflegten Rasenplatz auf und ab und untersuchte die Fenster aufs Peinlichste von außen.
»Dies hier gehört wohl zu Ihrem früheren Schlafzimmer, das mittlere zu dem Ihrer Schwester, und das letzte zunächst dem Mittelbau zu Dr. Roylotts Schlafzimmer?«
»Ganz richtig. Aber gegenwärtig schlafe ich in dem mittleren.«
»Während der baulichen Arbeiten vermutlich. Übrigens kommt es mir nicht gerade vor, als ob hier an der Außenwand die Ausbesserung dringend nötig gewesen wäre.«
»Ganz und gar nicht. Ich glaube, dass es lediglich ein Vorwand war, um mich aus meinem Zimmer zu vertreiben.«
»Ha, sehr wohl möglich. Und an der anderen Seite des schmalen Flügels läuft wohl der Gang hin, auf den die drei Zimmer münden? Natürlich hat er auch Fenster.«
»Aber nur ganz kleine, durch die ein Mensch nicht hereinkommen kann.«
»Da Ihre Schwester und Sie Ihre Zimmer nachts abschlossen, waren diese von dort her unzugänglich. Wollten Sie jetzt die Güte haben, in Ihrem Zimmer die Läden zuzumachen?«
Miss Stoner tat es, und Holmes untersuchte dieselben zuerst sorgfältig durch das offene Fenster; dann machte er auf jede mögliche Weise den Versuch, den Laden zu erbrechen, jedoch ohne Erfolg. Nirgends war der geringste Spalt, in dem sich hätte etwa ein Messer ansetzen lassen, um die Stange zu lockern. Dann untersuchte er auch die Angeln, allein sie waren aus starkem Eisen und saßen fest in dem massiven Mauerwerk. »Hm«, meinte er und rieb sich das Kinn in seiner Verlegenheit, »meine Annahme stößt allerdings auf Schwierigkeiten. Hier konnte kein Mensch hereinkommen, wenn die Läden geschlossen waren. Nun, wir werden ja sehen, ob die innere Besichtigung vielleicht Licht in die Sache bringt.«
Eine kleine Seitentür führte in den weißgetünchten Gang, auf den die drei Schlafzimmer mündeten. Das äußerste wollte Holmes nicht sehen, deshalb begaben wir uns sogleich ins mittlere, worin Miss Stoner gegenwärtig schlief und in welchem ihre Schwester gestorben war. Es war ein heimlicher kleiner Raum mit niederer Decke und großem Kamin, wie man sie in alten Landsitzen oft trifft. Eine braune Kommode stand in der einen Ecke, ein schmales, weiß bezogenes Bett in einer anderen und ein Toilettentisch zur Linken des Fensters. Diese Möbel bildeten zusammen mit zwei geflochtenen Stühlen und einem Teppich in der Mitte die ganze Einrichtung. Das Holzwerk an Boden und Wandverkleidung waren braune, wurmstichige eichene Dielen, so alt und schwarz, dass sie wohl noch aus der ersten Zeit des Gebäudes herstammen mochten. Holmes schob sich einen der Stühle in eine Ecke, ließ von diesem Platz aus den Blick ringsumher laufen und musterte stumm den ganzen Raum mit größter Genauigkeit.
»Wohin geht diese Klingel?«, fragte er zuletzt und deutete dabei auf einen dicken Klingelzug, der neben dem Bett herabhing, sodass die Quaste auf dem Kissen ruhte.
»In das Zimmer der Haushälterin.«
»Sie scheint neuer zu sein als die übrige Einrichtung.«
»Jawohl, sie wurde erst vor ein paar Jahren angebracht.«
»Vermutlich auf Verlangen Ihrer Schwester?«
»Nein, soviel ich weiß, hat Julia sie nie benutzt. Wir waren gewohnt, uns alles, was wir brauchten, selbst zu holen.«
»Nun, dann war es wahrhaftig recht überflüssig, einen so schönen Klingelzug anzubringen. Sie erlauben wohl, dass ich mich jetzt ein paar Minuten auf dem Boden umsehe.« Er legte sich mit der Lupe in der Hand nieder und kroch behände vor- und rückwärts, um jede Spalte zwischen den Dielen auf das Genaueste zu untersuchen. Hierauf prüfte er die Holztäfelung des Zimmers ebenso sorgfältig. Zuletzt trat er an das Bett und betrachtete es längere Zeit, während er gleichzeitig den Blick an der Wand hinter demselben auf- und abgleiten ließ. Schließlich fasste er den Glockenzug und tat einen tüchtigen Ruck daran.
»Das ist ja nur eine Scheinklingel!«, sagte er.
»Läutet sie nicht?«
»Nein, es ist nicht einmal ein Draht daran befestigt. Das ist höchst interessant. Sehen Sie nur, sie ist gerade über dem kleinen Luftloch an einem Haken festgemacht.«
»Wie seltsam! Das ist mir noch nie aufgefallen.«
»Höchst wunderlich!«, murmelte Holmes, indem er nochmals an der Klingel zog. »Einiges in diesem Zimmer ist wirklich ganz merkwürdig. Zum Beispiel muss ja der Baumeister ein vollkommener Narr gewesen sein, dass er ein Luftloch ins Nebenzimmer gemacht hat, während es geradeso gut ins Freie hinausgehen konnte.«
»Es stammt ebenfalls erst aus neuerer Zeit«, bemerkte das Fräulein.
»Wurde wohl zugleich mit dem Glockenzug angebracht?«
»Ja, damals hat man verschiedene kleine Änderungen vorgenommen.«
»Die recht interessanter Art sind – Scheinklingeln und Luftlöcher, die keine frische Luft zuführen. Mit Ihrer Erlaubnis, Miss Stoner, wollen wir jetzt unsere Besichtigung in Dr. Roylotts Zimmer fortsetzen.«
Dieses war größer als das vorige, aber ebenso einfach eingerichtet. Ein Feldbett, ein kleines Gestell mit Büchern, zumeist medizinischen Inhalts, ein Lehnstuhl neben dem Bett, ein einfacher Holzstuhl an der Wand, ein runder Tisch und ein großer eiserner Geldschrank fielen zunächst ins Auge. Holmes ging langsam durch das Zimmer und besichtigte ein Stück um das andere mit der schärfsten Aufmerksamkeit.
»Was ist hier drinnen?«, fragte er, an den Eisenschrank klopfend.
»Meines Stiefvaters Geschäftspapiere.«
»So! – Sie haben also schon hineingesehen?«
»Nur ein einziges Mal, vor Jahren. Es war nichts darin als Papiere, soviel ich mich erinnere.«
»Ist nicht vielleicht eine Katze drinnen?«
»Nein! Wie kommen Sie auf den sonderbaren Einfall?«
»Sehen Sie hierher.« Er nahm eine kleine Untertasse voll Milch von dem Schrank herunter, die oben gestanden hatte.
»Nein, wir halten keine Katze. Aber ein Leopard und ein Pavian sind im Haus.«
»Ja – so! Nun, ein Leopard ist ja eben nichts als eine große Katze, allerdings dürfte eine Untertasse voll Milch für seine Bedürfnisse nicht weit reichen. Nun möchte ich nur noch eines ergründen.« Damit kniete er vor den Holzstuhl hin und prüfte den Sitz mit größter Aufmerksamkeit.
»Danke. Das wäre also festgestellt«, sagte er, indem er aufstand und seine Lupe einsteckte. »Hallo! Da sehe ich noch etwas Interessantes!«
Der Gegenstand, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, war eine kleine Hundepeitsche, die an der einen Ecke des Betts hing und deren Schnur so zusammengeknüpft war, dass sie eine runde Schleife bildete.
»Was halten Sie davon, Watson?«
»Das ist eine ganz gewöhnliche Hundepeitsche. Nur kann ich mir nicht denken, wozu die Schleife daran dienen soll.«
»Also ist sie doch nicht so ganz gewöhnlicher Art, nicht wahr? Ach ja, es ist eine schlechte Welt! Und am Allerschlimmsten ist es, wenn ein fähiger Kopf seine Gaben zu verbrecherischen Gedanken gebraucht. – Ich glaube, ich habe jetzt genug gesehen, Miss Stoner; wenn Sie erlauben, gehen wir wieder auf den Rasenplatz hinaus.«
Noch nie hatte ich meinen Freund mit so grimmiger Miene und so finster zusammengezogenen Brauen gesehen, als da wir den Schauplatz der Untersuchung verließen. Mehrmals gingen wir auf dem Grasplatz auf und ab, aber weder ich noch Miss Stoner mochten ihn durch eine Frage in seinen Gedanken stören, bis er selbst sich dem träumerischen Nachsinnen entriss.
»Es ist von höchster Wichtigkeit, Miss Stoner«, begann er endlich, »dass Sie meinem Rat in jeder Hinsicht strengstens Folge leisten.«
»Das werde ich auch unfehlbar tun.«
»Der Fall ist zu ernst, um die geringste Unschlüssigkeit zu gestatten. Ihr Leben hängt möglicherweise von Ihrem unbedingten Gehorsam ab.«
»Ich gebe mich Ihnen völlig in die Hände, verlassen Sie sich fest darauf.«
»Vor allem muss ich mit meinem Freund die Nacht in Ihrem Zimmer verbringen.«
Ganz verwundert starrten wir ihn beide an.
»Jawohl, das muss sein. Sie sollen gleich das Nähere darüber hören. Das da drüben ist doch das Dorfwirtshaus?«
»Jawohl, das ist die ›Krone‹.«
»Sehr gut. Sieht man Ihre Fenster von dort aus?«
»Gewiss.«
»Wenn Ihr Stiefvater heimkommt, müssen Sie Kopfweh vorschützen und sich in Ihr Zimmer einschließen. Sobald Sie dann hören, dass er sich zur Ruhe begeben hat, öffnen Sie die Riegel am Fenster und den Laden, stellen Ihre Lampe zum Zeichen für uns ans Fenster und ziehen sich dann in aller Stille in Ihr früheres Schlafzimmer zurück. Sie können sich doch sicherlich trotz der Bauarbeiten für eine Nacht darin einrichten.«
»O ja, ganz gut.«
»Das Weitere überlassen Sie uns.«
»Was haben Sie denn aber vor?«
»Wir werden die Nacht in Ihrem Zimmer verbringen, um dem Geräusch, das Sie so erschreckt hat, auf die Spur zu kommen.«
»Ich glaube, Mr Holmes, Sie haben sich bereits eine Ansicht gebildet«, sagte Miss Stoner und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Kann wohl sein.«
»Dann entdecken Sie mir um des Himmels willen, was an dem Tod meiner Schwester schuld war.«
»Ich möchte gern erst noch sichere Beweise haben.«
»Wenigstens können Sie mir doch sagen, ob meine Ansicht zutrifft, dass sie an einem plötzlichen Schrecken gestorben ist.«
»Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Überzeugung lag wohl eine greifbarere Ursache vor. Nun aber, Miss Stoner, müssen wir Sie allein lassen; denn wenn Dr. Roylott zurückkäme und uns sähe, wäre unser ganzer Besuch umsonst gewesen. Leben Sie wohl und halten Sie sich tapfer; wenn Sie meinen Weisungen pünktlich nachkommen, dürfen Sie versichert sein, dass wir Ihnen die Gefahren, von denen Sie bedroht sind, bald aus dem Weg geräumt haben werden.«
Drüben in der ›Krone‹ verschafften wir uns im oberen Stockwerk zwei Zimmer, deren Fenster gerade zum Parktor und dem bewohnten Flügel des Herrenhauses hinüberschauten. In der Dämmerung kam Dr. Roylott angefahren; seine Riesengestalt ragte hoch empor neben dem schmächtigen Burschen, der den Wagen lenkte. Als derselbe das schwere Gittertor nicht ohne Weiteres aufbrachte, hörten wir den Doktor mit seiner heiseren Stimme auf ihn einschreien und sahen, wie er in der Wut die geballten Fäuste gegen ihn schüttelte. Das Wägelchen fuhr wieder davon, und einige Minuten darauf blitzte plötzlich aus einem der Wohnzimmer das Licht einer Lampe durch das Laubwerk herüber.
»Wissen Sie, Watson«, sagte Holmes, als wir in der zunehmenden Dunkelheit beisammen saßen, »es ist mir wirklich nicht ganz wohl dabei, dass ich Sie heute Nacht mitnehmen soll. Die Sache ist durchaus nicht ohne ernstliche Gefahr.«
»Kann ich dabei von Nutzen sein?«
»Ihre Gegenwart ist möglicherweise von ganz unbezahlbarem Wert.«
»Dann werde ich unfehlbar mitgehen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Sie sprechen von Gefahr. Offenbar haben Sie in den Zimmern mehr gesehen, als ich entdecken konnte.«
»Nein, ich habe wahrscheinlich nur mehr Schlüsse daraus abgeleitet. Gesehen haben Sie wohl geradeso viel wie ich.«
»Außer dem Klingelzug habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen. Zu welchem Zweck der aber dienen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, das gestehe ich ehrlich.«
»Haben Sie auch das Luftloch gesehen?«
»Ja, aber ich meine, eine kleine Öffnung, die aus einem Zimmer ins andere führt, ist doch nichts so gar Ungewöhnliches. Sie ist ja so klein, dass kaum eine Ratte durchschlüpfen kann.«
»Ich wusste schon, ehe wir hierherkamen, dass wir ein solches Luftloch finden würden.«
»Aber, bester Holmes!«
»Sie erinnern sich gewiss, dass uns Miss Stoner berichtete, ihre Schwester habe Dr. Roylotts Zigarre gerochen. Nun, das brachte mich sogleich auf den Gedanken, dass zwischen den beiden Zimmern eine Verbindung bestehe. Natürlich konnte dieselbe nur klein sein, sonst wäre sie bei der gerichtlichen Untersuchung bemerkt worden; so kam ich zu dem Schluss, dass es sich um ein Luftloch handeln werde.«
»Aber was kann denn dabei Schlimmes sein?«
»Es ist doch zum Mindesten ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass die Dame, die in ihrem Bett schläft, plötzlich stirbt, gerade nachdem man oben über demselben ein Luftloch angebracht und daneben einen Klingelzug befestigt hat. Kommt Ihnen das nicht auch auffallend vor?«
»Ich vermag noch immer nicht einzusehen, wie das alles zusammenhängen soll.«
»Haben Sie vielleicht etwas Besonderes an dem Bett bemerkt?«
»Nein.«
»Es ist am Fußboden angenagelt. Ist Ihnen das sonst schon jemals vorgekommen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Die Dame konnte ihr Bett nicht von der Stelle rücken. Es musste also gerade unter dem Luftloch und dem Seil stehen bleiben – ein Seil müssen wir es doch eigentlich nennen, da es auf einen Klingelzug offenbar überhaupt nicht abgesehen war.«
»Holmes!«, rief ich aus. »Ich glaube, mir dämmert allmählich eine Ahnung auf, wohin Ihre Andeutungen zielen. Wir sind nur gerade zu rechter Zeit gekommen, um ein abgefeimtes, grässliches Verbrechen zu verhindern.«
»Jawohl, abgefeimt und grässlich! Wenn ein Arzt zum Verbrecher wird, tut er es allen anderen zuvor; denn er besitzt die nötigen Kenntnisse und hat starke Nerven. So war es zu allen Zeiten. Der Mensch, mit dem wir es zu tun haben, stellt zwar selbst seine berüchtigtsten Vorbilder in den Schatten, doch meine ich, Watson, wir dürfen es trotzdem mit ihm aufnehmen. Aber es warten unserer noch Schrecknisse genug, bevor die Nacht um ist; deshalb lassen Sie uns jetzt in aller Ruhe und Gemütlichkeit eine Pfeife zusammen rauchen und ein paar Stunden an etwas Heiteres denken.«
Etwa um neun Uhr erlosch der Lichtschein zwischen den Bäumen, und das Herrenhaus lag nun in tiefem Dunkel. Zwei Stunden waren langsam dahingeschlichen, als plötzlich, mit dem Schlag elf Uhr, ein einzelnes helles Licht gerade uns gegenüber aufblitzte.
»Das ist das Zeichen für uns«, sagte Holmes aufspringend. »Es kommt aus dem Mittelfenster.«
Beim Verlassen des Hauses kündigten wir dem Wirt mit ein paar Worten an, dass wir noch einen späten Besuch bei einem Bekannten machen wollten, wo wir möglicherweise auch die Nacht zubringen würden. Im nächsten Augenblick blies uns bereits der kalte Wind auf der finsteren Landstraße ins Gesicht, und der Lichtschein vom Herrenhaus war nun unser einziger Leitstern auf dem dunklen, unheimlichen Pfad.
In die Anlagen hineinzukommen kostete uns wenig Mühe, denn in der alten Umfassungsmauer gähnten an mehreren Stellen weite Lücken. Wir hielten uns unter den Bäumen, bis wir auf dem Grasplatz waren. Eben hatten wir diesen überschritten und waren im Begriff, durch das Fenster einzusteigen, als aus dem dichten Lorbeergebüsch ein Wesen hervorschoss, das einem hässlichen, missgestalteten Kind ähnlich sah. Zuerst ließ es sich unter allerlei Gliederverrenkungen auf den Rasen niederfallen, dann rannte es eiligst über den Rasen davon und verschwand in der Dunkelheit.
»Mein Gott«, flüsterte ich, »haben Sie es gesehen?«
Holmes war im ersten Augenblick nicht minder erschrocken als ich selbst. In seiner Aufregung presste er mir das Handgelenk zusammen, dass ich hätte aufschreien mögen. Dann aber brach er in ein unterdrücktes Lachen aus und legte seine Lippen an mein Ohr.
»Eine nette Wirtschaft«, flüsterte er. »Das ist ja der Pavian.«
Ich hatte die absonderlichen Liebhabereien des Herrn Doktors ganz vergessen. Ein Leopard war ja auch noch da und konnte uns jeden Augenblick auf den Schultern sitzen. Ich gestehe, dass ich mich etwas erleichtert fühlte, als ich mich im Innern des Schlafzimmers befand, nachdem ich zuvor, dem Beispiel meines Freundes folgend, die Schuhe ausgezogen hatte. Dieser schloss nun geräuschlos die Läden, stellte die Lampe auf den Tisch und ließ dann seinen Blick im Zimmer umherschweifen. Es war noch alles genau so, wie wir es bei Tag gesehen hatten. Dann schlich er auf den Zehen zu mir und flüsterte durch die hohle Hand so leise, dass ich ihn nur gerade verstehen konnte:
»Das geringste Geräusch würde unser Vorhaben zunichtemachen.«
Ich nickte, zum Zeichen, dass ich verstanden habe.
»Wir dürfen die Lampe nicht brennen lassen. Er würde das Licht durch das Luftloch sofort bemerken.«
Ich nickte wieder.
»Schlafen Sie nur nicht ein – es könnte Sie das Leben kosten. Halten Sie Ihre Pistole für den Notfall bereit; ich will mich auf das Bett setzen, und Sie nehmen den Stuhl dort.«
Ich zog meinen Revolver aus der Tasche und legte ihn auf den Tischrand.
Holmes hatte eine lange dünne Gerte mit hereingebracht, die er nun neben sich auf das Bett legte, nebst einer Zündholzschachtel und einem Lichtstümpfchen. Dann schraubte er den Docht der Lampe herunter, und wir saßen im Dunkeln.
Wie könnte ich diese entsetzliche Wache je vergessen? Kein Laut, nicht der leiseste Atemzug war vernehmbar, und doch wusste ich, dass mein Begleiter kaum ein paar Schritte von mir mit offenen Augen in derselben Erregung und Spannung aller Nerven dasaß wie ich selbst. Die Läden ließen nicht den kleinsten Lichtstrahl durch, und die Finsternis, die uns umgab, war undurchdringlich. Draußen ließ sich von Zeit zu Zeit der Schrei eines Nachtvogels und einmal auch, gerade vor unserem Fenster, ein langgezogenes katzenartiges Wimmern hören, das uns bewies, dass der Leopard wirklich frei umherlief. Aus weiter Ferne klangen die tiefen Töne der Kirchenuhr herüber, die alle Viertelstunden schlug. Wie lang wurden sie uns, diese Viertelstunden! Es schlug zwölf, eins, zwei, drei – und noch immer saßen wir da und harrten stumm der Dinge, die da kommen sollten.
Plötzlich blitzte an dem Luftloch ein flüchtiger Lichtschein auf, der sofort wieder verschwand, während sich nun ein ausgesprochener Geruch von brennendem Öl und erhitztem Metall bemerkbar machte. Es hatte jemand im Nebenzimmer eine Blendlaterne angezündet. Ich hörte etwas leise sich bewegen, und dann war wieder alles still, während der Geruch immer stärker wurde. Eine halbe Stunde saßen wir so mit lauschendem Ohr. Nun ließ sich mit einem Mal ein anderer Laut vernehmen – ein ganz leises, sanftes Pfeifen, wie wenn ein dünner Dampfstrahl längere Zeit aus einem Kessel ausströmt. Augenblicklich sprang Holmes vom Bett auf, zündete ein Streichholz an und hieb mit seiner Gerte wütend auf den Klingelzug los.
»Sie sehen es doch, Watson?«, rief er. »Sie sehen es?«
Aber ich sah nichts. In dem Augenblick, als Holmes Licht machte, vernahm ich zwar ein sanftes, helles Pfeifen, aber bei der plötzlichen Helle, die meine müden Augen traf, war ich nicht imstande zu unterscheiden, auf was mein Freund so grimmig hineinschlug. Doch bemerkte ich wohl, dass er totenblass war und Entsetzen und Abscheu sich in seinen Zügen malten.
Jetzt hatte er aufgehört zu schlagen und blickte noch zu dem Luftloch empor, als plötzlich aus der nächtlichen Stille der schauerlichste Schrei hervordrang, den ich je vernommen habe. Immer lauter und lauter schwoll derselbe an; Schmerz, Angst und Wut – das alles klang vereint aus dem grässlichen, heiseren Laut an unser Ohr. Weit drunten im Dorf, ja sogar in dem entlegenen Pfarrhaus fuhren – so sagte man uns später – bei dem Schrei die Schläfer von ihrem Lager auf. Uns stockte vor Entsetzen der Atem, und starr blickten wir einer den anderen an, bis auch der letzte Widerhall in der tiefen Stille erstorben war.
»Was mag das bedeuten?«, brachte ich mühsam hervor.
»Das bedeutet, dass alles vorüber ist«, gab Holmes zur Antwort, »und vielleicht ist es schließlich am besten so. Nehmen Sie Ihre Pistole zur Hand, dann wollen wir uns in Dr. Roylotts Zimmer begeben.«
Mit leichenblassem Gesicht steckte er die Lampe an und schritt voran auf den Gang hinaus. Zweimal klopfte er an des Doktors Zimmertür, ohne von drinnen Antwort zu erhalten. Nun drückte er die Klinke auf und trat ein, ich mit gespannter Pistole dicht hinter ihm.
Ein eigentümlicher Anblick bot sich hier unseren Augen. Auf dem Tisch stand eine Blendlaterne, aus deren halbgeöffnetem Türchen ein greller Lichtstrahl auf den Eisenschrank fiel, dessen Tür weit offen stand. Neben dem Tisch auf dem Holzstuhl saß Dr. Roylott in einem langen grauen Schlafrock, aus dem unten seine bloßen Knöchel hervorschauten, während seine Füße in roten türkischen Pantoffeln steckten. Auf seinem Schoß lag die Hundepeitsche mit der langen Schleife, die uns am Tag in die Augen gefallen war. Sein Kinn war aufwärtsgezogen, und seine glasigen Augen starrten schauerlich nach einer Ecke der Stubendecke empor. Um die Stirn hatte er ein eigentümliches gelbes Band mit bräunlichen Tupfen, das anscheinend fest um seinen Kopf gewunden war. Bei unserem Eintreten gab er keinen Laut von sich und rührte sich nicht.
»Das Band! Das getupfte Band!«, flüsterte Holmes.
Ich tat einen Schritt vorwärts. Auf einmal begann der eigentümliche Kopfschmuck sich zu bewegen, und mitten aus den Haaren des Dasitzenden erhob sich der platte, spitzige Kopf und der aufgeblasene Hals einer gräulichen Schlange.
»Es ist eine Sumpfotter!«, rief Holmes aus. »Die giftigste aller indischen Schlangen. Zehn Sekunden nach ihrem Biss lebte er schon nicht mehr. Hier ist in Wahrheit die Missetat auf ihren Urheber zurückgefallen, und der Verbrecher stürzte selbst in die Grube, die er anderen gegraben. Wir wollen das Tier vor allem wieder in seinen Behälter tun; dann können wir Miss Stoner nach einem sicheren Zufluchtsort bringen und die Behörde von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen.«
Bei diesen Worten nahm er die Peitsche geschwind der Leiche vom Schoß, warf die Schleife der Schlange um den Hals und zog sie von ihrem struppigen Lager weg. Dann trug er sie auf Armeslänge vor sich her zum Schrank und verschloss diesen wieder.
Dies ist der wahre Hergang beim Tod des Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran. Die gegenwärtige Erzählung hat sich bereits über Gebühr ausgedehnt; ich will es mir deshalb ersparen, noch ausführlich zu berichten, wie wir die traurige Kunde dem entsetzten Mädchen mitteilten, als wir es mit dem Frühzug in die Obhut der guten Tante nach Harrow brachten, und wie die Behörde auf dem Weg ihres langsamem Verfahrens endlich zu dem Schluss gelangte, dass der Doktor sein plötzliches Lebensende durch unvorsichtiges Spielen mit einem gefährlichen Lieblingstier verschuldet habe. Das wenige, was ich über den Fall noch weiter erfuhr, teilte mir Holmes unterwegs auf der Heimfahrt am nächsten Tag mit.
»Ich war«, erklärte er mir, »zu einer gänzlich irrigen Schlussfolgerung gelangt, woraus Sie sehen, wie gefährlich es stets ist, mein lieber Watson, seine Schlüsse auf ungenügender Grundlage aufzubauen. Die Anwesenheit der Zigeuner und die doppelsinnige Äußerung der unglücklichen Julia, durch die sie zweifellos den Eindruck bezeichnen wollte, den die Gestalt der Schlange im Schein des Zündhölzchens auf ihr Auge gemacht hatte, genügten, um mich auf eine völlig falsche Spur zu bringen. Ich kann nur das Verdienst für mich in Anspruch nehmen, dass ich augenblicklich davon abging, als mir klarwurde, dass die Gefahr, welche der Bewohnerin des Zimmers drohte – dieselbe mochte im Übrigen sein, welcher Art sie wollte –, weder durch die Tür noch durch das Fenster nahen könne. Sofort fiel mir nun das Luftloch auf mit dem Klingelzug daneben, der auf das Bett herabhing. Als ich sodann entdeckte, dass es gar keine Klingel war, und ich das Bett am Boden befestigt fand, erwachte in mir augenblicklich der Verdacht, dass das Seil nur dazu diene, um irgendetwas durch das Luftloch an demselben auf das Bett herunterzulassen. Sofort dachte ich an eine Schlange; hielt ich mir dann dazu weiter vor Augen, dass der Doktor sich beständig Tiere aus Indien schicken ließ, glaubte ich wirklich annehmen zu dürfen, dass ich mich nun auf der richtigen Spur befand. Der Gedanke, sich einer Art von Gift zu bedienen, das sich durch keinerlei chemische Untersuchung nachweisen ließ, war einem Menschen mit den Kenntnissen und der Gewissenlosigkeit des Doktors, der lange im Orient gelebt hatte, ganz besonders zuzutrauen. Die rasche Wirkung eines solchen Gifts musste ihm von seinem Standpunkt aus ebenfalls höchst erwünscht sein. Der Leichenbeschauer hätte fürwahr ein scharfes Auge haben müssen, um die zwei winzigen dunklen Pünktchen – die einzige Spur, die der Biss der Giftzähne hinterließ – wahrzunehmen. Dann dachte ich über das Pfeifen nach. Er musste doch die Schlange natürlich wieder zurückrufen, ehe es hell wurde, damit das Opfer dieselbe nicht erblicken konnte. Deshalb hatte er sie, wahrscheinlich mittels der Milch, die wir bei ihm vorfanden, so abgerichtet, dass sie auf seinen Pfiff zu ihm kam. Zur geeignetsten Zeit ließ er sie allemal durch das Luftloch hinüberschlüpfen; er konnte sich darauf verlassen, dass sie an dem Klingelzug auf das Bett hinunterkroch. Ob sie die Schlafende sofort beißen würde, war allerdings nicht sicher; möglich, dass diese eine ganze Woche lang der Gefahr Nacht für Nacht entging; aber früher oder später musste sie doch zum Opfer fallen.
Zu diesen Schlussfolgerungen war ich bereits gelangt, ehe ich noch des Doktors Zimmer überhaupt betreten hatte. An seinem Stuhl sah ich dann, dass er sich regelmäßig daraufzustellen pflegte; natürlich, denn er hätte ja sonst nicht zu dem Luftloch hinaufzureichen vermocht. Der Anblick des eisernen Schranks, der Untertasse mit Milch und der Schlinge an der Peitschenschnur genügte dann vollends, um jeden noch etwa möglichen Zweifel bei mir zu verscheuchen. Der metallene Klang, den Miss Stoner hörte, rührte offenbar von der Tür des Schranks her, den ihr Vater hinter seiner grausigen Bewohnerin hastig zuschlug. Welche Schritte ich dann tat und wie sehr sich die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigt hat, ist Ihnen zur Genüge bekannt. Sobald ich die Schlange zischen hörte, was Sie ohne Zweifel gleichfalls gehört haben, machte ich augenblicklich Licht und ging auf sie los …«
»Was zur Folge hatte, dass sie sich schleunigst durch das Luftloch davonmachte.«
»Und zur weiteren Folge, dass sie sich drüben auf ihren Herrn stürzte. Ein paar von den Hieben mit meiner Gerte saßen ganz gehörig; dadurch erwachte bei der Schlange ihre natürliche Bösartigkeit, sodass sie auf den Nächstbesten losging. Insofern trage ich zweifellos mittelbar die Schuld an des Doktors Tod, aber ich glaube kaum, dass sie mein Gewissen sonderlich schwer bedrücken wird.«