»Warum sollte ich nicht gehen?«

»Es scheint Gefahr damit verbunden zu sein.«

»Meinen Sie Gefahr von unserem Familiendämon oder Gefahr vonseiten menschlicher Wesen?«

»Das müssen wir eben herausbekommen.«

»Nun, mag dem sein, wie ihm wolle, meine Antwort steht fest. Mr Holmes, kein Teufel in der Hölle und kein Mensch auf Erden kann mich hindern, in das Haus meiner Väter zu gehen. Bei dieser Antwort werde ich bleiben.«

Seine dunklen Augenbrauen zogen sich bei diesen Worten zusammen und ein tiefes Rot flog über sein Gesicht. Augenscheinlich war das feurige Temperament der Baskervilles in dem Letzten ihres Stammes noch nicht erloschen.

»Indessen«, fuhr er fort, »habe ich noch nicht recht Zeit gehabt, über alles mir von Ihnen Gesagte gehörig nachzudenken. Es ist ein bisschen viel verlangt, dass ich sofort meine Entscheidung in einer Sache treffen soll, die ich noch kaum richtig begriffen habe. Ich möchte mir in einer ruhigen Stunde alles ordentlich zurechtlegen, um zu einem Entschluss zu kommen. Jetzt ist es halb zwölf, Mr Holmes, und ich gehe geraden Weges nach meinem Hotel. Wie wär’s, wenn Sie und Ihr Freund, Herr Doktor Watson, mit uns frühstückten? Dann werde ich Ihnen genau sagen können, was für einen Eindruck die ganze Geschichte auf mich macht.«

»Passt Ihnen das, Watson?«

»Vollkommen!«

»Nun, so können Sie uns erwarten. Soll ich Ihnen eine Droschke holen lassen?«

»Ich möchte lieber gehen, denn diese Geschichte hat mich ein bisschen warm gemacht.«

»Ich werde mich Ihnen mit Vergnügen zu diesem Spaziergang anschließen«, bemerkte sein Begleiter.

»Also treffen wir uns um zwei Uhr. Auf Wiedersehen und guten Morgen.«

Wir hörten die Schritte unserer Besucher, die die Treppe hinabstiegen; dann wurde die Haustür geschlossen. Augenblicklich war Holmes aus dem träumerischen Denker der Mann der Tat geworden.

»Ihren Hut und Ihre Stiefel, Watson, schnell! Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.« Er eilte in sein Schlafzimmer, warf seinen Hausrock ab und erschien ein paar Sekunden darauf in einem Gehrock. Wir eilten die Treppe hinunter und betraten die Straße. Doktor Mortimer und Baskerville waren ein paar Hundert Schritt vor uns in der Nähe der Oxford Street noch sichtbar.

»Soll ich voranlaufen und ihnen sagen, dass sie auf uns warten?«

»Um Gottes willen nicht, mein lieber Watson. Ihre Gesellschaft genügt mir vollkommen, wenn Sie die meinige erdulden wollen. Unsere neuen Bekannten tun sehr recht, dass sie zu Fuß gehen; denn es ist wirklich ein außerordentlich schöner Morgen für einen Spaziergang.«

Er beschleunigte seinen Schritt, bis wir die uns von den beiden Herren trennende Entfernung ungefähr auf die Hälfte verkürzt hatten. Wir folgten ihnen die Oxford Street entlang und dann die Regent Street hinunter. Einmal blieben sie stehen und besahen sich ein Schaufenster, worauf Holmes es ebenso machte. Einen Augenblick darauf ließ er einen Ausruf der Befriedigung hören; ich folgte seinem schnellen Blick und sah, dass eine Droschke, worin ein Mann saß, von der Stelle auf der anderen Straßenseite, wo sie gehalten hatte, jetzt langsam weiterfuhr.

»Das ist unser Mann, Watson! Vorwärts! Wir wollen ihn uns wenigstens genau ansehen, wenn wir nicht mehr tun können!«

Im selben Augenblick bemerkte ich einen buschigen schwarzen Bart und ein Paar stechender Augen, die durch das Seitenfenster der Droschke sich auf uns richteten. Unmittelbar darauf fuhr die Klappe im Verdeck des Wagens in die Höhe, dem Kutscher wurde etwas zugerufen, und die Droschke raste die Regent Street hinunter. Holmes sah sich schnell nach einer anderen um, aber es war keine leere in Sicht. Dann lief er in wilder Verfolgung durch das Straßengetriebe dem Wagen nach, aber der Vorsprung war zu groß, und die Droschke war bald nicht mehr zu sehen.

»Da haben wir’s!«, sagte Holmes bitter, als er keuchend und ganz blass vor Ärger wieder aus dem Wagengewoge hervorkam. »War solches Pech je erhört und solche Tölpelei dazu? Watson, Watson, wenn Sie ein gewissenhafter Mann sind, müssen Sie diese Dummheit ebenfalls berichten und meinen Erfolgen gegenüberstellen.«

»Wer war der Mann?«

»Ich habe keine Ahnung!«

»Ein Spion?«

»Hm, nach allem, was wir gehört haben, ist Baskerville seit seiner Ankunft in der Stadt ganz offenbar von irgendjemand sehr scharf überwacht worden. Wie hätte sonst der Betreffende so schnell wissen können, dass der junge Mann das Northumberland-Hotel als Absteigequartier gewählt hatte? Wenn man ihm am ersten Tag nachging, würde man – das war meine Schlussfolgerung – ihm auch am zweiten nachgehen. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich, während Dr. Mortimer seine Geschichte vorlas, zweimal ans Fenster ging?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Ich sah nach, ob vielleicht jemand auf der Straße herumlungerte, konnte aber niemand entdecken. Wir haben es mit einem gescheiten Mann zu tun, Watson. Die ganze Geschichte ist sehr ernster Art; ich bin mir zwar noch nicht ganz schlüssig geworden, ob wir es mit einem feindlichen oder mit einem freundlichen Element zu tun haben, aber ich behalte stets das ›Wie‹ und ›Warum‹ im Auge. Als unsere Besucher fortgingen, folgte ich ihnen sofort, in der Hoffnung, ihren unsichtbaren Verfolger ausfindig machen zu können. Das muss ein Schlaukopf sein, denn er hat sich nicht auf seine Beine verlassen, sondern sich eine Droschke genommen, sodass er bald hinter ihnen her- oder an ihnen vorbeifahren konnte, ohne bemerkt zu werden. Dieses Verfahren hat außerdem noch den Vorteil, dass er imstande war, ihnen sofort zu folgen, wenn sie etwa selber eine Droschke nehmen sollten. Indessen hat es auch einen offenbaren Nachteil.«

»Es macht ihn vom Droschkenkutscher abhängig.«

»Ganz recht.«

»Wie schade, dass wir uns nicht die Nummer gemerkt haben!«

»Mein lieber Watson, so tölpelhaft ich mich auch benommen habe, so bilden Sie sich doch wohl nicht allen Ernstes ein, dass ich vergessen hätte, nach der Nummer zu sehen? Unser Mann hat Nummer 2704. Aber das kann uns für den Augenblick nichts nützen.«

»Ich kann nicht einsehen, was Sie mehr hätten tun können.«

»Ich hätte, als ich die Droschke bemerkte, augenblicklich umkehren und in der entgegengesetzten Richtung weitergehen sollen. Ich hätte in aller Gemütlichkeit eine Droschke nehmen und dann dem Mann in angemessener Entfernung folgen können, oder noch besser, ich wäre zum Northumberland-Hotel gefahren und hätte dort gewartet. Wenn dann unser Unbekannter dem jungen Baskerville nachgefahren wäre, hätten wir ihn mit seinen eigenen Trumpfkarten schlagen und selber sehen können, wohin er sich weiter begab. Wir haben also einer unüberlegten Voreiligkeit, die von unserem Gegenspieler mit außerordentlicher Schnelligkeit und Entschlossenheit ausgenutzt wurde, es zu verdanken, dass wir den Mann aus den Augen verloren haben. Wir sind selber schuld.«

Während dieses Gesprächs waren wir langsam die Regent Street entlang geschlendert, und Dr. Mortimer und sein Begleiter waren längst unseren Blicken entschwunden.

»Es hat keinen Zweck, dass wir ihnen noch weiter nachgehen«, sagte Holmes. »Der Spürhund ist verschwunden und wird nicht wiederkommen. Wir müssen uns überlegen, was für Trümpfe wir jetzt noch in der Hand haben, und müssen sie fest und entschlossen ausspielen. Könnten Sie vor Gericht Zeugnis ablegen, was für ein Gesicht der Mann in der Droschke hatte?«

»Mit Bestimmtheit könnte ich nur den Bart beschreiben.«

»Ich auch – und daraus folgere ich, dass der Bart aller Wahrscheinlichkeit nach ein falscher war. Ein kluger Mann, der auf ein so heikles Unternehmen aus ist, braucht einen Bart nur, um seine Züge zu verbergen. Kommen Sie mit hier herein, Watson.«

Er betrat eins von den Büros der ›Expressbotengesellschaft‹ und wurde von dem Geschäftsführer mit großer Herzlichkeit begrüßt.

»Ach, ich sehe, Wilson, Sie haben den kleinen Fall nicht vergessen, wobei ich in der angenehmen Lage war, Ihnen beistehen zu können.«

»Ganz gewiss werde ich’s nicht vergessen! Sie retteten mir meinen guten Namen und vielleicht mein Leben.«

»Sie übertreiben, mein Bester! ... Es schwebt mir so vor, Wilson, Sie hatten unter Ihren Burschen einen gewissen Cartwright, der während unserer Bemühungen sich als recht gewandt erwies?«

»Ja, Mr Holmes, der ist noch bei uns.«

»Könnten Sie ihn mal hereinkommen lassen? Danke. Dann hätte ich gerne Kleingeld für diesen Fünfpfundschein.«

Ein vierzehnjähriger Knabe mit aufgewecktem, scharfgeschnittenem Gesicht war auf das Klingelzeichen des Geschäftsführers erschienen und stand jetzt in einer Haltung voller Ehrfurcht vor dem berühmten Detektiv.

»Geben Sie mir bitte mal das Hoteladressbuch«, sagte Holmes. »Danke ... Hier, Cartwright, sind die Namen von dreiundzwanzig Hotels, die sämtlich in unmittelbarer Nachbarschaft von Charing Cross liegen. Hier, siehst du sie?«

»Jawohl.«

»Du wirst sie sämtlich, eins nach dem anderen, aufsuchen.«

»Jawohl.«

»Überall gibst du zuerst dem Portier an der Außentür einen Schilling. Hier sind dreiundzwanzig Schillinge.«

»Jawohl.«

»Du wirst ihm sagen, du wünschtest die fortgeworfenen Papiere von gestern zu sehen. Du sagst, du suchtest ein wichtiges Telegramm, das verkehrt bestellt worden wäre. Verstanden?«

»Jawohl.«

»In Wirklichkeit suchst du aber nach dem Mittelbogen einer gestrigen Timesnummer, woraus mit einer Schere einige Stellen herausgeschnitten sind. Hier ist die betreffende Nummer der Times. Dies ist die Stelle, um die es sich handelt. Du könntest sie leicht wiedererkennen, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Der Portier von der Außentür wird überall den Portier vom Flurraum heranrufen; diesem wirst du ebenfalls einen Schilling geben. Hier sind noch dreiundzwanzig Schillinge. In zwanzig Fällen von den dreiundzwanzig wirst du hören, dass der Inhalt der Papierkörbe verbrannt oder sonst wie fortgeschafft sei. In den drei anderen Fällen wird man dir einen Haufen Papier zeigen, und du werden darin nach dem Timesblatt suchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass du es findest, ist ungeheuer gering. Hier sind zehn Schillinge extra für unvorhergesehene Ausgaben. Schicke mir vor heute Abend einen telegrafischen Bericht in die Baker Street ... Und nun, Watson, haben wir uns bloß noch telegrafisch nach dem Droschkenkutscher Nr. 2704 zu erkundigen, und dann wollen wir in irgendeinen von den Kunstsalons in der Bond Street gehen, um uns die Zeit zu vertreiben, bis wir im Hotel sein müssen.«

FÜNFTES KAPITEL

Sherlock Holmes besaß in sehr bemerkenswertem Maße die Gabe, nach freiem Willen seinen Geist ablenken zu können. In den nächsten zwei Stunden hatte er den rätselhaften Fall, in dessen Geheimnisse wir verwickelt worden waren, anscheinend völlig vergessen über der Betrachtung von Gemälden der modernen belgischen Schule. Selbst nachdem wir die Galerie verlassen hatten, sprach er, bis wir vor dem Hotel angelangt waren, ausschließlich über Kunst, wovon er, nebenbei bemerkt, höchst barbarische Begriffe hatte.

»Sir Henry Baskerville ist oben und erwartet Sie!«, sagte der Hotelsekretär. »Er bat mich, Sie sofort nach Ihrer Ankunft zu ihm führen zu lassen.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich vorher mal einen Blick in Ihr Fremdenbuch werfe?«, fragte Holmes.

»Nicht das Geringste.«

Aus dem Buch ergab sich, dass hinter dem Namen Baskerville nur zwei Eintragungen gemacht waren, die eine betraf ›Theophilus Johnson nebst Familie aus Newcastle‹, die andere ›Mrs Oldmore und Kammerjungfer von High Lodge, Alton‹.

»Dieser Mr Johnson muss unbedingt ein alter Bekannter von mir sein«, sagte Holmes. »Ein Rechtsanwalt, nicht wahr? Mit grauen Haaren und etwas lahm?«

»O nein, dieser Mr Johnson ist Kohlenbergwerksbesitzer, ein sehr rüstiger Herr und nicht älter als Sie.«

»Täuschen Sie sich auch wirklich nicht in Bezug auf seinen Beruf?«

»Nein, gewiss nicht; er steigt schon seit vielen Jahren stets bei uns ab und ist uns sehr gut bekannt.«

»Ach so; dagegen ist nichts mehr zu sagen. Nun noch Mrs Oldmore – mir ist, als erinnerte ich mich ihres Namens. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber wenn man sich nach einem Bekannten erkundigt, findet man bei der Gelegenheit oft einen anderen wieder.«

»Mrs Oldmore ist eine kränkliche, alte Dame. Ihr Gemahl war früher Bürgermeister von Gloucester; sie kommt stets zu uns, wenn sie in London ist.«

»Danke. Wie es scheint, kann ich leider keinen Anspruch auf ihre Bekanntschaft machen. Wir haben durch meine Fragen eine sehr wichtige Tatsache festgestellt, Watson«, fuhr Holmes leise fort, als wir die Treppe hinaufgingen. »Wir wissen jetzt, dass die Leute, die sich so außerordentlich aufmerksam um Sir Henry bekümmern, nicht in seinem Hotel Wohnung genommen haben. Daraus geht hervor, dass ihnen nicht nur, wie wir gesehen haben, sehr viel daran liegt, ihn zu beobachten, sondern dass ihnen ebenso viel darauf ankommt, nicht von ihm gesehen zu werden. Aus diesem Umstand aber lässt sich sehr viel entnehmen.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Es folgt daraus – hallo, mein lieber Herr, was ist denn nur los?!«

Wir waren oben an der Treppe gegen Sir Henry Baskerville selbst angerannt. Sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn, und in der Hand hielt er einen bestaubten alten Schuh. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte, und die Worte, die er schließlich hervorbrachte, trugen die Merkmale der breiten Mundart der westlichen Grafschaften in einer Weise, wie wir es am Morgen nicht an ihm bemerkt hatten.

»Die halten mich, scheint’s, für einen Säugling in dem Hotel hier!«, rief er. »Aber sie sollen sehen, dass sie mit ihren dummen Späßen an den Unrechten geraten sind. Sie sollen sich nur in acht nehmen! Zum Donnerwetter, wenn der Kerl meinen fehlenden Schuh nicht finden kann, dann gibt es Krach! Ich kann einen Spaß vertragen, Mr Holmes, aber diesmal haben sie denn doch ein bisschen zu sehr über die Schnur gehauen.«

»Sie suchen immer noch Ihren Schuh?«

»Jawohl, und ich will ihn wiederhaben!«

»Aber Sie sagten ja doch, es sei ein neuer brauner!«

»War es auch. Und nun ist’s ein alter schwarzer!«

»Was! Sie wollen doch nicht sagen ...?«

»Jawohl, das will ich sagen. Ich hatte überhaupt bloß drei Paar Schuhe: die neuen braunen, die alten schwarzen und die Lackschuhe, die ich anhabe. Gestern Abend nahmen sie einen von den braunen weg, und heute Vormittag mopsen sie mir einen von den schwarzen ... Na, haben Sie ihn endlich? Heraus mit der Sprache, Mann, und glotzen Sie mich nicht so an!«

Ein aufgeregter deutscher Kellner war auf dem Schauplatz der Handlung erschienen.

»Nein, Herr!«, sagte er »Ich habe überall im ganzen Hotel danach herumgefragt, aber kein Mensch wusste ein Wort davon.«

»Hören Sie: Entweder ist bis heute Abend der Schuh wieder da, oder ich sage dem Wirt, dass ich sofort sein Hotel verlasse!«

»Der Schuh wird sich finden, Herr – ich verspreche Ihnen, wenn Sie ein bisschen Geduld haben wollen, wird er gefunden werden!«

»Nehmen Sie sich in acht; es ist das letzte Mal, dass etwas von meinen Sachen in dieser Räuberhöhle mir abhanden kommt ... Mr Holmes, Sie werden entschuldigen, dass ich Sie mit solchen Lappalien behellige ...«

»O, mich dünkt, die Sache ist gar keine Lappalie.«

»Sie machen ja ein ganz ernstes Gesicht dazu!«

»Wie erklären Sie sich die Sache?«

»Ich versuche gar nicht, sie mir zu erklären. Es ist das verrückteste und sonderbarste Ding, was mir je vorgekommen ist, wie mir scheint.«

»Das sonderbarste – ja, das mag sein«, sagte Holmes nachdenklich.

»Was halten Sie selber davon?«

»Hm, ich kann nicht sagen, dass ich bis jetzt etwas davon verstehe. Ihr Fall ist sehr verwickelt, Sir Henry. Bringe ich ihn in Verbindung mit Ihres Onkels Tod, weiß ich wirklich nicht, ob mir unter den fünfhundert Fällen allerersten Ranges, die ich unter den Händen hatte, jemals ein so tief einschneidender vorkam. Aber wir haben verschiedene Fäden in der Hand, und es ist Aussicht, dass der eine oder der andere von denselben uns zur Wahrheit führt. Wir werden vielleicht Zeit verlieren, indem wir einem falschen Faden folgen, aber früher oder später müssen wir doch an den rechten kommen.«

Das Frühstück war recht heiter; von der Angelegenheit, die uns zusammengeführt hatte, wurde nicht viel gesprochen. Erst als wir nach dem Essen im anstoßenden Salon saßen, fragte Holmes Sir Henry Baskerville, was er zu tun gedächte.

»Ich gehe nach Baskerville Hall.«

»Und wann?«

»Ende dieser Woche.«

»Im Großen und Ganzen«, sagte Holmes, »halte ich Ihren Entschluss für verständig. Ich habe die vollkommene Gewissheit, dass hier in London Ihre Schritte überwacht werden, und hier in der Millionenstadt ist es schwer herauszufinden, was für Leute hinter Ihnen her sind und was sie wollen. Wenn sie böse Absichten haben, könnten sie Ihnen etwas zuleide tun, was wir nicht imstande wären zu verhindern. Sie wissen wohl nicht, Herr Doktor Mortimer, dass Ihnen heute Vormittag jemand folgte, als Sie von meinem Haus fortgingen?«

Dr. Mortimer fuhr von seinem Stuhl auf und rief: »Uns folgte jemand? Wer?«

»Das kann ich Ihnen unglücklicherweise nicht sagen. Haben Sie unter Ihren Nachbarn oder Bekannten von Dartmoor irgendeinen Mann mit schwarzem Vollbart?«

»Nein – oder warten Sie mal – doch. Ja. Barrymore, Sir Charles’ Kammerdiener, trägt einen schwarzen Vollbart.«

»Ha! Wo ist Barrymore?«

»Er ist Hausverwalter auf Baskerville Hall.«

»Wir wollen uns lieber vergewissern, ob er wirklich dort ist oder ob er vielleicht in London sein kann.«

»Wie können Sie das?«

»Geben Sie mir ein Telegrammformular. ›Ist alles bereit für Sir Henry?‹ So, das genügt. Adresse: Mr Barrymore, Baskerville Hall. Welches ist das nächste Telegrafenamt? Grimpen. Sehr gut; wir schicken eine zweite Depesche an den Postmeister von Grimpen: ›Telegramm an Mr Barrymore ist zu eigenen Händen zu bestellen. Wenn dieser abwesend, gefälligst Drahtantwort an Sir Henry Baskerville, Northumberland-Hotel.‹ Dadurch können wir vor heute Abend wissen, ob Barrymore auf seinem Posten in Devonshire ist oder nicht.«

»Sie haben recht!«, sagte Baskerville. »Übrigens, sagen Sie doch mal, Herr Doktor, was ist eigentlich dieser Barrymore für ein Mann?«

»Er ist der Sohn von dem früheren, jetzt verstorbenen Schlossverwalter. Die Familie ist jetzt schon seit vier Generationen im Amt. So viel ich weiß, sind er und seine Frau ein so respektables Ehepaar wie nur eines in der ganzen Gegend.«

»Zugleich ist es sehr klar«, fiel Baskerville ein, »dass, solange niemand von der Familie im Schloss wohnt, die Leutchen ein großartig schönes Haus und nichts zu tun haben.«

»Das stimmt.«

»Hatte Barrymore irgendeinen Vorteil von Sir Charles’ Testament?«, fragte Holmes.

»Er und seine Frau bekamen je fünfhundert Pfund Sterling.«

»Oho! Wussten sie, dass sie das kriegen würden?«

»Ja. Sir Charles sprach mit Vorliebe von seinen letztwilligen Verfügungen.«

»Das ist sehr interessant.«

»Ich will hoffen«, sagte Doktor Mortimer, »Sie sehen nicht mit misstrauischen Augen auf einen jeden, der von Sir Charles mit einem Vermächtnis bedacht worden ist; denn mir hat er auch tausend Pfund hinterlassen.«

»Was Sie nicht sagen! Und hat er auch sonst noch anderen Leuten etwas ausgesetzt?«

»Viele unbedeutende Beträge für einzelne Persönlichkeiten und viele größere für öffentliche Wohltätigkeitseinrichtungen. Der ganze Rest fiel an Sir Henry.«

»Und wie viel betrug dieser Rest?«

»Siebenhundertundvierzigtausend Pfund.«

Holmes zog überrascht die Augenbrauen empor und sagte:

»Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um eine solche Riesensumme handelte.«

»Sir Charles galt für reich, aber wir wussten selbst nicht, wie ungeheuer reich er war, bevor wir an die Aufstellung seiner Kapitalien kamen. Der Gesamtwert des Vermögens belief sich auf beinahe eine Million.«

»Alle Wetter! Das ist ein Einsatz, um welchen wohl jemand ein verzweifeltes Spiel wagen kann. Noch eine Frage, Herr Doktor! Angenommen, unserem jungen Freund hier stieße etwas zu – verzeihen Sie bitte diese unangenehme Hypothese, Sir Henry! –, wer würde dann das Vermögen erben?«

»Da Sir Charles’ jüngerer Bruder, Rodger Baskerville, unverheiratet gestorben ist, würde der Besitz an die Desmonds kommen. Sie sind entfernte Verwandte. James Desmond ist ein älterer Geistlicher in Westmoreland.«

»Danke. Alle diese Einzelheiten sind von großer Bedeutung. Haben Sie Mr James Desmond persönlich je gesehen?«

»Ja. Er kam einmal herüber, um Sir Charles zu besuchen. Er ist ein Mann von ehrwürdiger Erscheinung und gottseligem Lebenswandel. Ich erinnere mich, dass er sich weigerte, von Sir Charles eine Rente anzunehmen, obwohl dieser sie ihm geradezu aufdrängte.«

»Und dieser Mann von einfachen Lebensgewohnheiten würde also Sir Charles’ Hunderttausende erben.«

»Er würde der Erbe des Landbesitzes sein, weil dieser Familiengut ist. Er würde ebenfalls das Geld erben, wenn nicht etwa der derzeitige Eigentümer anderweitig darüber verfügte, was er natürlich ganz nach seinem Belieben tun kann.«

»Und haben Sie Ihr Testament gemacht, Sir Henry?«

»Nein, Mr Holmes, das habe ich nicht getan. Ich habe keine Zeit dazu gehabt, denn ich erfuhr überhaupt erst gestern, wie die Verhältnisse liegen. Aber nach meinem Gefühl sollte das Geld an den kommen, der Titel und Landbesitz erhält. Wie soll denn der Besitzer den alten Glanz der Baskerville wieder herstellen, wenn er nicht Geld genug hat, um den Besitz in gutem Stand zu halten? Haus, Land und Geld müssen beieinander bleiben.«

»Ganz recht! Nun, Sir Henry, ich bin ebenfalls Ihrer Meinung, dass es sich empfiehlt, wenn Sie unverzüglich nach Devonshire gehen. Nur muss ich einen Vorbehalt machen: Sie dürfen auf keinen Fall allein reisen.«

»Dr. Mortimer fährt mit mir zurück.«

»Aber Dr. Mortimer hat seine Praxis und wohnt ein paar Meilen weit von Ihnen ab. Mit dem allerbesten Willen würde er vielleicht nicht imstande sein, Ihnen zu helfen. Nein, Sir Henry, Sie müssen irgendjemand mitnehmen, einen zuverlässigen Mann, der Ihnen nicht von der Seite geht.«

»Wäre es vielleicht möglich, dass Sie selber mitkämen, Mr Holmes?«

»Wenn es zu einer Krisis kommt, werde ich mich nach Kräften bemühen, persönlich anwesend sein zu können. Aber Sie werden begreifen, dass ich bei meiner ausgebreiteten Praxis und in Anbetracht der fortwährenden Hilfegesuche, die mir von allen Seiten zugehen, unmöglich mich für unbestimmte Zeit von London entfernen kann. Gerade in diesem Augenblick ist einer der ehrwürdigsten Namen Englands bedroht, von einem Erpresser besudelt zu werden, und nur ich kann einen unheilvollen Skandal verhindern. Sie sehen gewiss selber ein, dass ich unmöglich mit nach Dartmoor gehen kann.«

»Wen würden Sie mir also dann empfehlen?«

Holmes legte seine Hand auf meinen Arm und sagte:

»Wenn mein Freund bereit wäre, könnten Sie in einem Augenblick der Bedrängnis keinen besseren Mann an Ihrer Seite haben. Das kann niemand zuversichtlicher behaupten als gerade ich.«

Der Vorschlag kam mir völlig unerwartet, aber bevor ich Zeit hatte etwas zu erwidern, ergriff Baskerville meine Hand und schüttelte sie herzlich, indem er ausrief:

»Das ist wirklich recht freundlich von Ihnen, Herr Doktor! Sie sehen, wie es mit mir steht, und Sie wissen von der ganzen Geschichte ebenso viel wie ich selber. Wenn Sie mit nach Baskerville Hall kommen und mir beistehen wollen, werde ich Ihnen das nie vergessen.«

Die Aussicht auf Abenteuer hatte stets einen berückenden Zauber für mich, auch schmeichelten mir Holmes’ anerkennende Worte und die Freudigkeit, womit der Baronet mich als Begleiter begrüßte. Ich sagte daher:

»Ich will mit Ihnen gehen, mit Vergnügen. Ich wüsste nicht, wie ich meine Zeit besser anwenden könnte.«

»Sie werden mir sehr getreulich Bericht erstatten«, sagte Holmes. »Wenn eine Krisis kommt – und es kommt eine, das ist ganz sicher –, so werde ich Ihnen Weisung geben, was Sie zu tun haben. Bis Samstag können Sie wohl mit allen Geschäften hier in London fertig sein?«

»Wäre das Doktor Watson recht?«

»Vollkommen.«

»Also treffen wir uns, wenn Sie keinen Gegenbescheid bekommen, am Samstag zum Halbelf-Zug am Bahnhof Paddington.«

Wir waren aufgestanden, um uns zu verabschieden, als plötzlich Baskerville einen Triumphruf ausstieß, nach einer der Zimmerecken stürzte und einen braunen Schuh unter einem Schrank hervorzog.

»Mein verloren gegangener Schuh!«, rief er.

»Mögen alle Ihre Schwierigkeiten sich so leicht lösen!«, sagte Sherlock Holmes.

»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Sache«, bemerkte Doktor Mortimer. »Ich hatte vor dem Frühstück dies Zimmer ganz sorgfältig durchsucht.«

»Und ich auch«, sagte Baskerville. »Jeden Zoll breit!«

»Es war ganz bestimmt kein Schuh im Zimmer.«

»Dann muss der Kellner ihn hingestellt haben, während wir beim Frühstück saßen.«

Der Deutsche wurde gerufen, beteuerte aber, er wüsste von nichts, alles Fragen führte zu keinem Ergebnis.

Eine neue Zutat zu der fortwährend sich vergrößernden Reihenfolge von kleinen Geheimnissen, die uns in dem kurzen Zeitraum von zwei Tagen entgegengetreten waren: der Empfang des Briefes mit den Druckbuchstaben, der schwarzbärtige Spion in der Droschke, das Abhandenkommen des alten schwarzen und jetzt das Wiederauffinden des neuen braunen Schuhes. Holmes saß schweigend in der Droschke, worin wir in die Baker Street zurückfuhren, und ich sah an seinen gerunzelten Brauen und den scharf zusammengezogenen Gesichtszügen, dass sein Geist ebenso wie der meinige eifrig an der Arbeit war, eine Theorie auszudenken, in deren Namen alle diese seltsamen und anscheinend zusammenhanglosen Ereignisse sich einfügen ließen. Als wir zu Hause waren, saß er den ganzen Nachmittag und noch einen guten Teil des Abends in dicken Tabaksqualm eingehüllt und tief in Gedanken versunken.

Unmittelbar bevor wir zu Tisch gingen, wurden zwei Telegramme bestellt. Das erste lautete:

»Soeben erfahren, dass Barrymore in Baskerville Hall ist. Baskerville.«

Das zweite meldete uns:

»Weisungsgemäß dreiundzwanzig Hotels aufgesucht, ausgeschnittenes Timesblatt leider nicht auffindbar. – Cartwright.«

»Da reißen zwei von meinen Fäden, Watson! Nichts macht aber den Geist schärfer als ein Fall, wo alles schiefgeht. Wir müssen uns nach einer anderen Spur umsehen.«

»Wir haben noch den Droschkenkutscher, der den Spion fuhr.«

»Allerdings. Ich habe an die Zentralstelle für das Fuhrwesen telegrafiert, sie möchten mir Namen und Wohnung des Mannes mitteilen. ... Ich sollte mich nicht wundern, wenn wir hier die Antwort auf meine Frage bekämen.«

Es hatte in diesem Augenblick geschellt, und dieses Zeichen bedeutete sogar noch Besseres als eine bloße Antwort, denn die Tür ging auf und herein kam ein vierschrötiger Mann, offenbar der Kutscher selber.

»Ich kriegte Bescheid vom Amt«, sagte er, »ein Herr, der hier in der Baker Street wohnte, hätte nach mir gefragt. Ich habe meine Droschke nun schon sieben Jahre lang gefahren und nie ’ne Klage gehabt. Darum komme ich vom Stall und frage Sie gerade ins Gesicht, was Sie gegen mich haben.«

»Ich habe ganz und gar nichts gegen Sie, mein guter Mann«, sagte Holmes. »Im Gegenteil, ich habe einen halben Sovereign für Sie, wenn Sie mir klare und deutliche Antworten auf meine Fragen geben wollen.«

»Nu, ich hab ’n guten Tag gehabt und ’s war alles sauber!«, sagte der Kutscher grinsend. »Was möchten Sie wissen, Herr?«

»Zuallererst Ihren Namen und Ihre Wohnung, für den Fall, dass ich Sie später noch mal brauchen sollte.«

»John Clayton, Turpay Street Nummer 3, im Borough. Meine Droschke gehört zu Shipleys Fuhrgeschäft, dicht an der Waterloo Station.«

Sherlock Holmes schrieb sich die Adresse auf und fuhr fort:

»Nun, Clayton, sagen Sie mir alles, was Sie von dem Mann wissen, der heute Morgen um zehn in Ihrer Droschke hier dicht bei meinem Haus wartete und Sie nachher die Regent Street hinunter hinter den beiden Herren herfahren ließ.«

Der Mann war verdutzt und wurde ein bisschen verlegen.

»Na«, sagte er nach einigem Besinnen, »da hat’s wohl nicht viel Zweck, dass ich Ihnen Geschichten erzähle. Denn Sie wissen ja wohl schon so viel davon wie ich selber. Die Sache ist die: Der Herr sagte mir, er wäre Detektiv, und ich dürfte keinem Menschen was über ihn sagen.«

»Mein lieber Mann, es handelt sich um eine sehr ernste Sache, und Sie könnten in eine recht hässliche Klemme kommen, wenn Sie versuchen sollten, mir irgendwas zu verheimlichen. Sie sagen, Ihr Fahrgast erzählte Ihnen, er wäre Detektiv?«

»Jawohl, das tat er.«

»Wann sagte er das?«

»Als er fortging.«

»Sagte er sonst noch was?«

»Ja, er nannte seinen Namen.«

Holmes warf einen schnellen Blick voller Triumph auf mich und sagte:

»Oh, er nannte seinen Namen – wirklich? Das war unvorsichtig. Was war das denn für ein Name?«

»Sein Name«, antwortete der Droschkenkutscher, »war Sherlock Holmes.«

Niemals sah ich meinen Freund ein so verblüfftes Gesicht machen wie bei diesen Worten des Droschkenkutschers. Einen Augenblick lang saß er sprachlos da. Dann brach er in ein herzliches Lachen aus und rief:

»Eine Abfuhr, Watson – eine unleugbare Abfuhr! Ich bin da an eine Klinge geraten, die ebenso schnell und gewandt ist wie die meinige. Der Mann hat mir diesmal wirklich recht niedlich heimgeleuchtet. Also sein Name war Sherlock Holmes, sagten Sie?«

»Jawohl, Herr, so hieß der Herr!«

»Ausgezeichnet! Sagen Sie mir, wie Sie mit ihm zusammenkamen, und alles, was sich sonst noch zutrug.«

»Um halb zehn Uhr rief er mich auf dem Trafalgar Square an. Er sagte, er wäre Detektiv, und bot mir zwei Guineen, wenn ich den ganzen Tag genau täte, was er verlangte, und keine Fragen stellen wollte. Natürlich griff ich mit beiden Händen zu. Zuerst fuhren wir zum Northumberland-Hotel und warteten da, bis zwei Herren herauskamen und in eine von den Droschken am Halteplatz stiegen. Wir fuhren ihrem Wagen nach, bis er irgendwo hier in der Nähe anhielt.«

»Hier vor meiner Tür«, fiel Holmes ein.

»Nu, das kann ich nicht so genau sagen, aber mein Fahrgast wusste jedenfalls von allem Bescheid. Ein Stück weiter die Straße hinunter hielten wir ebenfalls, und da warteten wir anderthalb Stunden. Dann kamen die beiden Herren bei uns vorbei; sie gingen zu Fuß, und wir fuhren hinter ihnen her die Baker Street hindurch, und dann ...«

»Weiß schon«, sagte Holmes.

»... bis wir schließlich ungefähr drei viertel von der Regent Street entlang gefahren waren. Da stieß plötzlich der Herr in meiner Droschke die Klappe auf und rief mir zu, ich sollte so schnell wie möglich direkt zur Waterloo Station fahren. Ich schlug auf meinen Gaul los, und in weniger als zehn Minuten waren wir da. Er bezahlte mir meine zwei Guineen in blankem Gold in die Hand und ging in den Bahnhof hinein. Im Augenblick, als er wegging, drehte er sich um und sagte: ›Vielleicht interessiert es Sie, zu hören, dass Sie Sherlock Holmes gefahren haben.‹ – Auf die Art erfuhr ich seinen Namen.«

»Ich verstehe. Und weiter sahen und hörten Sie nichts von ihm?«

»Nachdem er in das Bahnhofsgebäude hineingegangen war, nicht mehr.«

»Und könnten Sie mir wohl Mr Sherlock Holmes ein bisschen beschreiben?«

Der Kutscher kratzte sich hinterm Ohr.

»Hm, ja, es war eigentlich nicht so’n Herr, den man so ganz leicht beschreiben kann. Ich möchte ihn auf etwa vierzig Jahre schätzen; er war mittelgroß, so zwei bis drei Zoll kleiner als Sie. Angezogen war er mächtig fein, und er hat einen schwarzen Bart, der unten breit abgeschnitten war, und ein blasses Gesicht. Weiter wüsste ich nichts über ihn zu sagen.«

»Die Farbe seiner Augen?«

»Nein, davon kann ich nichts sagen.«

»Und sonst können Sie sich wirklich auf nichts mehr besinnen?«

»Nein, Herr, das ist alles.«

»Na, hier ist Ihr halber Sovereign, und ein anderer halber wartet auf Sie, wenn Sie mir eine neue Auskunft bringen können. Guten Abend!«

»Guten Abend, Herr, und schönen Dank.«

John Clayton ging, von innerlicher Heiterkeit erfüllt, aus der Tür, und Holmes wandte sich mit einem Achselzucken und mit einem etwas kümmerlichen Lächeln zu mir und sagte:

»Schnapp! Da geht der dritte Faden entzwei, und wir stehen wieder am Anfang. Der schlaue Schuft! Er kannte unsere Hausnummer, wusste, dass Sir Henry Baskerville mich um Rat gefragt hatte, und erriet in der Regent Street, wer ich war. Dann dachte er sich, dass ich mir wahrscheinlich die Nummer seiner Droschke gemerkt haben würde und daher leicht an den Kutscher herankommen könnte, deshalb schickte er mir diese freche Bestellung. Ich sage Ihnen, Watson, diesmal haben wir’s mit einem Gegner zu tun, der unserer Klinge würdig ist. Ich bin in London matt gesetzt. Ich kann nur hoffen, dass Sie in Devonshire besseres Glück haben. Aber es macht mir schwere Gedanken.«

»Was denn?«

»Dass ich Sie hinschicke. Es ist eine eklige Geschichte, Watson, eine eklige, gefährliche Geschichte, und je mehr ich davon zu sehen bekomme, desto weniger gefällt sie mir. Ja, mein werter Freund, Sie mögen darüber lachen, aber auf mein Wort, ich werde froh sein, wenn ich Sie wieder heil und gesund hier in der Baker Street habe.«

SECHSTES KAPITEL

Sir Henry Baskerville und Dr. Mortimer waren am verabredeten Tag reisefertig und zur bestimmten Stunde fuhren wir vom Bahnhof Paddington ab. Sherlock Holmes fuhr mit mir zum Bahnhof und gab mir zum Abschied noch seine letzten Weisungen und Ratschläge.

»Ich will Sie nicht mit Mutmaßungen und Verdachtsgründen beeinflussen, Watson; ich wünsche von Ihnen nichts weiter, als dass Sie mir so ausführlich wie möglich alle Tatsachen berichten; die Theorienbildung können Sie mir überlassen.«

»Was für Tatsachen soll ich berichten?«, fragte ich.

»Alles, was Ihnen in irgendeinem, wenn auch noch so losen Zusammenhang mit dem Fall zu stehen scheint, im Besonderen die Beziehungen zwischen dem jungen Baskerville und seinen Nachbarn, oder alle neuen Umstände, die in Bezug auf Sir Charles’ Tod bekannt werden. Ich habe in den letzten Tagen auf eigene Hand einige Erkundigungen eingezogen, aber die Ergebnisse sind, fürchte ich, negativer Art gewesen. Ganz sicher scheint nur eines festzustehen, nämlich dass James Desmond, der nächstberechtigte Erbe, ein älterer Herr von sehr liebenswürdigem Wesen ist, und dass daher diese Verfolgung nicht von ihm ausgeht. Ich glaube wirklich, wir können ihn gänzlich aus unseren Berechnungen ausscheiden. Dann bleiben noch die Leute, die Sir Henry Baskervilles Umgebung auf dem Moor bilden werden.«

»Wäre es nicht gut, zu allererst dieses Ehepaar Barrymore wegzujagen?«

»Um Gottes Willen nicht! Sie könnten gar keinen schlimmeren Fehler machen. Wenn sie unschuldig sind, wäre es eine grausame Ungerechtigkeit; sind sie aber schuldig, würden wir uns damit jeder Aussicht benehmen, sie zu überführen. Nein, nein, wir wollen sie nur auf unserer Liste von Verdächtigen belassen und weiter nichts. Außer ihnen ist, wenn ich mich recht erinnere, im Schloss noch ein Stallknecht. Ferner wohnen in der Nähe zwei Moorbauern. Dann haben wir unseren Freund Dr. Mortimer, der, wie ich glaube, vollkommen ehrenhaft ist, und dessen Frau, von der wir nichts wissen. Dann kommt der Naturforscher, Stapleton, und dessen Schwester, die eine recht anziehende junge Dame sein soll. Ferner Mr Frankland von Laster Hall, ebenfalls ein unbekannter Faktor für uns, und noch ein oder zwei andere Nachbarn. Das sind die Leute, die Sie zum Gegenstand Ihrer ganz besonderen Beobachtung machen müssen.«

»Ich will mein Bestes tun.«

»Sie haben doch Waffen bei sich?«

»Ja, ich dachte, es wäre gut, sie mitzunehmen.«

»Ganz gewiss! Halten Sie Tag und Nacht Ihren Revolver zur Hand und werden Sie niemals schlaff in Ihrer Vorsicht!«

Unsere Bekannten hatten bereits ein Abteil erster Klasse belegt und warteten auf dem Bahnsteig auf uns.

»Nein, wir haben durchaus nichts Neues zu berichten«, sagte Dr. Mortimer in Beantwortung der von meinem Freund an ihn gerichteten Frage. »Aber auf eins kann ich einen Eid ablegen, nämlich, dass wir während der beiden letzten Tage nicht beobachtet worden sind. Wir sind niemals ausgegangen, ohne auf das Schärfste aufzupassen, und es würde niemand unserer Aufmerksamkeit entgangen sein.«

»Sie sind, wie ich annehme, stets zusammen ausgegangen?«

»Ja, mit Ausnahme von gestern Nachmittag. Wenn ich in London bin, widme ich für gewöhnlich einen Tag reinen Vergnügungszwecken; ich ging daher in das Museum der Chirurgischen Gesellschaft.«

»Und ich sah mir ein bisschen das Getriebe im Park an«, sagte Baskerville. »Aber wir hatten keine Unannehmlichkeiten irgendwelcher Art.«

»Es war aber trotzdem unvorsichtig«, sagte Holmes kopfschüttelnd und mit sehr ernstem Gesicht. »Ich bitte Sie, Sir Henry, nicht allein auszugehen. Wenn Sie es tun, wird Ihnen irgendein großes Unglück zustoßen. Haben Sie Ihren anderen Schuh wiederbekommen?«

»Nein, er ist verschwunden geblieben.«

»Wirklich! Das ist sehr interessant. Nun, gute Reise«, sagte er noch, da der Zug den Bahnsteig entlang zu gleiten begann. »Beherzigen Sie, Sir Henry, einen von den Sätzen in der seltsamen alten Geschichte, die Dr. Mortimer uns vorgelesen hat, und meiden Sie das Moor in jenen Stunden der Finsternis, da die bösen Mächte ihr Spiel treiben!«

Ich blickte noch einmal zum Bahnsteig zurück, als wir schon weit weg waren, und sah Sherlock Holmes’ große, ernste Gestalt regungslos dastehen und uns nachstarren.

Die Reise verlief schnell und angenehm; ich benutzte sie, um mit meinen beiden Gefährten näher bekannt zu werden. Nach ein paar Stunden folgte dem braunen Boden rötliche Erde, statt der Ziegelhäuser sah man Granitbauten, und rote Kühe grasten auf wohlumzäumten Wiesen, deren saftiger und üppiger Graswuchs auf ein milderes, wenngleich auch feuchteres Klima hindeutete. Der junge Baskerville sah eifrig aus dem Fenster und stieß einen lauten Ruf des Entzückens aus, als er die altvertrauten Züge der Devonlandschaft wiedererkannte.

»Ich habe ein gutes Stück von der Welt gesehen, seitdem ich von hier fortging, Dr. Watson, aber niemals sah ich eine Gegend, die sich mit dieser vergleichen lässt!«

»Ich sah noch niemals einen Devonshirer, der nicht auf seine Heimat geschworen hätte«, bemerkte ich lachend.

»Das liegt ebenso sehr an der Menschenrasse wie an der Gegend«, sagte Dr. Mortimer. »Ein flüchtiger Blick auf unseren Freund hier zeigt uns den runden Keltenschädel, worin sich keltische Begeisterungsfähigkeit und Anhänglichkeit birgt. Des armen Sir Charles’ Schädel bot einen sehr seltenen Typus; die Hauptkennzeichen waren teils gälisch, teils irisch. Aber Sie waren wohl noch sehr jung, als Sie das letztemal Baskerville Hall sahen, nicht wahr?«

»Ich war ein halbwüchsiger Bursche, als mein Vater starb, und hatte unseren Stammsitz niemals gesehen, denn wir wohnten in einem kleinen Landhaus an der Südküste. Von dort ging ich geraden Weges zu einem Freund nach Amerika. Ich muss sagen, die Gegend von Baskerville Hall ist für mich so neu wie für Herrn Dr. Watson, und ich bin über die Maßen begierig, das Moor zu sehen.«

»Wirklich? Nun, Ihr Wunsch ist schnell erfüllt, denn hier haben Sie den ersten Blick aufs Moor«, sagte Dr. Mortimer.

Über den grünen Wiesenvierecken und einem niedrigen Wald erhob sich in der Ferne ein grauer, melancholischer Hügel mit seltsam zerklüftetem Gipfel, trübe und unbestimmt wie eine phantastische Traumlandschaft. Baskerville saß lange da, die Augen auf dieses Bild geheftet, und ich las auf seinem ausdrucksvollen Gesicht, wie tief ihn der erste Anblick der Gegend rührte, wo seine Vorväter so lange geherrscht und so tiefe Spuren hinterlassen hatten. Da saß der Mann mit seinem amerikanischen Akzent, in seinen eleganten Sommeranzug gekleidet, in der Ecke eines höchst alltäglichen Eisenbahnabteils; und doch, als ich ihm in das ausdrucksvolle Gesicht sah, da fühlte ich mehr denn je, dass er ein echter Spross jenes alten Geschlechtes von reinblütigen, feurigen Adligen war. Stolz, Tapferkeit, Kraft sprachen aus seinen buschigen Brauen, den beweglichen Nasenflügeln, den großen nussbraunen Augen. Wenn vielleicht auf jenem abschreckenden Moor ein schwer zu lösendes und gefährliches Rätsel unserer harrte, war er jedenfalls, das fühlte ich, ein Kamerad, für den man sich wohl in Gefahr begeben konnte, da man gewiss war, dass er sie mit mutigem Herzen teilen würde.

Der Zug hielt an einer Zwischenstation, und wir stiegen aus. Draußen, jenseits des niedrigen weiß angestrichenen Holzzaunes, wartete ein zweispänniger Jagdwagen. Unsere Ankunft war augenscheinlich ein großes Ereignis, denn Bahnhofsvorsteher und Kofferträger drängten sich an uns heran, um uns das Gepäck zu besorgen. Es war ein hübscher ländlicher Ort, aber ich bemerkte mit Überraschung, dass an der Ausgangspforte zwei soldatisch aussehende Männer in dunklen Uniformen standen; sie lehnten sich auf ihre kurzen Büchsen und sahen uns, als wir an ihnen vorübergingen, mit scharf musternden Blicken an. Der Kutscher, ein knorriger kleiner Mann mit harten Gesichtszügen, begrüßte Sir Henry Baskerville, und ein paar Minuten später flogen wir schnell die breite weiße Straße entlang. Wiesen mit wogendem Gras zogen sich an beiden Seiten des Weges hin, alte Giebelhäuser schauten hinter dichtem Laubwerk hervor, aber drüben über der friedlichen, sonnenbeglänzten Landschaft erhob sich, schwarz vom Abendhimmel sich abzeichnend, die lange, öde Linie des Moors, nur ab und zu von hässlichen Felsspitzen unterbrochen.

Der Jagdwagen bog in einen Seitenweg ein, und wir fuhren bergan auf Straßen, die seit Jahrhunderten von Tausenden von Rädern tief ausgefahren waren, zwischen hohen, mit dickem Moos bedeckten Wällen, auf denen üppige Farnkräuter und Brombeersträucher wuchsen. Immer sachte bergauf fahrend, kamen wir über eine schmale Steinbrücke, unter welcher brausend und schäumend ein schnelles Bergwasser zwischen grauen Felsblöcken dahinschoss. Das Tal, durch welches der Weg sich allmählich aufwärts wand, war dicht mit Eichen- und Föhrengestrüpp bestanden. Bei jeder Wegbiegung jubelte Baskerville laut auf, sah sich entzückt um und richtete unzählige Fragen an den Doktor. In seinen Augen war alles schön, für mich aber lag etwas Melancholisches auf der Landschaft, der bereits der Herbst deutlich seinen Stempel aufgedrückt hatte. Gelbe Blätter bedeckten die Wege und rieselten von den Bäumen auf uns herab. Das Rollen unserer Räder erstarb auf dem dichten Teppich toter Blätter – mir war’s, als wäre das ein trauriger Empfang, den Mutter Natur dem heimkehrenden Sohne der Baskervilles bereitete.

»Hallo!«, rief plötzlich Dr. Mortimer. »Was ist denn das?«

Eine steile, mit Heidekraut bewachsene Kuppe, ein Ausläufer des Moors, lag gerade vor uns. Auf der Höhe hielt scharf und klar wie ein Reiterstandbild auf seinem Piedestal sich abhebend, ein berittener Soldat, finster und ernst, die Büchse schussfertig im Arm. Er bewachte den Weg, welchen wir entlangfuhren.

»Was bedeutet das, Perkins?«, fragte Dr. Mortimer.

Unser Kutscher drehte sich halb auf seinem Bock um und antwortete:

»Von Princetown ist ein Sträfling entflohen, Herr. Er ist nun seit drei Tagen draußen, und die Zuchthauswächter bewachen jeden Weg und jeden Bahnhof, aber bis jetzt haben sie ihn noch nicht zu Gesicht gekriegt. Den Bauern hier in der Gegend ist es nicht gerade angenehm, Herr, so viel steht fest.«

»Na, ich denke doch, sie bekommen fünf Pfund, wenn sie den Mann anzeigen können.«

»Das schon Herr, aber was ist denn die Aussicht, fünf Pfund zu kriegen, gegen die andere Aussicht, dass einem die Kehle durchgeschnitten wird? Sie müssen wissen, der Mann ist kein gewöhnlicher Sträfling. Das ist einer, der vor nichts zurückschrecken würde.«

»Wer ist es denn?«

»Selden, der Mörder von Notting Hill.«

Ich erinnerte mich des Falles sehr gut, denn Holmes hatte sich dafür interessiert, wegen der ganz außergewöhnlichen Grausamkeit, womit das Verbrechen vollbracht worden war, und wegen des blutdürstigen Hohnes, den der Mörder gezeigt hatte. Die Umwandlung des Todesurteils in lebenslängliche Zuchthausstrafe war erfolgt, weil man einige Zweifel an seiner völligen Zurechnungsfähigkeit hegte, so unmenschlich war sein Gebaren.

Unser Jagdwagen war auf dem Gipfel einer Erhöhung angelangt, und vor uns erhob sich die weite Fläche des Moors mit seinen Steinhaufen und schroffen Felsenklippen. Ein kalter Wind wehte von ihm herunter und durchschauerte uns Mark und Bein. Irgendwo auf dieser trostlos öden Ebene hauste dieser teuflische Gesell, wie ein wildes Tier in einer Höhle sich bergend, das Herz voll bitterer Wut gegen das ganze Menschengeschlecht, das ihn ausgestoßen hatte. Dieser Gedanke fehlte noch gerade, um das schaurige Gefühl zu vervollständigen, das der Anblick des wüsten Moors, der eisige Wind, der dunkelnde Abendhimmel in uns erweckte. Sogar Baskerville wurde still und hüllte sich dichter in seinen Überzieher.

Das fruchtbare Land lag jetzt hinter und unter uns. Wie wir darauf zurückblickten, verwandelten die schrägen Strahlen der sinkenden Sonne die Bäche in goldene Fäden und beglänzten die frischgepflügten braunroten Äcker und die breiten Waldstreifen. Der Weg vor uns führte durch immer ödere und wildere, rötliche und grünlichbraune Abhänge, die mit riesigen Steinblöcken übersät waren. Ab und zu kamen wir bei einem Moorbauernhaus vorbei: steinerne Mauern und steinerne Dächer, die harten Linien von keinem Rankengrün gemildert. Auf einmal sahen wir unter uns eine muldenförmige Vertiefung, die mit verkümmerten, vom Sturm zerzausten und verbogenen Eichen und Kiefern verwachsen war. Zwei hohe, schlanke Türme hoben sich über die Bäume empor. Der Kutscher streckte seine Peitsche aus und sagte:

»Baskerville Hall!«

Sein Herr war aufgestanden und sah mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf die Türme. Ein paar Minuten später fuhren wir durch das Parktor, phantastische Gittertüren aus Schmiedeeisen zwischen zwei verwitterten, bemoosten Steinpfeilern, auf denen sich die Eberköpfe des Baskervilleschen Wappens erhoben. Das Torwärterhaus war eine Ruine von schwarzem Granit und nackten Dachsparren, aber dieser gegenüber erhob sich ein halb vollendetes neues Gebäude – die Erstlingsfrucht von Sir Charles’ südafrikanischem Gold. Durch das Parktor gelangten wir in die Schlossallee. Wieder rollten die Räder über gefallenes Laub, und über unseren Häuptern schlossen die alten Bäume ihre Zweige zu einem düsteren Gewölbe. Baskerville schauerte zusammen, als er am Ende der langen dunklen Allee das Haus erblickte, das geisterhaft durch die Bäume schimmerte.

»War es hier?«, fragte er leise.

»Nein, nein; der Taxusgang ist auf der anderen Seite.«

Der junge Mann sah sich mit verdüstertem Gesicht um und sagte:

»Es ist kein Wunder, wenn mein Onkel das Vorgefühl hatte, es werde ihm an diesem Ort ein Unglück zustoßen. Hier kann wohl jeden Mann ein unbehagliches Gefühl überschleichen. Ehe sechs Monate um sind, will ich eine Reihe von elektrischen Bogenlampen hier anbringen lassen, und Sie werden die Allee nicht wiedererkennen, und gerade hier dem Schlosstor gegenüber soll mir eine tausendkerzige Swan und Edison brennen.«

Die Allee führte auf eine weite Rasenfläche, und vor uns lag das Haus. Im Dämmerlicht konnte ich sehen, dass das Mittelgebäude ein gewaltiger Steinblock war, aus welchem ein Portal vorsprang. Die ganze Vorderwand war mit Efeu überkleidet, in welchem hier und da ein Ausschnitt eine Stelle bezeichnete, wo sich ein Fenster oder ein Wappenschild befand. Über diesem Mittelbau erhoben sich die beiden alten zinnengekrönten, von Schießscharten durchbrochenen Türme. Rechts und links von den Türmen erstreckten sich modernere Flügel aus schwarzem Granit. Ein trübes Licht fiel aus einigen von den altertümlichen Fenstern nach außen und aus einem der hohen Kamine, die sich über dem steilen Giebeldach erhoben, stieg eine dunkle Rauchwolke gen Himmel.

»Willkommen, Sir Henry! Willkommen auf Baskerville Hall!«

Ein großer Mann war aus dem Dunkel des Portals hervorgetreten, um den Schlag des Jagdwagens zu öffnen. Die Gestalt einer Frau hob sich von dem gelben Licht der Halle ab. Sie trat heraus und half dem Mann, unsere Reisetaschen vom Wagen zu nehmen.

»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich gleich nach meinem Haus weiterfahre, Sir Henry?«, fragte Dr. Mortimer. »Meine Frau erwartet mich.«

»Aber Sie bleiben doch, um ein paar Bissen mit uns zu essen?«

»Nein, ich muss gehen. Wahrscheinlich werde ich allerlei Arbeit vorfinden. Ich würde sonst bleiben, um Ihnen das Haus zu zeigen, aber Barrymore wird ein besserer Führer sein als ich. Leben Sie wohl, und schicken Sie unbedenklich bei Tag oder bei Nacht zu mir, wenn ich irgendwie Ihnen zu Diensten sein kann.«

Das Rasseln der Räder verhallte auf der Straße, während Sir Henry und ich die Halle betraten. Mit dumpfem Schlag fiel die Tür hinter uns zu. Wir befanden uns in einem schönen, weiten, hohen Raum mit einer schweren Decke aus altersgeschwärzten Eichenbalken. In dem großen altertümlichen Kamin prasselte und knisterte auf hohen eisernen Feuerböcken ein Holzfeuer. Sir Henry und ich streckten unsere Hände darüber aus, denn die lange Fahrt hatte uns völlig durchkältet. Dann sahen wir uns rund um: ein hohes schmales Fenster mit altem bunten Glas, eichenes Wandgetäfel, an den Wänden Hirschgeweihe und Wappenschilder, und dies alles trübe und dämmerig im gedämpften Licht der in der Mitte des Raumes herabhängenden Lampe.

»Gerade so ist’s, wie ich’s mir vorgestellt hatte!«, rief Sir Henry. »Ist es nicht wie ein altes Gemälde von einem alten Geschlechterhaus? Wenn ich denke, dass dies die Halle ist, worin fünf Jahrhunderte lang meine Vorfahren gelebt haben! Mich stimmt’s ganz feierlich.«

Ich sah, wie jugendliche Begeisterung sein dunkles Gesicht erhellte, als er sich so umsah. Er stand im vollen Schein des Lichtes, aber lange Schatten bedeckten die Wände und hingen wie ein schwarzes Gewölbe über ihm.

Barrymore war wieder eingetreten, nachdem er das Gepäck auf unsere Zimmer befördert hatte. Er stand jetzt in der unterwürfigen Haltung eines gut erzogenen Dieners vor uns. Ein auffallend hübscher Mann, groß, stattlich, mit einem breit abgeschnittenen Kinnbart und blassen, edel geformten Zügen.

»Wünschen Sie, dass das Essen sofort aufgetragen wird, Herr?«

»Ist es fertig?«

»In ein paar Minuten, Herr! Warmes Wasser finden Sie in Ihren Zimmern. Meine Frau und ich werden glücklich sein, Sir Henry, bei Ihnen zu bleiben, bis Sie Ihre Einrichtungen getroffen haben, aber Sie werden begreifen, dass unter den neuen Verhältnissen der Haushalt eine beträchtliche Dienerschaft erfordern wird.«

»Was für neue Verhältnisse meinen Sie?«

»Ich wollte nur sagen, Herr, dass Sir Charles sehr zurückgezogen lebte und dass wir ausreichten, um seine Ansprüche zu befriedigen. Sie werden natürlich größere Gesellschaft um sich haben, und deshalb werden Sie auch Veränderungen im Haushalt treffen müssen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie und Ihre Frau Ihren Abschied wünschen?«

»Nur, wenn es Ihnen völlig genehm ist, Herr!«

»Aber Ihre Familie ist ja doch mehrere Generationen hindurch bei uns gewesen, nicht wahr? Es sollte mir leid tun, wenn ich meine Niederlassung an diesem Ort damit beginnen müsste, eine solche alte Verbindung zu lösen.«

Es kam mir vor, als nähme ich auf dem blassen Gesicht des Kammerdieners einige Anzeichen von Rührung wahr.

»Ich habe dasselbe Gefühl, Herr, und meine Frau auch«, antwortete dieser. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Herr, wir hatten beide eine große Anhänglichkeit an Sir Charles; sein Tod ging uns sehr nahe, und seitdem weckt diese Umgebung nur noch schmerzliche Erinnerungen in uns. Ich fürchte, wir werden, solange wir auf Baskerville Hall sind, niemals unser frohes Gemüt wiederfinden.«

»Aber was haben Sie denn vor?«

»Ich zweifle nicht, Herr, dass es uns gelingen wird, irgendein Geschäft zu eröffnen. Sir Charles’ Freigiebigkeit hat uns die Mittel verschafft. Und nun, meine Herren, ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen Ihre Zimmer zeige?«

Eine breite, von Balustraden eingefasste Galerie lief dicht unter der Decke um die Halle herum; eine Doppeltreppe führte zu ihr hinauf. Von diesem Mittelpunkt aus erstreckten sich zwei lange Korridore, die die Türen zu allen Schlafzimmern enthielten, über die ganze Länge des Gebäudes hin. Mein Zimmer lag im selben Flügel wie das Sir Henrys, beinahe Tür an Tür. Diese Zimmer waren augenscheinlich viel moderner als der Mittelbau des Schlosses, und ihre hellen Tapeten sowie zahlreiche brennende Kerzen taten das ihre, um den düsteren Eindruck zu verscheuchen, der sich bei unserer Ankunft meines Geistes bemächtigt hatte.

Aber der Speisesaal, in den man von der Halle aus gelangte, war wieder trübselig und düster. Ein langes Zimmer mit einem erhöhten Ende, wo die Familie gespeist hatte; eine Stufe führte zu dem für die Dienstleute bestimmten niedrigeren Teil des Raumes. An einem Ende befand sich in halber Höhe eine Galerie, von wo aus die Barden ihre Vorträge gehalten hatten. Altersgeschwärzte Balken zogen sich über unseren Häuptern unter der rauchdunklen Decke hin. Von brennenden Fackeln erhellt, von den bunten Farben und der derben Heiterkeit eines mittelalterlichen Gelages erfüllt, mochte der Saal nicht so übel ausgesehen haben. Nun aber saßen in dem riesigen Raum nur zwei schwarzbefrackte Herren in dem kleinen Lichtkreis, der vom Schirm der Tischlampe begrenzt wurde, und da sank die Stimme zum Flüstern herab, und die Stimmung wurde melancholisch. Eine Reihe von Ahnenbildern in allen möglichen Trachten, vom Ritter der Elisabethanischen Heldenzeit bis zum Dandy aus den Kreisen des Prinzregenten, starrten in der Halbdämmerung auf uns hernieder und bedrückten uns durch ihre schweigende Gesellschaft. Wir sprachen wenig, und ich für mein Teil war herzlich froh, als das Essen vorüber war und wir uns in das modern eingerichtete Billardzimmer zurückziehen konnten, um eine Zigarette zu rauchen.

»’s ist wahrhaftig kein sehr lustiges Haus!«, begann Sir Henry. »Ich glaube wohl, dass man sich allmählich eingewöhnen kann, aber augenblicklich komme ich mir noch ein bisschen verwirrt vor. Ich wundere mich nicht, dass mein Onkel ein wenig absonderlich wurde, wenn er ganz allein in solch einem Haus wohnte ... Doch wenn es Ihnen recht ist, wollen wir heute früh zu Bett gehen; vielleicht sieht das Ganze im Morgenlicht doch heiterer aus.«

Ich zog, bevor ich mich zu Bett legte, die Vorhänge zurück und sah aus dem Fenster. Es ging auf den Rasenplatz vor der Haupteingangstür. Im Hintergrund rauschten zwei Baumgruppen und wiegten sich im Nachtwind. Der Halbmond trat durch die Lücken der eilig ziehenden Wolken. In seinem kalten Licht sah ich hinter den Bäumen zackige Felsklippen und den langen niedrigen Bogen des melancholischen Meeres. Ich zog die Vorhänge wieder zu; dieser letzte Eindruck stimmte zu meinen bereits vorhandenen Gefühlen.

Und doch war es noch nicht der allerletzte Eindruck. Ich war ermüdet und konnte trotzdem nicht einschlafen; unruhig warf ich mich von einer Seite auf die andere und suchte den Schlaf, der nicht kommen wollte. In der Ferne schlug jede Viertelstunde eine Glocke, sonst lag Totenstille über dem Haus. Dann plötzlich, in dem tiefen Grabesschweigen der Nacht, klang ein Laut an mein Ohr – ein heller, deutlicher, unverkennbarer Ton. Es war das Weinen einer Frau, das unterdrückte, halberstickte Schluchzen einer Frau, die von Schmerz und Kummer gequält wird. Ich setzte mich im Bett aufrecht und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit. Das Geräusch konnte nicht weitab gewesen sein; ganz gewiss kam es aus dem Haus selbst. Eine halbe Stunde lang wartete ich mit Anspannung aller meiner Nerven, aber kein anderer Ton ließ sich hören als das Schlagen der Glocke und das Rascheln des Nachtwindes im Efeu draußen an der Wand.

SIEBENTES KAPITEL

Der schöne frische Morgen des nächsten Tages trug sein Teil dazu bei, den trübseligen ersten Eindruck von Baskerville Hall etwas zu verwischen. Als Sir Henry und ich am Frühstückstisch saßen, flutete das Sonnenlicht durch die hohen Bogenfenster herein und warf bunte Farbenflecke von den Wappen, womit die Scheiben bemalt waren, auf Diele und Wände. Das dunkle Holzgetäfel glühte in den goldenen Strahlen wie Bronze, und wir konnten uns kaum vorstellen, dass wir in demselben Zimmer saßen, welches am Abend vorher unsere Seelen so trübe gestimmt hatte.

»Mich dünkt, wir selber haben die Schuld daran gehabt und nicht das Haus!«, rief der Baronet. »Wir waren ermüdet von der Reise und kalt von der langen Wagenfahrt, deshalb kam uns das Haus so grau vor. Jetzt sind wir frisch und munter, und auch das Haus sieht wieder ganz heiter aus!«

»Und doch kam nicht bloß unsere Einbildungskraft ins Spiel«, antwortete ich. »Haben Sie nicht zum Beispiel jemanden – ich glaube, es war eine Frau – während der Nacht schluchzen gehört?«

»Das ist sonderbar, was Sie da sagen! Es kam mir nämlich, als ich halb eingeschlafen war, vor, als hörte ich so etwas. Ich wartete ziemlich lange, aber es ließ sich nichts mehr hören, und ich nahm daher an, es wäre nur ein Traum gewesen.«

»Ich hörte es ganz genau und bin sicher, dass es in der Tat das Schluchzen eines Weibes war.«

»Wir müssen uns sofort danach erkundigen!« Er klingelte und fragte Barrymore, ob er uns über unsere Wahrnehmung Aufschluss geben könnte. Es kam mir so vor, als ob die bleichen Züge des Kammerdieners noch um eine Schattierung blasser würden, als er die Frage seines Herrn vernahm.

»Es sind nur zwei weibliche Personen im Haus, Sir Henry«, antwortete er. »Die eine ist die Hausmagd, die im vorderen Flügel schläft; die andere ist meine Frau, und ich weiß bestimmt, dass die Töne unmöglich von ihr herrühren.«

Seine Worte waren indessen eine Lüge. Denn zufällig begegnete ich nach dem Frühstück Mrs Barrymore in dem langen Korridor, wo ihr das Sonnenlicht voll ins Gesicht fiel. Sie war eine großgewachsene Frau mit einem Ausdruck von Gleichgültigkeit auf ihren grobgeschnittenen Zügen und einem festgeschlossenen, ernsten Mund. Aber ihre Augen waren verräterisch, sie waren rot und sahen mich aus geschwollenen Lidern an. Also war sie es gewesen, die in der Nacht geweint hatte; und wenn dies der Fall war, musste ihr Mann es wissen. Trotzdem hatte er es gewagt, eine so leicht zu entdeckende Lüge zu sagen. Warum? Und warum hatte sie so bitterlich geweint? Schon umschwebte diesen hübschen, blassen, schwarzbärtigen Mann eine geheimnisvolle Atmosphäre. Er hatte zuerst Sir Charles’ Leichnam entdeckt; nur auf seiner Aussage beruhte unsere Kenntnis von den Umständen, die mit dem Tod des alten Herrn in Verbindung standen. War es schließlich doch vielleicht Barrymore, den wir in der Regent Street in der Droschke gesehen hatten? Der Bart konnte wohl derselbe sein. Nach der Beschreibung des Droschkenkutschers war jener Mann bedeutend kleiner, aber bei solchen Angaben ist leicht ein Irrtum möglich. Wie konnte ich in dieser Beziehung völlige Klarheit erlangen? Offenbar war es vor allem anderen notwendig, den Postmeister von Grimpen zu besuchen und mich zu vergewissern, ob das Telegramm wirklich an Barrymore zu eigenen Händen abgeliefert war. Mochte die Antwort ausfallen, wie sie wollte, jedenfalls hatte ich bereits etwas an Sherlock Holmes zu berichten.

Sir Henry hatte nach dem Frühstück zahlreiche Papiere durchzusehen, sodass die Zeit für meinen Ausgang günstig war. Es war ein angenehmer Spaziergang von vier Meilen; ich wanderte am Rand des Moors entlang und kam schließlich nach einem altersgrauen Dörfchen, worin sich zwei größere Gebäude – das Wirtshaus und Dr. Mortimers Haus – hoch über die niedrigen Hütten erhoben. Der Postmeister, der zugleich den Kramladen des Örtchens hielt, erinnerte sich des Telegramms noch vollkommen deutlich und sagte:

»Gewiss, Herr; das Telegramm habe ich genau nach Vorschrift an Mr Barrymore bestellen lassen.«

»Wer bestellte es?«

»Mein Junge hier. James, du bestelltest doch letzte Woche das Telegramm an Mr Barrymore in der Hall, nicht wahr?«

»Ja, Vater, ich bestellte es.«

»Zu eigenen Händen?«, fragte ich.

»Je nun, er war gerade in dem Augenblick oben auf dem Boden; ich konnte es deshalb nicht an ihn eigenhändig bestellen, aber ich gab es an Mrs Barrymore selber ab, und sie versprach, ihm das Telegramm sofort zu bringen.«

»Bekamen Sie Mr Barrymore zu sehen?«

»Nein, Herr; wie ich Ihnen sagte, war er auf dem Boden.«

»Na, seine eigene Frau musste doch wohl wissen, wo er war«, sagte der Postmeister mürrisch. »Hat er denn das Telegramm nicht bekommen? Wenn irgendein Versehen vorgefallen ist, ist es Mr Barrymores Sache, sich selber zu beschweren.«

Es schien mir aussichtslos zu sein, noch weitere Fragen zu stellen. So viel war aber jedenfalls klar, dass wir trotz Sherlock Holmes’ List keinen Beweis dafür hatten, dass Barrymore nicht doch in London gewesen war. Angenommen, es war so – angenommen, derselbe Mann, der zuletzt Sir Charles am Leben gesehen, hatte zuerst hinter dem neuen Herrn hergespürt, als dieser nach England zurückgekehrt war –, was folgte daraus? Handelte er im Auftrag anderer, oder trug er sich mit eigenen bösen Absichten?

Was für ein Interesse konnte er daran haben, die Baskervillesche Familie zu verfolgen? Mir fiel die seltsame Warnung ein, die aus dem Leitartikel der Times ausgeschnitten war. War das sein Werk, oder ging es möglicherweise von einem anderen aus, der seine Pläne durchkreuzen wollte? Der einzige Beweggrund, der sich denken ließ, war der von Sir Henry angedeutete: dass die Barrymores für Lebzeiten ein angenehmes Heim haben würden, wenn es ihnen gelänge, die Familie fortzugraulen. Aber eine solche Annahme reichte bei Weitem nicht aus, um die augenscheinlich tief durchdachten und fein angelegten Pläne zu erklären, womit der junge Baronet wie mit einem unsichtbaren Netz umwoben worden war. Holmes selber hatte gesagt, ein verwickelterer Fall sei ihm während seiner ganzen ereignisvollen Tätigkeit nicht vorgekommen. Und als ich die einsame graue Straße entlang zurückwanderte, da betete ich zu Gott, mein Freund möchte sich bald von seinen Geschäften freimachen und herkommen können, um die schwere Last der Verantwortlichkeit von meinen Schultern zu nehmen.

Plötzlich wurde ich in meinem Nachdenken gestört, indem ich hinter mir schnelle Fußtritte und eine Stimme hörte, die meinen Namen rief. Ich drehte mich um, in der Erwartung, Dr. Mortimer zu sehen, zu meiner Überraschung aber war es ein Unbekannter, der mir nachlief. Es war ein kleiner hagerer Herr mit einem zarten, glattrasierten Gesicht, flachsblond und hohlwangig, dreißig bis vierzig Jahre alt, mit einem grauen Anzug und Strohhut bekleidet. Eine Botanisierbüchse hing über seiner Schulter, und in der einen Hand trug er einen grünen Schmetterlingsfänger.

»Gewiss werden Sie die Freiheit entschuldigen, die ich mir herausnehme, Herr Dr. Watson«, sagte er, als er keuchend die Stelle, wo ich ihn erwartete, erreicht hatte. »Hier auf dem Moor sind wir Leute ohne viele Umstände und warten’s nicht erst ab, dass wir in aller Form vorgestellt werden. Vielleicht haben Sie meinen Namen bereits von unserem beiderseitigen Bekannten Dr. Mortimer gehört. Ich bin Stapleton von Merripit House.«

»Das hätten mir schon Ihr Netz und die Botanisierbüchse sagen können«, antwortete ich, »denn ich wusste bereits, dass Mr Stapleton Naturforscher ist. Aber wie kommt es, dass Sie mich kannten?«

»Ich hatte bei Mortimer vorgesprochen, und er zeigte Sie mir vom Fenster aus, als Sie vorbeigingen. Da wir denselben Weg haben, dachte ich, ich könnte Sie einholen und mich Ihnen selbst vorstellen. Ich nehme an, dass Sir Henry seine Reise gut bekommen ist?«

»Er ist ganz gesund, danke.«

»Wir befürchteten eigentlich alle, dass nach Sir Charles’ traurigem Ende der neue Baronet vielleicht nicht hier würde wohnen wollen. Es ist von einem reichen Mann viel verlangt, in eine solche Gegend zu ziehen und sich lebendig zu begraben. Aber ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass für die Gegend sehr viel darauf ankommt. Sir Henry hegt doch wohl keine abergläubischen Befürchtungen?«

»Das halte ich nicht für wahrscheinlich.«

»Natürlich kennen Sie die Sage von dem Höllenhund, der das Geschlecht verfolgt?«

»Ich habe davon gehört.«

»Es geht über alle Begriffe, was für ein leichtgläubiges Volk die Bauern hier herum sind! Vom Ersten bis zum Letzten sind sie bereit, zu schwören, sie hätten solch ein Geschöpf auf dem Moor gesehen.« Er sagte dies mit einem Lächeln, ich glaubte indessen seinen Augen anzusehen, dass er die Sache ernster auffasste. »Die Geschichte beschäftigte Sir Charles’ Gedanken in hohem Maße und ich zweifle nicht, dass sie die Ursache seines tragischen Endes wurde.«

»Aber wieso denn?«

»Seine Nerven waren so zerrüttet, dass der Anblick irgendeines Hundes wohl eine tödliche Wirkung haben konnte. Meiner Meinung nach hat der herzkranke Baronet in jener letzten Nacht wirklich etwas Derartiges in der Taxusallee gesehen. Ich fürchtete schon längst, ihm möchte irgendein Unglücksfall zustoßen, denn ich hatte den alten Herrn sehr gern und ich wusste, dass sein Herz schwach war.«

»Woher wussten Sie das?«

»Mein Freund Mortimer erzählte es mir.«

»Sie glauben also, irgendein Hund verfolgte Sir Charles und er starb aus Angst vor dem Tier?«

»Wissen Sie eine bessere Erklärung?«

»Ich habe mir noch keine bestimmte Meinung gebildet.«

»Aber Mr Sherlock Holmes?«

Mir stand bei diesen Worten einen Augenblick der Atem still, aber ein schneller Blick auf das unbefangene Gesicht und die ruhigen Augen meines Begleiters zeigte mir, dass er es nicht auf eine Überrumpelung abgesehen hatte.

»Wir können nicht leugnen, dass Sie uns bekannt sind, Herr Doktor«, sagte er. »Die Berichte von den Leistungen Ihres Detektivs sind auch zu uns gedrungen, und Sie konnten ihn nicht berühmt machen, ohne zugleich selber bekannt zu werden. Als Mortimer mir Ihren Namen nannte, konnte er es nicht ableugnen, dass Sie der wohlbekannte Gefährte des Mr Holmes seien. Wenn Sie nun hier sind, so folgt daraus, dass Mr Sherlock Holmes sich für die Sache interessiert, und natürlich bin ich neugierig und möchte gerne hören, welche Ansicht er darüber hat.«

»Diese Frage werde ich Ihnen wohl leider nicht beantworten können.«

»Darf ich fragen, ob er uns mit seinem persönlichen Besuch zu beehren gedenkt?«

»Zurzeit kann er nicht aus London fort. Seine Aufmerksamkeit ist von anderen Fällen in Anspruch genommen.«

»Wie schade! Er hätte vielleicht etwas Licht in diese Dunkelheit hineingebracht, die uns umgibt. Wenn ich Ihnen aber bei Ihren eigenen Nachforschungen in irgendeiner Weise von Nutzen sein kann, bitte ich Sie, über mich zu verfügen. Wenn ich irgendeinen Anhalt hätte, nach welcher Richtung sich Ihr Verdacht lenkt, oder wie Sie Ihre Untersuchungen zu betreiben gedenken, könnte ich Ihnen vielleicht sogar schon jetzt nützlichen Rat geben.«

»Ich versichere Sie, ich bin ganz einfach hier auf Besuch bei meinem Freund Sir Henry und brauche keine Hilfe irgendwelcher Art.«

»Ausgezeichnet!«, sagte Stapleton. »Sie haben vollkommen recht, dass Sie vorsichtig und verschwiegen sind. Sie haben mir für meine, wie ich fühle, unentschuldbare Zudringlichkeit eine wohlverdiente Zurechtweisung erteilt, und ich verspreche Ihnen, die Sache nicht wieder zu erwähnen.«

Wir waren inzwischen an eine Stelle gekommen, wo ein schmaler, grasbewachsener Pfad sich von der Straße abzweigte, um sich in Schlangenlinien über das Moor zu winden. Zur Rechten lag ein steiler, mit Felsblöcken übersäter Hügel, der vor Zeiten, wie ein tiefer Einschnitt bekundete, als Steinbruch benutzt worden war. Die uns zugewandte Seite bildete eine dunkle Felswand, aus deren Spalten und Höhlungen Farnkräuter nickten und Brombeerbüsche hervorlugten. In einiger Entfernung schwankte am Himmel wie eine Riesenfeder eine graue Rauchwolke hin und her.

»Ein mäßiger Spaziergang diesen Moorpfad entlang bringt uns nach Merripit House«, sagte Stapleton. »Wenn Sie vielleicht eine Stunde übrig haben, könnte ich mir das Vergnügen machen, Sie meiner Schwester vorzustellen.«

Mein erster Gedanke war, dass ich eigentlich an Sir Henrys Seite gehörte. Aber dann erinnerte ich mich des Stoßes von Papieren und Rechnungen, mit denen sein Schreibtisch überdeckt war. Ich wusste, dass ich ihm beim Ordnen derselben nicht helfen konnte. Und Holmes hatte mir ausdrücklich gesagt, ich möchte die Nachbarn auf dem Moor genau studieren. Ich nahm also Stapletons Einladung an und wir gingen miteinander den schmalen Weg entlang.

»’s ist eine wunderbare Gegend, das Moor!«, sagte er und dabei ließ er seinen Blick über die langen grünen Hügelwellen mit ihren fantastischen Zackenkronen von Granit hinschweifen. »Des Moors wird man niemals überdrüssig. Sie glauben gar nicht, was für wunderbare Geheimnisse es umschließt. Es ist so weit und so wüst und so geheimnisvoll.«

»Sie kennen es wohl genau?«

»Ich bin erst seit zwei Jahren hier. In den Augen der Einheimischen bin ich noch immer ein Neuling. Wir kamen kurz nachdem Sir Charles sich niedergelassen hatte. Aber meine Neigungen trieben mich an, jeden Fleck hier in der Gegend genau zu erforschen, und ich glaube, dass es wenig Leute hier herum gibt, die sie besser kennen als ich.«

»Ist es so schwer, sich hier zurechtzufinden?«

»Sehr schwer. Sehen Sie zum Beispiel die große Ebene da nach Norden hin, woraus die eigentümlich geformten Erhöhungen hervorbrechen. Bemerken Sie irgendetwas Auffälliges daran?«

»Es wäre ein ausgezeichneter Platz für einen Galopp.«

»Es ist ganz natürlich, dass Sie so denken, und dieser Gedanke hat schon manchen bis jetzt das Leben gekostet. Sie bemerken die hellgrünen Flecken, womit die Fläche dicht übersät ist?«

»Ja, sie scheinen fruchtbarer zu sein als das übrige Land.«

Stapleton lachte und rief:

»Das ist das große Grimpener Moor. Ein Fehltritt bringt Menschen wie Tieren den Tod. Erst gestern sah ich eins von den Moorponys hineingeraten. Es kam nie wieder empor. Eine ziemlich lange Zeit sah ich den Kopf des Tieres aus dem Morastloch hervorragen, aber schließlich saugte der Sumpf es doch hinunter. Sogar in den trockenen Jahreszeiten ist es gefährlich, über das Moor zu gehen, aber jetzt nach den Herbstregen ist es geradezu ein fürchterlicher Ort. Trotzdem finde ich meinen Weg zu den verborgensten Stellen und kehre lebend und gesund wieder zurück. Beim Himmel, da ist wieder eines von den unglücklichen Ponys im Sumpf!«

Etwas Braunes rollte und wälzte sich in den grünen Binsen. Dann schoss ein langer Hals, in Todesangst sich reckend, in die Höhe, und ein furchtbarer Schrei hallte über das Moor. Mich überlief es kalt vor Entsetzen, aber mein Begleiter schien stärkere Nerven zu besitzen als ich.

»Weg ist es!«, sagte er. »Der Sumpf hat’s. Zwei in zwei Tagen und vielleicht noch viele mehr, denn sie streifen bei trockenem Wetter überall auf dem Moor herum und wissen nie den Morast vom festen Boden zu unterscheiden, bis der Sumpf sie gepackt hat. Ein gefährlicher Ort, das große Grimpener Moor!«