Mit schwerem Herzen greife ich zur Feder, um den hervorragenden Geistesgaben meines Freundes Holmes für alle Zeiten das letzte Denkmal zu setzen. Was meine frühere Darstellung der merkwürdigen Fälle betrifft, welche ich in Gemeinschaft mit ihm von Beginn unserer Bekanntschaft an bis in die neueste Zeit hinein erleben durfte, bin ich mir lebhaft bewusst, wie viel dieselbe zu wünschen übrig lässt. Ich hatte mir deshalb vorgenommen, es dabei bewenden zu lassen und den Vorfall, der vor zwei Jahren eine Lücke in mein Leben gerissen hat, welche ich heute noch in fast ungeschwächtem Maße empfinde, nicht in den Kreis meiner Darstellung zu ziehen. Die jüngst erschienenen Briefe, worin Oberst James Moriarty das Andenken seines Bruders zu verteidigen sucht, haben mir jedoch die Feder in die Hand gedrückt und mir keine andere Wahl gelassen, als von dem Hergang der Sache eine streng der Wirklichkeit entsprechende öffentliche Darlegung zu geben. Ich bin der Einzige, der den Verlauf der Sache in allen seinen Einzelheiten aufs Genaueste kennt, und erfreulicherweise liegt jetzt keinerlei vernünftiger Grund mehr vor, solchen zu verschweigen. Die, soviel mir bekannt, über den Fall erschienenen Zeitungsberichte enthalten nur eine ganz gedrängte Darstellung desselben, während die vorerwähnten Briefe, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird, auf eine völlige Verdrehung der Wahrheit hinauslaufen. So kann ich mich der Aufgabe nicht entschlagen, die Vorgänge zwischen Professor Moriarty und Sherlock Holmes zum ersten Mal genau der Wirklichkeit gemäß zu schildern.
Infolge meiner Verheiratung und des Beginns meiner ärztlichen Privatpraxis war, wie man sich vielleicht erinnern wird, mein Verkehr mit Holmes ein etwas beschränkterer geworden. Er suchte mich zwar noch immer von Zeit zu Zeit auf, wenn er einen Gefährten bei seinen Nachforschungen wünschte, allein diese Anlässe wurden immer seltener, sodass im Jahre 1890 meinen Aufzeichnungen zufolge ein derartiger Fall nur noch dreimal vorkam. Wie meine Aufzeichnungen weiter ergeben, war Holmes Ende 1890 und Anfang 1891 für die französische Regierung in einer hochwichtigen Angelegenheit tätig, und ich hatte zwei Mitteilungen von ihm erhalten, die eine aus Narbonne, die andere aus Nimes, aus denen ich entnehmen musste, dass sein Aufenthalt in Frankreich vermutlich von längerer Dauer sein werde. Ich war daher einigermaßen überrascht, als ich ihn am 24. April abends in mein Arbeitszimmer treten sah. Dabei fand ich zu meiner weiteren Überraschung, dass sein Aussehen noch blasser und magerer war als sonst.
»Ja, ich habe etwas zu rücksichtslos auf mich hinein gehaust«, bemerkte er und beantwortete damit mehr die Blicke, mit denen ich ihn betrachtete, als die Worte, die ich an ihn gerichtet hatte, »ich war in letzter Zeit etwas sehr abgespannt. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Läden schließe?«
Das einzige Licht in meinem Zimmer kam von der Lampe auf dem Tisch, an dem ich gesessen hatte. Holmes ging dicht an der Wand hin und zog dann die Läden zu, die er sorgfältig verriegelte.
»Sie haben, scheint es, Angst vor etwas?«, fragte ich.
»Allerdings.«
»Wovor?«
»Vor Windbüchsen.«
»Was soll das heißen, mein lieber Holmes?«
»Ich glaube, Sie kennen mich hinreichend, Watson, um zu wissen, dass Ängstlichkeit durchaus nicht meine Schwäche ist. Trotzdem wäre es in meinen Augen vielmehr eine Torheit als ein Beweis von Mut, eine unmittelbar drohende Gefahr geflissentlich übersehen zu wollen. Darf ich Sie um Feuer bitten?«
Damit steckte er sich eine Zigarette an, deren beruhigenden Duft er mit sichtlichem Behagen einsog.
»Ich muss mich entschuldigen, dass ich so spät bei Ihnen vorspreche«, fuhr er fort, »und muss Sie weiter um die eigentümliche Gunst bitten, mir zu gestatten, dass ich mich nachher über Ihre Gartenmauer empfehle.«
»Aber was hat das alles zu bedeuten?«, fragte ich.
Er streckte seine Hand aus, und im Schein der Lampe sah ich, dass zwei seiner Knöchel geschürft waren und bluteten.
»Wie Sie sehen, handelt es sich um keine Hirngespinste«, bemerkte er lächelnd, »die Sache ist im Gegenteil so greifbarer Natur, dass dabei die Hand zu Schaden kommen kann. Ist Ihre Frau zu Hause?«
»Nein, sie ist auswärts zu Besuch.«
»Wirklich? Sie sind allein?«
»Völlig allein.«
»Dann fällt es mir umso weniger schwer, Ihnen den Vorschlag zu machen, mich für eine Woche auf den Kontinent zu begleiten.«
»Wohin?«
»Oh, irgendwohin, das ist mir ganz gleichgültig.«
Das alles kam mir höchst auffallend vor: Dass Holmes sich einen zwecklosen Urlaub gönnen sollte, sah ihm schon an sich durchaus nicht ähnlich, und in seinem blassen, müden Gesicht lag etwas, das mir zeigte, dass seine Nerven im höchsten Grad überreizt waren. Als er meinem fragenden Blick begegnete, legte er die Fingerspitzen aneinander, stützte die Ellbogen auf die Knie und schickte sich an, mir die Sachlage auseinanderzusetzen.
»Sie haben vermutlich nie etwas von Professor Moriarty gehört?«, begann er.
»Niemals.«
»Ja, ja, darin steckt eben das Geniale und das Wunderbare bei der Sache!«, rief er aus. »Der Mann treibt sich in ganz London herum, und kein Mensch hat je von ihm gehört. Das weist ihm einen der hervorragendsten Plätze in den Annalen des Verbrechertums an. Ich sage Ihnen, Watson, in allem Ernst, könnte ich über diesen Menschen triumphieren, könnte ich die Menschheit von ihm befreien, hätte ich das Bewusstsein, das höchste Ziel in meiner Laufbahn erreicht zu haben, und wäre bereit, mich einer beschaulicheren Lebensaufgabe zuzuwenden. Unter uns gesagt, haben die Dienste, die ich in neuester Zeit dem schwedischen Königshaus und der französischen Republik geleistet habe, mir so reichlichen Lohn eingebracht, dass ich sofort in der Lage wäre, mir eine ruhige Lebensweise, wie sie meinen Neigungen entspricht, zu erwählen und mich völlig meinen chemischen Untersuchungen zu widmen. Aber es ließe mir keine Ruhe, Watson, nicht einen Augenblick vermöchte ich still zu sitzen bei dem Gedanken, dass ein Mensch wie dieser Moriarty durch unsere Straßen wandelt, ohne dass jemand den Kampf mit ihm aufnimmt.«
»Was hat er denn begangen?«
»Er hat eine merkwürdige Laufbahn hinter sich. Er ist aus guter Familie, hat eine vortreffliche Bildung genossen und besitzt eine phänomenale Begabung für Mathematik. Mit einundzwanzig Jahren schrieb er eine Abhandlung über die Theorie der Binome, die in ganz Europa Aufsehen gemacht hat. Dadurch errang er sich einen mathematischen Lehrstuhl an einer unserer kleinen Hochschulen, sodass er allem Anschein nach am Anfang einer glänzenden Laufbahn stand. Allein der Mann war erblich belastet mit einem ihm tief im Blut liegenden wahrhaft teuflischen Hang zum Verbrechen, der durch seine außerordentlichen Geistesgaben nicht nur nicht eingedämmt wurde, sondern im Gegenteil dadurch noch bedeutend an Stärke und selbstverständlich vor allem an Gefährlichkeit zunahm. Es bildete sich um seine Person am Ort seiner Tätigkeit ein Dunstkreis von allerlei dunklen Gerüchten, sodass er sich schließlich genötigt sah, sein Lehramt niederzulegen und sich in London als Einpauker für die Offizierprüfung niederzulassen. So viel ist überall von ihm bekannt, dagegen habe ich das, was ich Ihnen jetzt sagen will, durch eigene Nachforschungen ermittelt.
Sie wissen ja wohl, Watson, dass niemand die höhere Verbrecherwelt so gut kennt als ich. Nun fiel mir schon seit Jahren fortwährend auf, dass hinter dem Verbrecher irgendeine Macht stehen müsse, eine geheimnisvolle Macht, die dem Gesetz überall planmäßig und systematisch in den Weg trat, dagegen den Übeltätern ihren Schutz lieh. Immer und immer wieder bei Fällen der verschiedensten Art, bei Einbrüchen, bei sonstigen Diebstählen, bei Mordtaten stieß ich auf die Spuren dieser Macht, und bei einer ganzen Reihe von unaufgeklärt gebliebenen Verbrechensfällen, in denen ich keinen persönlichen Rat erteilt hatte, musste ich zu der Überzeugung gelangen, dass dieser Umstand nur dem Walten jener Macht zuzuschreiben sei. Jahrelang habe ich daran gearbeitet, den Schleier zu lüften, in den dieselbe sich hüllte, und endlich war ich so weit, dass ich meinen Faden aufnehmen und verfolgen konnte, bis er mich auf tausendfachen künstlichen Irrwegen zu dem berühmten Mathematiker, dem vormaligen Professor Moriarty, hinleitete.
Er ist der Napoleon des Verbrechens, Watson. Die Hälfte aller Verbrechen in dieser Weltstadt überhaupt, und nahezu alle diejenigen, die unentdeckt bleiben, sind von ihm ins Werk gesetzt. Er ist ein Genie, ein Philosoph, ein Denker. Er besitzt ein Gehirn ersten Ranges. Regungslos sitzt er gleich einer Spinne im Mittelpunkt eines Netzes, allein dieses läuft in Tausende von Fäden aus, und er spürt das leiseste Zucken eines jeden derselben.
Er selbst tut nur wenig, er entwirft nur den Plan. Aber er besitzt zahlreiche trefflich organisierte Hilfskräfte. Handelt es sich darum, ein Verbrechen auszuführen, wir wollen zum Beispiel sagen, eine Urkunde zu entwenden, ein Haus auszurauben, einen Menschen zu beseitigen – man gibt dem Professor die Losung, und sofort wird die Sache ins Werk gesetzt und zur Ausführung gebracht. Der Helfershelfer fällt vielleicht der Polizei in die Hände. In diesem Fall fehlt es niemals an Geld zur Sicherheitsleistung für seine Person oder zu seiner Verteidigung vor Gericht. Aber die leitende Macht, in deren Diensten der Betreffende steht, wird niemals gefasst– nicht eine Spur von Verdacht fällt auf sie. Dies war das Ergebnis meiner Feststellungen, und ich habe meine volle Kraft daran gesetzt, um dieses ganze Gewebe klar zu legen und zu vernichten.
Allein, der Professor war rings von einem so schlau ausgedachten Schutzwall umgeben, dass alle meine Bemühungen, seine Überweisung vor Gericht zu ermöglichen, vergeblich schienen. Sie wissen, was ich leisten kann, mein lieber Watson, trotzdem sah ich mich nach drei Monaten zu dem Bekenntnis genötigt, dass ich diesmal zum wenigsten einen mir geistig gleichstehenden Gegner gefunden habe.
Ich war nicht mehr imstande, mich über sein verbrecherisches Treiben zu entsetzen, so groß war meine Bewunderung für seine Schlauheit. Allein endlich ließ er sich doch ein Versehen beikommen – nur ein einziges ganz kleines Versehen –, aber das genügte, nachdem ich ihm bereits so dicht auf den Fersen saß. Jetzt hatte ich gewonnenes Spiel. Auf jenem Punkt fußend habe ich ihm ein Netz über den Kopf geworfen, und es ist alles so weit, um dasselbe nun vollends zuzuziehen. Binnen drei Tagen, d. h. also nächsten Montag, ist die Sache reif zum Eingreifen, und der Professor samt den Hauptmitgliedern seiner Bande wird sich dann in den Händen der Polizei befinden. Das gibt den großartigsten Kriminalprozess des Jahrhunderts, der über vierzig rätselhafte Fälle Licht verbreitet und die ganze Gesellschaft an den Galgen bringt –, aber wohlverstanden nur, falls wir keine Stunde zu früh losschlagen, sonst entschlüpfen sie uns noch im letzten Augenblick unter den Händen.
Hätte sich nun dies alles ausführen lassen ohne Wissen des Professors, wäre die Sache ganz glatt abgegangen. Allein dazu war dieser viel zu schlau. Keiner meiner Schritte zu seiner Umgarnung blieb ihm verborgen. Immer und immer wieder suchte er den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und jedes Mal fing ich ihn wieder ein. Ich sage Ihnen, mein Lieber, ließe sich eine genaue Schilderung dieses stummen, in Angriff und Abwehr gleich großartigen Ringens geben —, es würde ein Kabinettstück in den Annalen der Geheimpolizei bilden. Noch nie hatte ich mich zu solcher Höhe aufgeschwungen, und noch nie hatte ein Gegner mich so heiß gemacht. Er ging fest ins Zeug, und doch war ich ihm noch ein wenig über. Heute Morgen wurden die letzten Maßregeln getroffen, und in drei Tagen sollte vollends alles bereit sein. Während ich nun in meinem Zimmer saß und über die Angelegenheit nachsann, ging plötzlich meine Tür auf, und der Professor stand vor mir. Meine Nerven können einen ziemlichen Puff vertragen, Watson, aber ich muss gestehen, es fuhr mir doch in die Glieder, als ich diesen Mann, mit dem sich meine Gedanken so viel beschäftigt hatten, leibhaftig auf meiner Schwelle stehen sah. Seine Erscheinung selbst hatte gar nichts Überraschendes für mich. Er ist außerordentlich groß und mager, seine Stirn springt in weitem Bogen vor, und seine Augen liegen tief in ihren Höhlen. Er ist glatt rasiert, blass und von asketischem Aussehen, dabei kann er in seinen Zügen den Gelehrten nicht ganz verleugnen. Seine Schultern sind von vieler geistiger Arbeit gewölbt und sein Gesicht stark nach vorwärts geneigt, was ihm zusammen mit einem fortwährenden Hin- und Herwiegen des Kopfes etwas eigentümlich Schlangenartiges verleiht. Er heftete den Blick seiner von zahllosen Runzeln umzogenen Augen voll Neugier auf mich.
›Die Entwicklung Ihrer oberen Schädelhälfte entspricht nicht ganz meinen Erwartungen‹, begann er endlich. ›Eine gefährliche Gewohnheit, geladene Feuerwaffen in die Taschen seines Schlafrocks zu stecken.‹
Ich hatte nämlich bei seinem Eintritt augenblicklich die große Gefahr erkannt, in der ich schwebte. Es gab für ihn nur eine Möglichkeit der Rettung: – mich stumm zu machen. Mit Blitzesschnelle hatte ich den Revolver aus der Schublade in meine Tasche geschoben, wo ich ihn von außen festhielt. Auf seine Bemerkung zog ich denselben nun heraus und legte ihn mit gespanntem Hahn vor mich auf den Tisch. Er lächelte und blinzelte zwar noch immer, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der mir die Gewissheit, eine geladene Waffe zur Hand zu haben, sehr beruhigend erscheinen ließ.
›Sie wissen offenbar nicht, wer ich bin‹, fuhr er fort.
›Im Gegenteil, ich meine, man könne deutlich sehen, dass Sie mir sehr wohl bekannt sind. Lassen Sie sich nieder. Fünf Minuten kann ich Ihnen schon widmen, falls Sie mir etwas mitzuteilen haben.‹
›Was ich Ihnen sagen könnte, ist Ihnen bereits alles durch den Sinn gegangen.‹
›Dann ist Ihnen auch bereits durch den Sinn gegangen, was ich darauf zu erwidern hätte‹, versetzte ich.
›Sie weichen also nicht?‹
›Niemals.‹
Jetzt griff er in die Tasche, worauf ich sofort die Waffe aufnahm. Er zog jedoch nur ein Notizbuch mit einigen Aufzeichnungen hervor.
›Am 4. Januar haben Sie zum ersten Mal meinen Weg gekreuzt‹, fing er wieder an, ›am 23. wurden Sie mir unbequem; Mitte Februar bereiteten Sie mir ernstlich Schwierigkeiten, Ende März war ich in meinen Unternehmungen völlig lahmgelegt – nun, Ende April, hat sich durch Ihre unablässige Verfolgung meine Lage derart gestaltet, dass ich mich der ernstlichen Gefahr gegenübersehe, meine Freiheit einzubüßen. Die Lage wird nachgerade unhaltbar.‹
›Haben Sie irgendeinen Vorschlag zu machen?‹, fragte ich darauf.
›Sie müssen zurückweichen‹, erwiderte er, den Kopf hin- und herwiegend. ›Es muss durchaus sein, hören Sie.‹
›Ja, aber nicht vor kommendem Montag‹, war meine Antwort.
›Pah, pah!‹, versetzte er wieder. ›Ein Mann von Ihrem Verstand muss meiner Überzeugung nach einsehen, dass es aus dieser Angelegenheit nur einen Ausweg gibt und dass Sie sich ganz unfehlbar zurückziehen müssen. Sie selbst haben durch Ihre Tätigkeit die Sache in dieser Weise auf die Spitze getrieben. Die Art und Weise, wie Sie die Sache anfassten, hat mir übrigens wirklichen geistigen Genuss verschafft, und ich versichere Ihnen aufrichtig, dass es mir leid tun würde, falls ich mich zum Äußersten genötigt sähe. Sie lächeln, aber ich versichere Ihnen, es ist mein voller Ernst.‹
›Gefahr gehört zu meinem Handwerk‹, versetzte ich.
›Hier handelt es sich nicht bloß um Gefahr, sondern um unvermeidliche Vernichtung. Es ist nicht ein Einzelner, mit dem Sie es aufgenommen haben, sondern eine mächtige Organisation, die Sie mit all Ihrem Scharfsinn in ihrem vollen Umfang zu ergründen nicht imstande waren. Sie müssen Raum geben, oder Sie werden niedergetreten.‹
›Ich bedauere sehr‹, erwiderte ich, indem ich mich erhob, ›mich dieser angenehmen Unterhaltung nicht länger widmen zu können, da ich sonst anderweite dringende Geschäfte versäumen müsste.‹
Er stand gleichfalls auf und sah mich mit traurigem Kopfschütteln stillschweigend an.
›Ei, ei‹, sagte er schließlich, ›es ist leider, scheint es, nichts zu machen; aber ich habe getan, was ich konnte. Ich kenne jeden Zug in Ihrem Spiel. Vor Montag können Sie nichts tun. Das Ganze ist ein Waffengang zwischen uns beiden. Sie hoffen, mich in den Korb legen zu können. Niemals wird das geschehen, sage ich Ihnen. Sie hoffen den Sieg über mich davonzutragen. Ich sage Ihnen, es wird Ihnen nicht gelingen. Reicht Ihr Scharfsinn hin, mir den Untergang zu bereiten, dann seien Sie fest überzeugt, dass ich Ihnen Gleiches mit Gleichem vergelten werde.‹
›Sie haben mir heute mehrfach Artigkeiten gesagt‹, erwiderte ich. ›Ich will Ihnen gleichfalls ein Kompliment machen. Wäre ich sicher, die erste Alternative verwirklichen zu können, würde ich die letztere mit Freuden auf mich nehmen.‹
›Ich kann Ihnen nur diese eine in sichere Aussicht stellen, die andere nicht‹, knurrte er – und damit wandte er mir seinen gekrümmten Rücken zu und verließ das Zimmer unter beständigem Blinzeln seiner stechenden Augen.
Dies war mein merkwürdiges Zusammentreffen mit meinem Gegner. Ich muss gestehen, dasselbe hinterließ mir ein Gefühl des Unbehagens. Die sanfte und knappe Art seiner Äußerungen sprach mehr für seine Aufrichtigkeit, als wenn der Mann kurzweg großsprecherisch aufgetreten wäre. Sie werden nun natürlich sagen: Warum rufen Sie denn nicht polizeilichen Schutz gegen ihn an? Nun, weil ich fest überzeugt bin, dass der Schlag nicht von ihm, sondern von seinen Helfershelfern ausgehen würde. Ich habe dafür bereits die allerbesten Beweise.«
»Man hat schon Angriffe auf Sie gemacht?«
»Mein lieber Watson, Moriarty ist nicht der Mann, der Gras unter seinen Füßen wachsen lässt. Gegen Mittag ging ich in Geschäften zur Oxford Street. An einer Straßenkreuzung kam plötzlich ein zweispänniger Korbwagen in rasender Eile um die eine Ecke und war mir mit Blitzesschnelle dicht auf dem Leib; durch einen Sprung auf den Fußsteig konnte ich mich gerade noch mit knapper Not retten, der Wagen aber war in einem Augenblick um die nächste Ecke gesaust und verschwunden. Ich hielt mich von da an auf dem Fußsteig, allein ein paar Straßenlängen weiter fiel dicht vor meinen Füßen ein Ziegel vom Dach eines Hauses herunter und zerschellte auf dem Pflaster. Ich rief die Polizei und ließ eine Besichtigung der Örtlichkeit vornehmen. Es sollten Ausbesserungen auf dem Dach stattfinden, und zu diesem Zweck waren Schieferplatten und Ziegelsteine dort aufgeschichtet. Man wollte mir einreden, einen von diesen habe der Wind herunter geweht. Natürlich wusste ich es besser, aber beweisen konnte ich nichts. Daraufhin nahm ich einen Wagen und fuhr zu meinem Bruder in die Pall Mall, wo ich den Tag vollends verbrachte. Auf meinem Weg von dort zu Ihnen hat mich nun vorhin ein Strolch mit einem Knüttel angefallen. Ich habe ihn zwar niederschlagen und der Polizei in sicheren Gewahrsam übergeben, aber ich kann Ihnen mit größter Bestimmtheit voraussagen, dass man niemals auch nur die geringste Spur einer Verbindung zwischen dem sauberen Herrn, an dessen Vorderzähnen ich mir die Knöchel blutig geschlagen habe, und dem obskuren Mathematikus entdecken wird, der jedenfalls ein paar Stunden weit davon ruhig seine Aufgaben an der schwarzen Tafel ausrechnet. Sie werden jetzt begreifen, Watson, warum es mein Erstes nach meinem Eintreffen bei Ihnen war, Ihre Läden zu schließen, und warum ich Sie bitten musste, Ihr Haus anstatt durch die vordere Tür auf einem minder auffälligen Weg verlassen zu dürfen.«
»Sie bleiben die Nacht hier?«
»Nein, mein Lieber, diese Gastfreundschaft könnte Ihnen gefährlich werden. Ich bin über mein Verhalten mit mir im Reinen, und es wird alles gut ablaufen. Die Angelegenheit ist so weit gefördert, dass sie ohne meine Mitwirkung ihren Fortgang nehmen kann, soweit die Rechtswirkung des ergangenen Gerichtsbeschlusses reicht; erst zur Beweisaufnahme ist mein persönliches Erscheinen erforderlich. Ich kann also offenbar nichts Vernünftigeres tun, als für die paar Tage zu verreisen, bis die Polizei vollends freie Hand hat. Es wäre mir deshalb äußerst angenehm, wenn Sie mich auf den Kontinent begleiten könnten.«
»Meine Praxis macht mir eben nicht viel zu tun«, versetzte ich, »und mein Nachbar ist gerne bereit, meine Stellvertretung zu übernehmen. Ich würde mit Vergnügen mitgehen.«
»Und gleich morgen früh abreisen?«
»Wenn es sein muss, auch das.«
»O ja, das ist durchaus notwendig. Und somit gebe ich Ihnen Ihre Weisungen, die ich Sie bitten muss, mein lieber Watson, ganz wortgetreu zu befolgen, denn Sie sind jetzt mein Partner in meinem Spiel gegen den abgefeimtesten Schurken und die mächtigste Verbrecherbande von ganz Europa. Also merken Sie wohl auf! Ihr sämtliches Reisegepäck schicken Sie noch heute Abend ohne Adresse durch einen zuverlässigen Boten zur Victoria Station. Morgen früh verschaffen Sie sich eine Droschke, machen jedoch dem, der sie holt, strengstens zur Pflicht, weder die erste noch die zweite zu nehmen, die ihm begegnet. In dieser Droschke fahren Sie zum Strandende der Lowther-Arkaden. Das Ziel der Fahrt schreiben Sie auf ein Zettelchen und stecken dieses dem Kutscher mit dem gemessenen Befehl zu, solches unter keinen Umständen wegzuwerfen. Das Fahrgeld halten Sie bereit, und sobald Sie an Ort und Stelle sind, begeben Sie sich schleunigst zur anderen Seite der Arkaden, sodass Sie unfehlbar ein viertel nach neun dort sind. Dicht bei dem Zaun werden Sie einen kleinen Brougham finden, dessen Kutscher einen schweren schwarzen Mantel mit rot ausgeschlagenem Kragen trägt. In diesen Wagen steigen Sie ein. Derselbe wird Sie gerade noch recht zum Abgang des Kontinentexpresszuges zur Victoria Station bringen.«
»Wo werde ich Sie treffen?«
»Auf dem Bahnhof. Der zweite Wagen erster Klasse von vorne wird für uns belegt sein.«
»Im Wagen selbst geben wir uns also das Stelldichein?«
»Jawohl.«
Vergeblich bat ich Holmes nochmals, den Abend bei mir zu verbringen. Offenbar war er überzeugt, dass seine Anwesenheit dem Dach, unter dem er weilte, Gefahr bringen könnte, und deshalb ließ er sich um keinen Preis halten. Mit einigen eiligen Bemerkungen betreffs unserer Reisepläne für den nächsten Tag erhob er sich und ließ sich von mir in den Garten geleiten. Dort kletterte er über die Mauer zur Mortimer Street hinaus und pfiff augenblicklich eine Droschke herbei, in der ich ihn dann wegfahren hörte.
Mein Verhalten am nächsten Morgen richtete ich wortgetreu nach Holmes’ Weisungen ein. Bei der Beschaffung einer Droschke wurde jede mögliche Vorsicht beobachtet, und sofort nach dem Frühstück fuhr ich nach den Lowther-Arkaden, wo ich in möglichster Eile dem andern Ausgang zustrebte. Dort stand in der Tat der Brougham mit dem sehr wohlbeleibten Kutscher in dunklem Mantel, der, sobald ich eingestiegen war, mit mir der Victoria Station zusauste. Nachdem ich dort ausgestiegen, drehte er sogleich um und verschwand eiligst, ohne auch nur nach mir umzuschauen. So weit war alles vortrefflich gegangen. Mein Gepäck harrte meiner, und den von Holmes bezeichneten Wagen fand ich umso leichter als sonst keiner den Vermerk ›Belegt‹ trug. Das Einzige, was mir jetzt noch Sorgen machte, war, dass Holmes nicht erschien. Nach der Bahnuhr fehlten nur noch sieben Minuten bis zur Abfahrtszeit unseres Zuges. Umsonst suchte ich unter den Reisenden, die sich auf dem Bahnsteig und an den Schaltern drängten, nach der kleinen Gestalt meines Freundes. Nirgends war eine Spur von ihm zu sehen. Ein paar Minuten verbrachte ich damit, einem ehrwürdigen italienischen Priester meinen Beistand zu leihen, der in seinem gebrochenen Englisch sich bemühte, einem Gepäckträger klarzumachen, dass sein Gepäck direkt nach Paris eingeschrieben werden solle. Hierauf schaute ich mich noch einmal rings um und ging dann wieder zu meinem Wagen zurück, wo ich fand, dass der Schaffner im Widerspruch mit meiner Fahrkarte mir meinen gebrechlichen italienischen Freund zum Reisegefährten gegeben hatte. Vergebens suchte ich ihm verständlich zu machen, dass er nicht hier herein gehöre, denn mein Italienisch war noch näher beisammen als sein Englisch; so fügte ich mich eben schließlich achselzuckend in die Sachlage und schaute aufs Neue voll Unruhe nach meinem Freund aus. Es überlief mich kalt bei dem Gedanken, sein Ausbleiben könnte in einem während der Nacht gegen ihn geführten Streich seinen Grund haben. Schon waren sämtliche Türen geschlossen und das Zeichen zur Abfahrt gegeben, als ich plötzlich die Worte vernahm: »Mein lieber Watson, Sie haben ja noch nicht einmal geruht, mir Guten Morgen zu wünschen.« Vor Überraschung fuhr ich unwillkürlich herum. Der alte, grässliche Herr hatte mir sein Gesicht zugewendet. Auf einen Augenblick glätteten sich die Runzeln, die Nase entfernte sich vom Kinn, die Unterlippe schob sich nicht mehr vor, und der Mund stellte seine murmelnde Bewegung ein; die trüben Augen gewannen ihr Feuer wieder, und die gebückte Gestalt richtete sich auf. Im nächsten Augenblick jedoch sank diese aufs Neue in sich zusammen, und mein Freund war ebenso plötzlich wieder verschwunden, als er zuvor erschienen war.
»Guter Himmel«, rief ich, »haben Sie mich erschreckt!«
»Es bedarf noch immer der größten Vorsicht«, flüsterte er dagegen. »Ich habe Grund anzunehmen, dass sie uns scharf auf den Fersen sind. Ha, da ist Moriarty selber!« Der Zug hatte sich bei Holmes’ letzten Worten bereits in Bewegung gesetzt. Ich blickte zurück und sah noch, wie ein hochgewachsener Mann wütend durch das Gedränge stürmte und mit der Hand winkte, als wollte er den Zug anhalten lassen. Es war jedoch bereits zu spät, denn wir kamen schon in vollen Lauf und hatten im nächsten Augenblick den Bahnhof hinter uns.
»Unsere Maßnahmen haben, wie Sie sehen, ihren Zweck doch ganz hübsch erreicht«, meinte Holmes nun lachend. Er stand auf, warf seine Verkleidung ab und steckte Talar und Hut in einen Reisesack. »Haben Sie schon ins Morgenblatt geblickt?«, fuhr er dann fort.
»Nein.«
»Dann haben Sie also nichts von der Baker Street gelesen?«
»Baker Street?«
»Man hat heute Nacht Feuer an meine Wohnung gelegt; es hat übrigens nicht viel Schaden angerichtet.«
»Um des Himmels willen, Holmes, das ist ja nicht mehr auszuhalten!«
»Nachdem ich den Kerl mit dem Knüttel habe festnehmen lassen, müssen sie meine Spur völlig verloren haben. Sonst hätten sie sich unmöglich einbilden können, dass ich wieder in meine Wohnung zurückgegangen sei. Dagegen haben sie offenbar nicht versäumt, Sie zu überwachen, sonst wäre Moriarty nicht zur Victoria Station gekommen. Könnte Ihnen nicht auf Ihrem Weg dahin irgendein Versehen begegnet sein?«
»Ich habe mich strengstens an Ihre Weisungen gehalten.«
»Haben Sie an den Arkaden den Wagen gefunden?«
»Jawohl, er stand schon da, wie ich kam.«
»Haben Sie den Kutscher erkannt?«
»Nein.«
»Es war mein Bruder Mycroft. Es ist viel wert, wenn man in einem solchen Fall nicht nötig hat, einen Mietling ins Vertrauen zu ziehen. Aber wir müssen nun ausmachen, was wir wegen Moriarty tun wollen.«
»Wir haben ja einen Expresszug mit Anschluss an das Dampfboot, damit werden wir ihn doch wohl endgültig losgeworden sein!«
»Mein lieber Watson, Sie haben offenbar die Tragweite meiner Bemerkung nicht erfasst, dass man diesen Mann in geistiger Beziehung füglich auf eine Linie mit mir stellen dürfe. Sie bilden sich doch nicht ein, dass ich mich bei der Verfolgung meines Gegners durch ein so geringfügiges Hindernis lahmlegen lassen würde. Warum sollten Sie nun so gering von ihm denken?«
»Was wird er aber tun?«
»Was ich auch tun würde.«
»Und was wäre das?«
»Einen Sonderzug nehmen.«
»Der käme aber doch zu spät.«
»Keineswegs. Unser Zug hält in Canterbury, und am Dampfboot gibt es einen Aufenthalt von mindestens einer halben Stunde. Dort holt er uns ein.«
»Man sollte gerade glauben, wir wären die Verbrecher! – Wollen wir ihn nicht bei unserer Ankunft verhaften lassen?«
»Damit wäre die Arbeit von drei Monaten zunichte gemacht. Den großen Fisch hätten wir dann allerdings gefangen, aber die kleinen würden uns rechts und links aus dem Netz schlüpfen, während wir sie am Montag alle miteinander bekommen. Nein, von Verhaftung kann keine Rede sein.«
»Was aber dann tun?«
»Wir steigen in Canterbury aus.«
»Und dann?«
»Nun, dann müssen wir eben eine Querfahrt über Land nach Newhaven machen und von dort nach Dieppe übersetzen. Moriarty wird dann wiederum genau so handeln, wie ich an seiner Stelle gehandelt haben würde. Er wird nach Paris weiterfahren, dort unser Gepäck abfangen und zwei Tage an der Abgabestelle auf uns warten. Mittlerweile leisten wir uns jeder einen neuen Reisesack, lassen die Geschäfte in den Gegenden, durch die wir kommen, auch etwas verdienen und fahren in aller Gemütlichkeit über Luxemburg und Basel in die Schweiz.«
Ich bin des Reisens zu sehr gewohnt, als dass ich mir aus dem Verlust meines Gepäckes sonderlich viel machen sollte, dagegen verdross mich, offen gestanden, der Gedanke nicht wenig, mich durch allerlei Kreuz- und Querfahrten vor einem Menschen verstecken zu müssen, der eine Unzahl der schwärzesten Schurkereien auf dem Kerbholz hatte.
Allein offenbar beurteilte Holmes die Lage richtiger als ich. Wir stiegen daher in Canterbury aus – lediglich um zu entdecken, dass der nächste Zug nach Newhaven erst in einer Stunde abgehe.
Noch schaute ich recht betrübt meinem rasch entschwindenden Gepäck nach, als mich Holmes anstieß und auf die Bahnlinie deutete.
»Da ist er schon, sehen Sie«, sagte er.
Ganz in weiter Ferne am Waldrand stieg ein Rauchstreifen empor. Nach einer Minute konnte man eine Maschine und einen Wagen unterscheiden, die mit Windeseile auf der offenen Kurve gegen den Bahnhof herjagten. Wir hatten kaum Zeit, uns hinter einen Haufen von Gepäckstücken zu stellen, als der Zug mit Donnergetöse an uns vorübersauste und uns eine ganze Wolke heißer Luft ins Gesicht blies.
»Da fährt er nun davon«, sagte Holmes, während wir dem Wagen nachblickten, wie er auf den Schienen hin und her schwankte. »Auch unseres Feindes Scharfsinn hat seine Grenzen, wie Sie sehen. Das wäre erst ein wahres Meisterstück von ihm gewesen, wenn er meine Gedanken völlig erraten und genau danach gehandelt hätte.«
»Und hätte er uns eingeholt, was würde er getan haben?«
»Einen Mordanfall auf mich würde er gemacht haben, daran ist nicht der mindeste Zweifel. Allein dazu gehören zwei, wie man zu sagen pflegt. Die Frage ist jetzt, sollen wir hier vor der Zeit etwas zu uns nehmen, oder zusehen, ob wir es noch aushalten, bis wir in Newhaven etwas zu essen bekommen?«
Wir fuhren abends noch bis Brüssel, wo wir zwei Tage verbrachten, und am dritten Tag bis Straßburg. Am Montag früh hatte Holmes an die Londoner Polizeibehörde telegrafiert, und abends fanden wir die Antwort im Hotel vor. Kaum hatte Holmes die Depesche aufgerissen, schleuderte er sie mit einem bitteren Fluch in den Kamin.
»Ich hätte mir’s denken können!«, brummte er. »Er ist richtig durchgekommen!«
»Moriarty?«
»Die ganze Bande haben sie dingfest gemacht, nur ihn nicht. Er hat ihnen eine Nase gedreht. Natürlich, da ich fort war, wo wäre jemand gewesen, um es mit ihm aufzunehmen? Aber ich hatte doch wirklich gedacht, ich habe ihnen alle Trümpfe in die Hände gegeben. Ich glaube, Sie tun jetzt am besten, wieder heimzureisen, Watson.«
»Warum denn?«
»Weil Ihnen meine Gesellschaft von nun an gefährlich werden kann. Der Mann ist um seine Existenz gebracht. Er ist verloren, sobald er sich wieder in London blicken lässt. Beurteile ich ihn richtig, wird er seine ganze Kraft daran setzen, um dafür Rache an mir zu nehmen. Dahin hat er sich bei unserem kurzen Gespräch geäußert, und ich bin überzeugt, es war ihm Ernst damit. Ich würde Ihnen wirklich raten, wieder an Ihren Beruf zu gehen.«
Dieser Rat war selbstverständlich nicht eben dazu angetan, bei einem alten Freund und treuen Begleiter wie mir geneigtes Gehör zu finden. Eine halbe Stunde lang erörterten wir die Frage während unseres Mittagsmahles in Straßburg, allein noch am selben Abend befanden wir uns bereits wieder auf der Weiterfahrt nach Genf.
Wir machten nun zunächst eine siebentägige herrliche Wanderung das Rhonetal aufwärts, bogen dann in Leuk ab und gingen nun über den noch tief verschneiten Gemmipass nach Interlaken und weiter nach Meiringen. Es war allerliebst, unten das zarte Frühlingsgrün, oben das jungfräuliche Weiß des Winters, aber ich sah sehr wohl, dass Holmes trotzdem nicht einen Augenblick den Schatten vergaß, der über ihm schwebte. In den heimlichen Alpendörfern wie auf den lieblichen Gebirgspfaden verriet sein unruhiger Blick und die Genauigkeit, mit der er die Züge eines jeden uns Begegnenden prüfte, seine unerschütterliche Überzeugung, dass wir, wohin wir gingen, uns doch niemals der Gefahr zu entziehen vermochten, die sich an unsere Spuren heftete.
So erinnere ich mich, dass, während wir auf unserem Weg über den Gemmipass am Ufer des düsteren Daubensees hinschritten, ein großes Felsstück, das sich von dem Abhang abgelöst hatte, mit lautem Krachen herab- und dröhnend hinter uns in den See stürzte. In einem Augenblick war Holmes den Abhang hinaufgestürmt, wo er auf einer luftigen Felszacke stehend, den Hals nach allen Seiten reckte. Vergebens versicherte ihm unser Führer, dass Felsstürze zur Frühlingszeit in dieser Gegend etwas ganz Gewöhnliches seien. Er sagte nichts, aber er lächelte mir zu, als wollte er mir damit andeuten, etwas dergleichen habe er längst erwartet.
Und doch war er trotz all seiner Wachsamkeit niemals niedergeschlagen, im Gegenteil, ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals in solch überschäumender Laune gesehen zu haben. Immer und immer kam er wieder darauf zurück, wie gerne er seine Laufbahn zum Abschluss bringen würde, dürfte er sicher sein, die Menschheit von Moriarty befreit zu haben.
»Ich glaube, ich darf wohl sagen, Watson, ich habe nicht ganz umsonst gelebt«, bemerkte er dabei. »Fände meine Tätigkeit noch heute Abend ihren Abschluss, ich hätte nichts dagegen. Mein Aufenthalt in London würde dadurch an Annehmlichkeit für mich nur gewinnen. In den mehr als tausend Fällen, die mich beschäftigt haben, bin ich mir nicht bewusst, auch nur ein einziges Mal meine Fähigkeit in den Dienst des Unrechtes gestellt zu haben. Seit einiger Zeit fühle ich mich mehr von den Problemen angezogen, die uns die Natur selbst aufgibt, als von den weit oberflächlicheren Aufgaben, die sich aus unseren unnatürlichen gesellschaftlichen Zuständen ergeben. An dem Tag, wo mir schließlich noch der Triumph zuteil wird, durch meine Tätigkeit die Gefangennahme oder die Vernichtung des gefährlichsten Verbrechergenies der ganzen gesitteten Welt erreicht zu haben, können Sie die Feder aus der Hand legen, Watson.«
Das Wenige, was mir noch zu sagen bleibt, will ich in Kürze und doch genau zu berichten suchen.
Am 3. Mai erreichten wir das Dorf Meiringen, wo wir im Englischen Hof abstiegen. Der Wirt, Peter Steiler der Ältere, war ein verständiger Mann, der auch vortrefflich Englisch sprach. Auf seinen Rat brachen wir am 4. zusammen auf, um über die Höhen zum Weiler Rosenlaui zu gehen, wo wir übernachten wollten. Er hatte uns übrigens strengstens eingeschärft, hierbei den erforderlichen kleinen Umweg nicht zu scheuen, um die auf halber Höhe liegenden Reichenbachfälle zu besichtigen. Diese machen mit ihrer Umgebung einen wirklich grauenerregenden Eindruck. Der Bach, durch die schmelzenden Schneemassen geschwellt, stürzt in einen furchtbaren Abgrund, aus dem der Schaum emporwirbelt, wie der Rauch aus einem brennenden Haus.
Die ungeheure, von glänzenden, kohlschwarzen Felsen umsäumte Kluft, in welche die Wasser hinabstürzen, verengt sich schließlich zu einem brodelnden Kessel von unberechenbarer Tiefe, über dessen gezackten Rand der Strom dann weiter zu Tal schießt. Man wird schwindelig von dem unablässigen Donnergetöse der riesigen weißen Wassersäule und von der ewigen Wirbelbewegung des aufspritzenden, flackernden Gischtes, der sich gleich einem dichten Vorhang aus der Tiefe emporzieht. Ganz außen am Rand schauten wir den Wassern zu, wie sie sich in sprühendem Glanz tief unten an den schwarzen Felsen brachen, und lauschten den Tönen, die – einem menschlichen Jauchzen vergleichbar – mit dem aufspritzenden Gischt aus der Schlucht heraufschallten.
Auf der einen Seite ist um den Fall herum ein Pfad gehauen, um eine vollständige Ansicht des ersteren zu ermöglichen, allein derselbe hört plötzlich auf, sodass man auf demselben Weg wieder umkehren muss. In dem Augenblick, wo wir uns an dieser Stelle wieder zurückwandten, erblickten wir einen jungen Burschen aus der Gegend, der mit einem Brief in der Hand dahergerannt kam. Dieser trug den Stempel des Gasthofes, den wir soeben verlassen hatten, und war vom Wirt an mich gerichtet. Es schien wenige Minuten nach unserem Weggang eine Engländerin im letzten Stadium der Schwindsucht dort eingetroffen zu sein. Dieselbe hatte den Winter in Davos zugebracht und war nun, auf dem Weg nach Luzern, wo sie mit Bekannten zusammentreffen wollte, plötzlich von einem Blutsturz befallen worden. Sie habe zwar aller Wahrscheinlichkeit nach nur noch wenige Stunden zu leben, aber es würde ihr doch ein großer Trost sein, wenn sie einen englischen Arzt bei sich sehen könnte, ich möchte doch zurückkommen usw. In einer Nachschrift versicherte mir der gute Mann noch besonders, wie er die Erfüllung seines Wunsches als eine sehr große persönliche Gefälligkeit ihm gegenüber ansehen würde, denn die Fremde wolle durchaus keinen Schweizer Arzt, und er sehe sich infolgedessen in eine recht verantwortungsvolle Lage versetzt.
Dieses Ansuchen ließ sich nicht abweisen; ich konnte doch einer Landsmännin, die in einem fremden Land im Sterben lag, ihre Bitte nicht abschlagen, doch machte ich mir auch wieder darüber Gedanken, dass ich Holmes allein lassen sollte. Schließlich einigten wir uns doch dahin, dass er den Burschen als Führer bei sich behalten sollte, während ich nach Meiringen zurückkehrte. Holmes wollte, so sagte er, noch einige Zeit an dem Wasserfall verweilen und dann langsam über den Berg hinüber nach Rosenlaui wandern, wo ich ihn am Abend wieder treffen sollte. Im Weggehen sah ich noch, wie Holmes an die Felswand gelehnt mit gekreuzten Armen dastand und in den Wasserfall hinabschaute. Es war nach des Schicksals Willen das letzte Mal, dass ich ihn sah. Beinahe unten im Tal angekommen, wandte ich mich noch einmal zurück. Den Fall konnte ich von dieser Stelle aus nicht erblicken, wohl aber den Pfad, der sich über den Bergrücken zu demselben hinauf windet. Auf diesem Pfad sah ich, wie mir erst wieder einfällt, einen Mann rasch emporschreiten. Seine schwarze Gestalt hob sich deutlich von dem Grün hinter ihm ab. Seine Erscheinung ebenso wie sein eiliger Schritt waren mir aufgefallen, allein bei der Hast, mit der ich meinem Ziel zustrebte, entschwanden mir diese Umstände aus der Erinnerung.
Ich mag etwas über eine Stunde bis Meiringen gebraucht haben. Der alte Steiler stand unter dem Torbogen seines Hauses.
»Es geht ihr hoffentlich nicht schlechter«, rief ich ihm, noch in eiligem Lauf, entgegen. Ein Ausdruck des Erstaunens überflog seine Züge, und schon beim ersten Zucken seiner Augenbrauen fiel es mir zentnerschwer aufs Herz.
»Ist das nicht von Ihrer Hand?«, fragte ich ihn, indem ich den Brief aus der Tasche zog. »Liegt keine Engländerin krank hier im Haus?«
»Davon weiß ich nichts!«, rief er aus. »Auf dem Brief ist freilich der Hotelstempel! Ha! Das muss der große Engländer geschrieben haben, der nach Ihrem Weggang eintraf. Er sagte ...«
Doch ich wartete die weiteren Enthüllungen des Alten nicht ab. Bebend vor Angst rannte ich bereits wieder die Straße hinab und weiter auf dem Weg, den ich soeben erst zurückgelegt hatte. Herunter hatte ich eine Stunde gebraucht; so sehr ich mich anstrengte, es dauerte zwei gute Stunden, bis ich wieder an dem Wasserfall eintraf.
Da lehnte Holmes’ Alpenstock noch an demselben Felsen, wo ich ihn verlassen hatte. Aber von ihm selbst nirgends eine Spur. Mein Rufen blieb vergeblich; nur von den Felswänden ringsum tönte mir in hundertfältigem Widerhall der Klang meiner eigenen Stimme zurück.
Beim Anblick des Alpenstockes überlief es mich eiskalt. Er war also nicht nach Rosenlaui gegangen. Er war auf dem drei Fuß breiten Pfad geblieben, links die himmelhohe Felswand, rechts den gähnenden Abgrund neben sich, bis sein Feind ihn eingeholt hatte. Der junge Schweizer war gleichfalls verschwunden. Dieser stand vermutlich in Moriartys Sold und hatte die beiden miteinander allein gelassen. Und was war dann geschehen? Wer sollte uns das sagen? Einige Augenblicke hielt ich an, denn ich war vor Schreck völlig betäubt. Dann kam mir allmählich die Erinnerung wieder an die Methode, nach der Holmes in solchen Fällen zu verfahren pflegte, und mit Hilfe derselben wollte ich nun den Versuch machen, mir über den erschütternden Vorfall Klarheit zu verschaffen. Es war – ach! – nur zu leicht. Holmes’ Gebirgsstock lehnte noch an derselben Stelle, wo wir auf dem schmalen Pfad im Gespräch Halt gemacht hatten. Der unaufhörlich heraufsprühende Wasserstaub erhält den schwärzlichen Grund des Pfades stets weich, sodass sich jede leiseste Spur darin abdrückt. Eine doppelte Reihe von Fußstapfen lief auf dem Pfad ganz deutlich wahrnehmbar in der Richtung gegen dessen hinteres Ende hin. Zurück führte keine Fußspur. Wenige Meter vor dem Ausgang des Pfades war dieser gänzlich aufgewühlt und in eine Schmutzlache verwandelt, und die Brombeersträucher und Farne am Saum des Abgrundes waren zertreten und beschmutzt. Auf dem Gesicht liegend, spähte ich hinab in den Wasserstaub, der mich von allen Seiten umsprühte. Es war seit meinem Aufbruch allmählich dunkel geworden, und so war ich jetzt nur noch imstande, den Schimmer der Feuchtigkeit auf den schwarzen Felswänden und weit unten am Ausgang der Schlucht das Aufspritzen der Sturzwellen zu unterscheiden. Abermals rief ich; aber nichts traf mein Ohr als wiederum jener einem menschlichen Schrei ähnelnde Klang des Wasserfalls.
Allein es war mir doch vom Schicksal bestimmt, noch einen letzten Gruß von meinem Freund und Gefährten zu erhalten.
Wie schon erwähnt, lehnte Holmes’ Alpenstock noch an einem der über den Pfad hereinragenden Felsen. Vom oberen Rand des letzteren schimmerte mir etwas Helles entgegen; ich griff danach und fand, dass es die silberne Zigarettendose war, die Holmes stets bei sich trug. Als ich dieselbe aufhob, flatterten einige Papierblättchen zu Boden. Es zeigte sich, dass es drei von Holmes beschriebene für mich bestimmte Blätter aus seinem Notizbuch waren. Ganz bezeichnenderweise waren die Züge so gerade, fest und deutlich, als hätte Holmes sie an seinem Schreibtisch niedergeschrieben.
»Mein lieber Watson«, lauteten die Worte, »im Begriff, mit Professor Moriarty zu einer endgültigen Auseinandersetzung über die zwischen uns schwebenden Fragen zu kommen, benütze ich die mir von ihm freundlichst gewährte Erlaubnis, zuvor noch diese wenigen Zeilen an Sie zu richten.
Ich habe soeben von ihm kurzen Aufschluss darüber erhalten, wie er es angriff, um sich einerseits dem Auge der Polizei zu entziehen, andererseits sich über jede Bewegung von uns auf dem Laufenden zu halten. Meine hohe Meinung von seinen Geistesfähigkeiten hat dadurch lediglich die weitgehendste Bestätigung gefunden. Ich darf mich der frohen Hoffnung hingeben, dass es mir gelingen werde, seinem ferneren Treiben ein Ziel zu setzen, nur leider um einen Preis, der allen, die mir nahestehen, und besonders Ihnen, mein lieber Watson, schmerzlich sein wird. Wie ich Ihnen übrigens bereits erklärt habe, musste es mit meiner Tätigkeit unter allen Umständen zu einer entscheidenden Wendung kommen, und der Abschluss, den dieselbe nunmehr findet, entspricht völlig meinen Wünschen. Ich gestehe Ihnen ganz offen, dass ich den Schwindel mit dem Brief aus Meiringen sofort durchschaute und mich mit der festen Überzeugung von Ihnen verabschiedete, dass etwas der Art daraus erfolgen werde. Dem Inspektor Patterson lasse ich mitteilen, dass die Akten, deren er zur Überführung der Verbrecherbande bedarf, sich in dem Fach M in einem blauen Umschlag mit der Aufschrift ›Moriarty‹ befinden. Über mein Vermögen habe ich vor meiner Abreise von zu Hause umfassende Verfügung getroffen und solche meinem Bruder eingehändigt. Mit der Bitte, Ihrer Gattin meine Grüße zu bestellen, verbleibe ich, werter Freund, in aufrichtigster Anhänglichkeit
Ihr
Sherlock Holmes.«
Ich habe dem Erzählten nur noch wenige Worte beizufügen. Nach dem von sachgemäßer Seite eingenommenen Augenschein ist fast als sicher anzunehmen, dass die beiden bei ihrem Wortstreit schließlich handgemein wurden und – wie es unter den gegebenen Verhältnissen sich ja kaum anders denken lässt – in gegenseitiger Umschlingung zusammen in den Abgrund stürzten. Jeder Versuch, die Leichname auffinden zu wollen, hätte schlechterdings hoffnungslos bleiben müssen; und so ruhen denn tief unten in dem schauerlichen Kessel inmitten der tosenden Sturzwellen und des kochenden Gischtes für immerdar Seite an Seite der gefährlichste Verbrecher und der kühnste Vorkämpfer des Rechtes. Der Bauernbursche war auf keine Weise zu ermitteln; ganz zweifellos gehörte derselbe zu den zahlreichen Helfershelfern, die Moriarty in seinem Sold hatte. Was die Verbrecherbande betrifft, wird es wohl noch in jedermanns Erinnerung sein, wie durch das von Holmes aufgehäufte Beweismaterial deren Organisation völlig aufgedeckt worden ist, und wie schwer die Hand meines Freundes noch nach seinem Tod auf den Schuldigen lastete. Über den Ruchlosen, der an ihrer Spitze stand, brachte die Gerichtsverhandlung nur wenige Einzelheiten ans Licht, und wenn ich mich genötigt gesehen habe, sein Treiben so genau als möglich darzulegen, haben den Anlass dazu nur seine unverständigen Verteidiger gegeben, welche zur Rettung der Ehre jenes Elenden ihre Angriffe gegen den richten zu sollen glaubten, der in meiner Erinnerung stets als der edelste und begabteste aller Menschen fortleben wird, mit dem mich das Leben jemals in Berührung gebracht hat.