Er hatte einen Schrei ausgestoßen und sich über den Leichnam gebeugt. Auf einmal sprang er im Kreis herum und lachte und schüttelte meine Hand. Konnte dies mein ernster, in sich selbst verschlossener Freund sein? Ja, ja, man kann wohl von verborgenen Feuern reden!

»Ein Bart! Ein Bart! Der Mann hat einen Bart!«

»Einen Bart?«

»Es ist nicht der Baronet – es ist – ja, wahrhaftig, es ist mein Nachbar, der Sträfling!«

In fieberischer Hast hatten wir den Leichnam auf den Rücken gelegt, und der zottige Bart starrte in der Tat zum kalten, klaren Mond empor! Ein Zweifel war nicht möglich – die vorspringende Stirn – die eingesunkenen tierischen Augen –, ja, es war dasselbe Antlitz, das mich im Licht der Kerze hinter dem Felsen her angestarrt hatte – es war der Verbrecher Selden!

Und in einem Augenblick war mir alles klar. Ich erinnerte mich, dass der Baronet mir erzählt hatte, er hätte Barrymore seine alten Kleider überlassen. Barrymore hatte sie an Selden weitergegeben, um diesem bei seiner Flucht behilflich zu sein. Stiefel, Hemd, Mütze – alles hatte früher Sir Henry gehört. Die Tragödie war immer noch furchtbar genug, aber dieser Mann hatte doch wenigstens nach den Gesetzen seines Landes den Tod verdient. Ich setzte Holmes den Zusammenhang auseinander, und mein Herz schlug hoch in Freude und Dankbarkeit.

»Da sind Sir Henrys Kleider des armen Kerls Verhängnis geworden!«, rief Holmes. »Es ist ganz klar, dass der Hund auf irgendeinen von Sir Henry getragenen Gegenstand abgerichtet ist – aller Wahrscheinlichkeit nach auf den im Hotel abhanden gekommenen Schuh; so hat er denn diesen Mann zu Tode gehetzt. Ein sehr sonderbarer Umstand ist jedoch noch vorhanden: woher wusste Selden in der Dunkelheit, dass der Hund auf seiner Spur war?«

»Er hörte ihn.«

»Wenn ein hartgesottener Verbrecher wie dieser Zuchthäusler einen Hund auf dem Moor hört, bringt ihn das nicht in einen solchen Paroxysmus des Entsetzens, dass er auf die Gefahr hin, wieder ergriffen zu werden, wild um Hilfe schreit! Nach den Schreien zu urteilen, die wir gehört haben, muss er ein weites Stück Weges gerannt sein, nachdem er gemerkt hatte, dass das Tier ihn verfolgte. Woher wusste er es?«

»Für mich ist es ein größeres Geheimnis, warum dieser Hund – vorausgesetzt, alle unsere Mutmaßungen seien richtig …«

»Ich setze nichts voraus.«

»Nun … also, warum dieser Hund nachts frei auf dem Moor herumläuft? Ich vermute, dass er nicht beständig losgelassen ist. Stapleton würde die Bestie nicht freilassen, wenn er nicht Grund zu der Annahme hätte, dass Sir Henry sich auf dem Moor befindet.«

»Von diesen beiden Schwierigkeiten ist die meinige bei Weitem die furchtbarere – denn die Ihre wird sich, glaube ich, sehr bald aufklären, die meinige dagegen bleibt vielleicht für ewig ein Geheimnis … Die Frage ist jetzt: Was sollen wir mit dem Leichnam dieses armen Schelms nun anfangen? Wir können ihn nicht hier liegen lassen als Fraß für Füchse und Krähen.«

»Ich schlage vor, wir schaffen ihn in eine von den Steinhütten, bis wir der Polizei Anzeige machen können.«

»Sehr gut. Ich bezweifle nicht, dass wir beide zusammen ihn ganz gut so weit tragen können…. Hallo, Watson, was ist das? Es ist der Mann selber … Das nenne ich aber wahrhaftig eine geradezu großartige Frechheit! Lassen Sie mit keinem Wort Ihren Verdacht merken – mit keinem Wort, sonst brechen alle meine Pläne in sich zusammen!«

Eine Gestalt kam über das Moor her auf uns zu, und ich sah das düsterrote Glühen einer Zigarre. Das Mondlicht fiel auf ihn und ich konnte die schmächtige Gestalt und den flinken Schritt des Naturforschers erkennen. Als er uns sah, blieb er stehen; dann kam er auf uns zu und rief:

»Wahrhaftig – Doktor Watson – das können Sie doch nicht sein! Sie sind der Letzte, den ich um diese Nachtzeit draußen auf dem Moor zu sehen erwartet hätte! Aber … mein Gott, was ist denn dies? Jemand verunglückt? Doch nicht … um Gottes willen, sagen Sie mir nicht, dass es Sir Henry ist!«

Er sprang an mir vorbei und beugte sich über den Toten. Ich hörte, wie er einen gepressten Atemzug tat, und die Zigarre entfiel seiner Hand.

»Wer – wer ist das?«, stammelte er.

»Es ist Selden, der Zuchthäusler, der von Princetown entsprungen war.«

Stapletons Antlitz, das er uns zuwandte, war totenbleich, aber mit einer gewaltigen Willensanstrengung hatte er seine Bestürzung und Enttäuschung niedergekämpft. Er sah mit einem scharfen Blick erst Holmes und dann mich an und sagte endlich:

»Donnerwetter! Das ist ja ’ne ganz fürchterliche Geschichte! Wie kam er zu Tode?«

»Er scheint das Genick gebrochen zu haben, indem er von dem Felsen da abstürzte. Mein Freund und ich schlenderten über das Moor, als wir einen Schrei hörten.«

»Ich hörte ebenfalls einen Schrei. Und deshalb eben ging ich aus. Ich war in Besorgnis wegen Sir Henry.«

»Warum denn gerade wegen Sir Henry?«, fragte ich unwillkürlich.

»Weil ich ihm vorgeschlagen hatte, zu uns herüberzukommen. Als er nicht kam, war ich überrascht, und natürlich hatte ich seinetwegen Angst, als ich Schreie auf dem Moor hörte. Übrigens« – und damit wanderten wieder seine stechenden Augen von meinem Gesicht zu Holmes – »hörten Sie nichts außer einem Schrei?«

»Nein«, antwortete Holmes. »Hörten Sie was?«

»Nein.«

»Was wollen Sie denn mit Ihrer Frage bezwecken?«

»Oh, wissen Sie, das Landvolk erzählt sich allerlei Geschichten von einem Geisterhund etc. Er soll sich nachts auf dem Moor hören lassen. Ich dachte bei mir selber, ob wohl heute Nacht etwas von einem solchen Hund zu sehen oder zu hören gewesen wäre.«

»Wir hörten nichts Derartiges«, antwortete ich.

»Und welcher Ansicht sind Sie in Bezug auf den Tod dieses armen Kerls?«

»Ich bezweifle nicht, dass Angst und Gefahr ihn um seinen Verstand gebracht haben. Er ist in einem Anfall von Verfolgungswahnsinn über das Moor gerannt, ist schließlich hier abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«

»Das scheint die einleuchtendste Erklärung«, sagte Stapleton mit einem Seufzer, der nach meiner Ansicht ein Seufzer der Erleichterung war. »Was ist Ihre Ansicht darüber, Mr Sherlock Holmes?«

»Ich sehe, Sie sind schnell im Erkennen!«, sagte mein Freund mit einer Verbeugung.

»Wir haben seit Doktor Watsons Ankunft erwartet, dass auch Sie in diese Gegend kommen würden. Sie kommen gerade recht, um eine Tragödie zu sehen.«

»Ja, da haben Sie recht. Ich bezweifle nicht, dass meines Freundes Erklärung sich mit den Tatsachen deckt. Ich werde morgen eine unangenehme Erinnerung mit mir nach London zurücknehmen.«

»Oh, Sie fahren morgen zurück?«

»Das ist meine Absicht.«

»Ich hoffe, Ihr Besuch hat einiges Licht in jene Begebenheiten hineingebracht, deren Rätselhaftigkeit uns so sehr in Sorgen gesetzt hat.«

Holmes zuckte die Achseln und erwiderte:

»Man kann nicht jedes Mal den erhofften Erfolg haben. Zu einer Nachforschung braucht man Tatsachen und nicht Märchen oder Gerüchte. Der Fall hat sich nicht als ein zufriedenstellender erwiesen.«

Mein Freund sprach in seiner offensten und freimütigsten Weise. Stapleton sah ihn mit einem scharfen Blick an; dann wandte er sich zu mir:

»Ich würde vorschlagen, dass wir den armen Mann zu meinem Haus schaffen, aber das würde meine Schwester so in Angst setzen, dass ich mich nicht dazu berechtigt glaube. Ich glaube, wenn wir ihm etwas über sein Gesicht decken, wird er bis morgen unversehrt liegen bleiben.«

Dieser Vorschlag wurde ausgeführt. Stapletons Einladung, die Gastfreundschaft seines Hauses zu benutzen, lehnten wir ab, und Holmes und ich machten uns auf den Weg nach Baskerville Hall, während der Naturforscher allein zu seinem Haus zurückging. Als wir uns einmal umwandten, sahen wir seine Gestalt langsam über das weite Moor hingehen, und hinter ihm auf dem mondhellen Abhang lag der schwarze Fleck – die Todesstätte des Mannes, der ein so grausiges Ende gefunden.

»Endlich ringen wir also Leib an Leib!«, sagte Holmes, als wir zusammen quer über das Moor gingen. »Was für Nerven der Bursche hat! Wie er sich zusammenraffte trotz des lähmenden Schrecks, den er empfunden haben muss, als er plötzlich sah, dass der verkehrte Mann seinem Anschlag zum Opfer gefallen war. Ich sagte Ihnen in London schon, Watson, und ich sag’s Ihnen hier noch einmal: Niemals haben wir einen Gegner gehabt, der unserer Klinge würdiger war.«

»Es tut mir leid, dass er Sie gesehen hat.«

»Mir war es anfangs ebenfalls unangenehm. Aber dagegen ließ sich nun mal nichts machen.«

»Da er nun also weiß, dass Sie hier sind – welchen Einfluss wird das Ihrer Meinung nach auf seine Pläne haben?«

»Vielleicht veranlasst es ihn zu größerer Vorsicht – vielleicht treibt es ihn aber auch sofort zu verzweifelten Maßnahmen. Wie die meisten klugen Verbrecher vertraut er möglicherweise zu sehr auf seine eigene Klugheit und bildet sich ein, dass er uns vollständig hinters Licht geführt hat.«

»Warum sollen wir ihn denn nicht auf der Stelle festnehmen?«

»Mein lieber Watson, Sie sind ein geborener Mann der Tat! Ihr Instinkt treibt Sie stets dazu, irgendetwas Energisches zu tun. Aber setzen wir einmal – nur beispielsweise – den Fall, wir ließen ihn noch in dieser Nacht festnehmen –, was in aller Welt würde uns das nützen? Wir könnten nichts gegen ihn beweisen! Das ist eben die teuflische Schlauheit seines Verbrechens! Wenn er sich eines Menschen als Werkzeug bediente, könnten wir auf ein Zeugnis von diesem rechnen, aber wenn wir diesen großen Hund ans Tageslicht ziehen, genügt das noch lange nicht, um seinem Herrn den Strick um den Hals zu legen.«

»Aber es liegt doch ganz ohne Frage ein Fall vor, der reif fürs Gericht ist!«

»Keine Ahnung! Alles ist nur Voraussetzung und Mutmaßung. Wir würden vom Gericht ausgelacht werden, wenn wir mit einer solchen Geschichte und mit derartigen Beweisen zum Vorschein kämen.«

»Aber Sir Charles’ Tod?«

»Tot aufgefunden ohne Zeichen von Gewalttat an seinem Körper. Sie und ich, wir wissen, dass er durch Angst starb, und wir wissen, was ihm solche Angst einjagte. Aber wie sollen wir unsere Überzeugung zwölf beschränkten Geschworenen beibringen? Was für Spuren sind vorhanden, die auf einen Hund deuten? Wo sind die Spuren seiner Fangzähne? Wir natürlich, wir wissen, dass ein Hund keinen Leichnam beißt, und dass Sir Charles tot war, ehe die Bestie ihn einholte. Aber wir müssen dies alles beweisen, und wir sind nicht in der Lage, dies zu tun.«

»Dann aber der Vorfall von heute Abend?«

»Der nützt uns auch nicht viel mehr. Wiederum war kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Hund und dem Tod des Mannes vorhanden. Wir haben den Hund niemals gesehen. Wir hörten ihn; aber wir könnten nicht beweisen, dass er den Mann verfolgte. Beweggründe des Verbrechens fehlen gänzlich. Nein, werter Freund – wir müssen uns mit der Tatsache aussöhnen, dass wir augenblicklich noch keine Sache haben, die fürs Gericht reif ist, und dass wir daher alles wagen müssen, um uns das Beweismaterial zu beschaffen.«

»Und was gedenken Sie zu diesem Zweck zu tun?«

»Ich setze große Hoffnungen darauf, dass Mrs Laura Lyons uns ihren Beistand leiht, wenn der Stand der Dinge ihr klar gemacht wird. Und außerdem habe ich noch meinen eigenen Plan. Für morgen haben wir also genug Wichtiges vor; aber ich hoffe, ehe der Tag zur Rüste geht, wird der Sieg endlich mein sein!«

Ich konnte nichts weiter aus ihm herausbringen, und er wanderte, in Gedanken versunken, an meiner Seite bis ans Tor von Baskerville Hall.

»Kommen Sie mit herauf?«

»Ja; ich sehe keinen Grund, warum ich mich noch länger verstecken sollte. Aber noch ein Wort, Watson! Sagen Sie zu Sir Henry nichts von dem Hund. Lassen Sie ihn Seldens Tod der Ursache zuschreiben, die Stapleton uns einreden wollte. Er wird stärkere Nerven haben für die Probe, die ihm morgen bevorsteht – denn wenn ich mich Ihres Berichtes entsinne, soll er ja morgen bei den Leuten speisen.«

»Ja; und ich ebenfalls.«

»Dann müssen Sie sich entschuldigen, und er muss allein gehen. Das wird sich ja leicht machen lassen. Und nun – wir sind zwar um unser Mittagessen gekommen, aber das Nachtessen wollen wir uns jetzt recht schmecken lassen.«

DREIZEHNTES KAPITEL

Sir Henry war sehr erstaunt, als er plötzlich in dunkler Nacht Sherlock Holmes sein Haus betreten sah. An und für sich überraschte ihn dessen Ankunft keineswegs, denn er hatte bereits seit einigen Tagen erwartet, dass die letzten Ereignisse ihn veranlassen würden, von London abzureisen. Nur machte er ein ziemlich verwundertes Gesicht, als er bemerkte, dass Holmes ohne jedes Gepäck ankam und nicht einmal versuchte, diesen eigentümlichen Umstand zu erklären. Sir Henry und ich halfen meinem Freund mit unseren Sachen aus, sodass er im Gesellschaftsanzug im Speisesaal erscheinen konnte. Während des Essens teilten wir dem Baronet von den Ereignissen des Tages so viel mit, wie uns gut schien. Vorher aber hatte ich noch die schmerzliche Pflicht zu erfüllen gehabt, Barrymore und seiner Frau die Nachricht von Seldens plötzlichem Tod beizubringen. Der Mann empfand dabei gewiss nichts als Erleichterung, die Frau aber weinte bitterlich in ihre Schürze hinein – für alle anderen war Selden der gesetzlose Totschläger und Mörder, aber für sie blieb er immer der lustige kleine Junge, der mit seinen Kinderfäustchen sich an die Hand der großen Schwester angeklammert hatte.

»Ich habe mich seit Watsons zeitiger Abfahrt den ganzen Tag im Haus herumgemopst«, bemerkte der Baronet, »und ich verdiene wohl ein großes Lob dafür, denn ich habe mein Versprechen gehalten. Hätte ich nicht mein Wort gegeben, dass ich nicht allein ausgehen würde, hätte ich wohl einen interessanten Abend haben können, denn Stapleton schickte mir eine Einladung zu, ich möchte doch ein bisschen herüberkommen.«

»Ich zweifle nicht im Geringsten, dass Sie sogar einen sehr interessanten Abend gehabt haben würden«, sagte Holmes trocken. »Doch was ich sagen wollte – Sie haben wohl keine Ahnung, dass wir Sie bereits als Leiche mit gebrochenem Genick betrauerten?«

Sir Henry riss vor Erstaunen die Augen auf und rief:

»Wieso denn?«

»Der arme Kerl hatte Ihre Kleider an. Ich fürchte, Ihr Diener, der sie ihm geschenkt hat, kann deshalb Ungelegenheiten mit der Polizei kriegen.«

»Doch wohl kaum. Soviel ich weiß, war kein einziges von den Kleidungsstücken gezeichnet.«

»Das ist ein Glück für ihn – und nicht nur für ihn allein, sondern für Sie alle; denn Sie alle haben sich bei dieser Angelegenheit gegen Recht und Gesetz vergangen. Ich weiß nicht, ob ich nicht als gewissenhafter Detektiv vor allen Dingen die Pflicht hätte, sämtliche Hausbewohner zu verhaften. Watsons Berichte sind im höchsten Grad belastend.«

»Aber wie steht’s denn mit unserem Fall?«, fragte Sir Henry. »Haben Sie die Fäden einigermaßen entwirren können? Watson und ich sind durch unseren Aufenthalt hier nicht viel klüger geworden.«

»Ich werde vermutlich binnen sehr kurzer Zeit imstande sein, Ihnen die Situation ziemlich klar zu machen. Der Fall war außerordentlich schwierig und sehr verwickelt. Auch jetzt noch sind verschiedene Punkte da, die der Aufklärung bedürfen – indessen auch diese werden wir erhalten.«

»Wie Watson Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt hat, hatten wir zum mindesten ein sehr wichtiges Erlebnis. Wir hörten den Hund auf dem Moor; ich kann also darauf schwören, dass nicht alles leere Einbildung ist. Na, ich habe drüben im Wilden Westen ziemlich viel mit Hunden zu tun gehabt und kann einen beurteilen, wenn ich ihn bellen höre. Und wenn Sie dem da einen Maulkorb und eine Kette anlegen können, will ich vor aller Welt laut erklären, dass Sie der größte Detektiv aller Zeiten sind!«

»Nun, ich glaube, ich werde dem Hund nach allen Regeln der Kunst Maulkorb und Kette anlegen können, wenn Sie mir dabei helfen wollen.«

»Ich will alles tun, was Sie mir auch sagen mögen.«

»Vortrefflich! Und ich möchte Sie zugleich bitten, es blindlings zu tun, ohne auch nur eine Frage zu stellen.«

»Ganz, wie Sie wünschen.«

»Wenn Sie das tun wollen, haben wir, glaube ich, alle Aussicht, unser kleines Problem gelöst zu sehen. Ich zweifele keinen Augen…«

Plötzlich schwieg Holmes und starrte über mich hinweg vor sich hin. Das volle Lampenlicht fiel auf sein scharf geschnittenes Gesicht, dessen zu höchster Aufmerksamkeit angespannte Züge an ein klassisches Bildwerk, eine Verkörperung wachsamer Erwartung erinnerten.

»Was gibt’s?«, riefen Sir Henry und ich wie aus einem Mund.

Ich konnte sehen, dass Holmes, als er seine Augen wieder senkte, eine innere Aufregung niederkämpfte. Seine Züge behielten ihren ruhigen Ausdruck, aber aus seinen Augen funkelte eine wilde Freude.

»Entschuldigen Sie, wenn ein Kunstliebhaber sich von seiner Bewunderung hinreißen ließ«, sagte er, mit einer Handbewegung auf die an der gegenüberliegenden Wand hängende Reihe von Bildnissen hindeutend. »Watson behauptet allerdings, ich verstände von Kunst nicht das Allergeringste, aber das ist die reine Eifersucht, weil meine Ansichten darüber von den seinigen abweichen. Dies hier ist aber wirklich eine ganze Sammlung von sehr schönen Bildnissen.«

»So? Na, das höre ich mit Vergnügen«, sagte Sir Henry, indem er meinen Freund mit einiger Überraschung ansah. »Ich kann mich nicht für einen großen Kenner in diesen Dingen ausgeben und verstehe jedenfalls mehr von einem Pferd oder Stier als von einem Gemälde. Ich dachte nicht, dass Sie auch für die Beschäftigung mit Kunstsachen Zeit gefunden hätten!«

»Wenn ich ein Bild sehe, weiß ich, ob es gut ist oder nicht, und diese hier sind gut! Ich will wetten, die Dame da in der Ecke in dem blauen Seidenkleid ist ein Kneller und der dicke Herr mit der Perücke muss von Reynolds gemalt sein. Es sind wohl lauter Familienbilder?«

»Ohne Ausnahme.«

»Wissen Sie die Namen der gemalten Personen?«

»Barrymore hat mich darauf eingepaukt, und ich glaube, ich kann meine Lektion ziemlich gut hersagen.«

»Wer ist der alte Herr mit dem Fernrohr?«

»Das ist Kontreadmiral Baskerville, der unter Nodney in Westindien diente. Der Mann im blauen Frack mit der Papierrolle ist Sir William Baskerville, zu Pitts Zeiten eines der hervorragendsten Mitglieder des Unterhauses.«

»Und der Kavalier gerade meinem Platz gegenüber – der in dem schwarzen Sammetrock mit Spitzenkragen?«

»Ah! Ich glaube wohl, dass der Sie interessiert! Das ist der Urheber alles Unheils, der verruchte Hugo, dem die Baskervilles ihren Geisterhund verdanken. Den Mann werden wir wohl schwerlich je wieder vergessen.«

Ich drehte mich neugierig und ziemlich überrascht nach dem Bild um.

»Ei, sehen Sie!«, rief Holmes. »Er sieht ja ganz ruhig und sanftmütig aus, aber in den Augen scheint allerdings etwas Teuflisches zu lauern. Ich hatte mir unter Sir Hugo einen kräftigeren Mann und wilderen Burschen vorgestellt!«

»Dass das Bild ihn wirklich darstellt, unterliegt keinem Zweifel, denn die Rückseite der Leinwand trägt seinen vollen Namen und die Jahreszahl 1647.«

Holmes sagte nicht viel mehr während des Essens, aber das Bild des Wüstlings schien eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn auszuüben, und er hielt beständig seine Augen darauf geheftet. Erst später, nachdem Sir Henry sich auf sein Zimmer begeben hatte, wurde meines Freundes Gedankengang mir klar. Er führte mich, die Kerze in der Hand haltend, noch einmal in den Speisesaal zurück und beleuchtete das vom Alter dunkel gewordene Porträt an der Wand.

»Sehen Sie sich mal das Bild an. Fällt Ihnen nicht etwas daran auf?«

Ich betrachtete genau den breitkrempigen Federhut, die langen Locken, den Spitzenkragen und das dazwischen eingeschlossene, langgezogene ernste Antlitz. Der Gesichtsausdruck war nicht brutal, aber spöttisch, hart und grausam; die dünnen Lippen waren fest aufeinandergepresst, die Augen blickten kalt und herrschsüchtig.

»Erinnert das Bild Sie an einen, den Sie kennen?«, fragte Holmes mich.

»Die Kinnlade erinnert etwas an Sir Henry.«

»Hm – ein ganz kleines bisschen vielleicht. Aber warten Sie mal einen Augenblick.« Er stieg auf einen Stuhl und verdeckte mit dem gekrümmten rechten Arm den Schlapphut und die Ringellocken, während er mit der Linken die Kerze näher an das Bild hielt.

»Himmlische Güte!«, rief ich erstaunt. Aus der Leinwand starrte mir Stapletons Antlitz entgegen!

»Aha, jetzt sehen Sie es auch! Ich habe meine Augen darauf geübt, bei einem Gesicht die Züge zu sehen und nicht das Drum und Dran. Wer Verbrechen aufspüren will, muss vor allen Dingen eine Verkleidung durchschauen können.«

»Aber dies ist ja eine geradezu wunderbare Ähnlichkeit! Man könnte meinen, es sei Stapletons Porträt!«

»Ja, es ist ein interessantes Beispiel der Wiederholungen, die die Natur zuweilen liebt – und in diesem Fall scheinen nicht nur die körperlichen, sondern auch die Charaktereigenschaften jenes alten Baskerville wiedererstanden zu sein. Man braucht nur eine Sammlung von Familienbildnissen zu studieren, um sich sofort zur Vererbungstheorie zu bekehren. Der Bursche ist ein Baskerville – so viel ist klar und deutlich!«

»Und hat Absichten auf die Erbschaft?«

»Natürlich. Der zufällige Anblick dieses Bildes hat mir eines der wichtigsten, in der Kette meiner Beweise noch fehlenden Glieder geliefert. Wir haben ihn, Watson, wir haben ihn – und ich kann darauf schwören, dass er vor morgen Abend so hilflos in unserem Netz zappeln wird, wie einer von seinen geliebten Schmetterlingen! Eine Nadel, ein Stück Kork, ein Zettelchen – und da haben wir ihn in unserer Sammlung in der Baker Street!«

Mit diesen Worten wandte Holmes dem Bild den Rücken und brach in ein Gelächter aus; ich habe ihn selten laut lachen hören – und wenn er’s tat, bedeutete es für den, welchem sein Lachen galt, nichts Gutes. …

Am anderen Morgen stand ich früh auf, aber Holmes war doch noch zeitiger auf gewesen, denn als ich mich ankleidete, sah ich ihn den Fahrweg entlang auf das Schloss zukommen.

»Ja, ja, wir werden ein tüchtiges Tagewerk vor uns haben«, bemerkte er und rieb sich dabei voll Entzücken über diese Aussicht die Hände.

»Die Netze sind alle aufgespannt – der letzte Akt kann beginnen. Ehe der Tag zu Ende ist, werden wir wissen, ob wir unseren großen spitzschnäuzigen Hecht gefangen haben oder ob er uns durch die Maschen gegangen ist.«

»Sind Sie schon draußen auf dem Moor gewesen?«

»Ich habe von Grimpen einen Bericht über Seldens Tod nach Princetown geschickt. Ich glaube versprechen zu können, dass keiner von Ihnen in dieser Angelegenheit behelligt werden wird. Auch habe ich meinem treuen Cartwright Bescheid gegeben; der gute Junge hätte sich sonst gewiss auf die Schwelle meiner leeren Hütte gelegt, wie ein Hund, der auf dem Grab seines Herrn den Tod erwartet; deshalb musste ich ihn darüber beruhigen, dass ich gesund und munter bin.«

»Was haben wir jetzt zunächst zu tun?«

»Sir Henry aufzusuchen – ah, da ist er ja.«

»Guten Morgen, Holmes!«, rief der Baronet. »Sie sehen ja aus wie ein General, der mit seinem Generalstabschef den Plan einer Schlacht bespricht.«

»Der Vergleich ist sehr richtig. Watson wollte meine Befehle einholen.«

»Ich auch.«

»Sehr angenehm. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie für heute Abend bei Ihren Freunden!, den Stapletons, zu Tisch geladen?«

»Ich hoffe, Sie kommen auch mit. Es sind sehr nette Leute, und ich weiß bestimmt, dass es ihnen sehr lieb wäre, Sie ebenfalls zu sehen.«

»Ich fürchte, Watson und ich müssen nach London fahren.«

»Nach London?«

»Ja; ich glaube, so wie die Sachen jetzt liegen, können wir dort mehr von Nutzen sein.«

Des Baronets Gesicht wurde merklich länger.

»Ich hoffte«, sagte er nach einer kleinen Pause, »Sie würden mir zur Seite bleiben, bis der ganze Fall aufgeklärt ist. Baskerville Hall und das Moor sind nicht gerade ein angenehmer Aufenthalt, wenn man allein ist.«

»Mein lieber junger Freund, Sie müssen mir ohne Bedenken Vertrauen schenken und genau tun, was ich Ihnen sage. Erzählen Sie nur Ihren Freunden, wir wären sehr glücklich gewesen, wenn wir hätten mitkommen können, aber eine dringliche Angelegenheit hätte unsere Anwesenheit in der Stadt erfordert. Wir hofften sehr bald nach Devonshire zurückzukehren. Wollen Sie nicht vergessen, dies auszurichten?«

»Wenn Sie es durchaus wünschen …«

»Ich versichere Ihnen, es ist unbedingt notwendig.«

Ich sah an des Baronets finster zusammengezogenen Brauen, dass er unsere Abreise als Desertion ansah und dass ihn dies tief verletzte.

»Wann gedenken Sie zu reisen?«, fragte er endlich in kaltem Ton.

»Unmittelbar nach dem Frühstück. Wir fahren nach Coombe Tracey, aber Watson lässt seine Sachen hier; da haben Sie ein Pfand, dass er wiederkommt! Watson, Sie werden Stapleton eine Zeile schreiben, dass Sie zu Ihrem Bedauern nicht kommen können.«

»Ich habe große Lust, mit Ihnen nach London zu fahren«, sagte der Baronet. »Warum sollte ich eigentlich hier bleiben?«

»Weil hier Ihr Posten ist! Weil Sie mir Ihr Wort gaben, Sie würden tun, was ich Ihnen sagte. Und ich sage Ihnen, Sie müssen hier bleiben.«

»Also gut, ich bleibe.«

»Noch eins. Ich wünsche, dass Sie nach Merripit House fahren. Schicken Sie aber Ihr Wägelchen zurück, und sagen Sie den Stapletons, dass Sie beabsichtigen, zu Fuß nach Hause zu gehen.«

»Zu Fuß über das Moor?«

»Ja.«

»Aber gerade davor warnten Sie mich ja so oft!«

»Diesmal können Sie es in aller Sicherheit tun. Wenn ich nicht volles Vertrauen zu Ihren Nerven und zu Ihrem Mut hätte, würde ich Ihnen den Vorschlag nicht machen; aber es kommt alles darauf an, dass Sie zu Fuß übers Moor gehen.«

»Dann will ich’s tun!«

»Und wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist – gehen Sie keinen anderen Weg als den Fußpfad, der von Merripit House zur Grimpener Landstraße führt. Übrigens ist das der nächste Weg nach Baskerville Hall und darum auch der natürlichste.«

»Ich werde genau tun, was Sie mir sagen.«

»Sehr gut! Es wäre mir angenehm, so bald wie möglich nach dem Frühstück abzufahren, damit ich am Nachmittag in London sein kann.«

Ich war über Holmes Anordnungen sehr erstaunt, obwohl ich mich erinnerte, dass er am Abend vorher zu Stapleton gesagt hatte, sein Besuch würde nur bis zum Morgen dauern. Ich hatte aber nicht gedacht, dass er mich mit nach London nehmen würde, und vor allen Dingen konnte ich nicht begreifen, dass gerade in diesem Augenblick – dem kritischen, wie er selber sagte – wir uns alle beide entfernen sollten! Natürlich war aber nichts anderes zu tun, als ihm blindlings zu gehorchen; wir verabschiedeten uns also von unserem sehr verstimmten Freund, Sir Henry, und waren ein paar Stunden später auf dem Bahnhof von Coombe Tracey, von wo wir den Wagen nach Baskerville Hall zurückschickten. Ein kleiner Junge stand wartend auf dem Bahnhof und kam sofort auf Holmes zu, als er uns erblickte.

»Haben Sie was zu befehlen, Herr?«

»Du nimmst diesen Zug, Cartwright, und fährst nach London. Unmittelbar nach der Ankunft schickst du vom Bahnhof aus ein mit meinem Namen unterzeichnetes Telegramm an Sir Henry Baskerville: Wenn er das von mir verlorene Taschenbuch fände, möchte er es mit der Post eingeschrieben in meine Wohnung in der Baker Street schicken.«

»Jawohl, Herr!«

»Und frage hier auf dem Stationsbüro, ob nichts für mich angekommen sei.«

Der Junge kam mit einem Telegramm zurück, das Holmes mir hinreichte. Es lautete:

»Telegramm erhalten. Komme mit unausgefülltem Haftbefehl; treffe 4.45 Uhr ein. Lestrade.«

»Das ist die Antwort auf mein Telegramm von heute früh«, sagte Holmes. »Lestrade ist meiner Meinung nach der Beste von den Beamten der Geheimpolizei, und wir werden vielleicht seinen Beistand nötig haben. Und nun, Watson, können wir unsere Zeit wohl nicht besser anwenden, als wenn wir bei Ihrer Bekannten, Mrs Laura Lyons, einen Besuch machen.«

Sein Feldzugsplan begann mir jetzt klar zu werden. Durch den Baronet wollte er die Stapletons überzeugen, dass wir abgereist wären; in Wirklichkeit dagegen würden wir im Augenblick, wo unsere Anwesenheit notwendig wäre, zur Hand sein. Wenn Sir Henry den Stapletons gegenüber das aus London erhaltene Telegramm erwähnte, musste ihnen das den letzten etwa noch vorhandenen Verdacht benehmen. Mir war’s, als sähe ich bereits unsere Netze sich immer dichter um den spitzköpfigen Hecht zusammenschließen! …

Mrs Laura Lyons war in ihrem Arbeitszimmer, und Sherlock Holmes eröffnete das Gespräch mit einer Geradheit und Freimütigkeit, die sie ganz verblüfft machte.

»Ich beschäftige mich«, sagte er, »mit einer Untersuchung der Umstände, unter denen der Tod des seligen Sir Charles Baskerville erfolgt ist. Mein Freund hier, Herr Doktor Watson, hat mir mitgeteilt, welche Umstände Sie ihm erzählten und welche Sie ihm verschwiegen haben.«

»Was soll ich ihm verschwiegen haben?«, fragte sie herausfordernd.

»Sie haben eingeräumt, Sir Charles gebeten zu haben, er möchte Sie um zehn Uhr an der Pforte erwarten. Wir wissen, dass er um diese Stunde und an diesem Ort den Tod fand. Sie haben verschwiegen, welche Verbindung zwischen den beiden Umständen besteht.«

»Es besteht gar keine Verbindung.«

»In diesem Fall muss allerdings das Zusammentreffen ein ganz außerordentliches genannt werden. Aber ich glaube, wir werden den Zusammenhang doch noch feststellen. Ich möchte ganz offen gegen Sie sein, Mrs Lyons. Nach unserer Ansicht handelt es sich um einen Mord, und in die Untersuchung wird wahrscheinlich nicht nur Ihr Freund Mr Stapleton verwickelt werden, sondern vielleicht auch seine Frau.«

Die Dame sprang von ihrem Stuhl auf und rief:

»Seine Frau?«

»Diese Tatsache ist kein Geheimnis mehr. Die Person, die für seine Schwester galt, ist in Wirklichkeit seine Frau.«

Mrs Lyons hatte sich wieder gesetzt. Ihre Hände umfassten krampfhaft die Armlehnen des Stuhls – so krampfhaft, dass von dem Druck die rosigen Fingernägel weiß wurden.

»Seine Frau!«, wiederholte sie. »Seine Frau! Er war ja niemals verheiratet!«

Sherlock Holmes zuckte nur stumm die Achseln.

»Beweisen Sie’s mir! Beweisen Sie’s mir! Und wenn Sie das können …«

Der Blitz, der aus ihren Augen sprühte, sprach deutlicher als Worte.

»Ich war auf Ihr Verlangen gefasst und hatte mich deshalb auf diesen Besuch vorbereitet«, sagte Holmes. Dabei zog er mehrere Papiere aus der Tasche. »Hier ist eine Fotografie des Paares; sie ist vor vier Jahren in York aufgenommen worden. Auf der Rückseite steht: ›Mr und Mrs Vandeleur‹, aber Sie werden ihn ohne Schwierigkeiten erkennen und sie ebenfalls, wenn Sie sie von Ansehen kennen. Hier sind als Aussagen glaubwürdiger Zeugen die Beschreibungen des Aussehens von Mr und Mrs Vandeleur, die damals die Privatschule von St. Oliver leiteten. Lesen Sie sie und sagen Sie mir dann, ob Sie noch die Identität des Paares bezweifeln.«

Sie überflog die Schriftstücke und sah uns dann mit dem starren Gesicht eines verzweifelten Weibes an.

»Mr Holmes!«, rief sie endlich. »Dieser Mann hatte mir die Ehe versprochen, unter der Bedingung, dass ich meine Scheidung durchsetzen könnte. Er hat mich belogen, der Schurke – hat mich auf jede erdenkliche Weise belogen! Kein wahres Wort hat er mir gesagt. Und warum – warum? Ich bildete mir ein, alles geschehe um meinetwillen. Und nun sehe ich, dass ich immer nur ein Werkzeug in seiner Hand war. Warum sollte ich ihm Treue bewahren – er hat mich stets betrogen! Warum sollte ich von ihm die Folgen seiner verruchten Taten abzuwenden suchen? Fragen Sie mich nach allem, was Sie zu wissen wünschen – ich werde nichts, gar nichts verschweigen. Und eins schwöre ich Ihnen: Als ich jenen Brief schrieb, dachte ich nicht daran, dem alten Herrn, der stets mein großmütigster Freund gewesen war, irgendetwas zuleide tun zu wollen!«

»Davon bin ich vollkommen überzeugt, Madame«, antwortete Sherlock Holmes. »Die Erzählung der ganzen Vorgänge möchte sehr peinlich für Sie sein; vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich die verschiedenen Punkte angebe. Wenn ich dabei einen Irrtum begehe, können Sie mich berichtigen. Die Absendung des Briefes war Ihnen von Stapleton vorgeschlagen?«

»Er diktierte ihn mir.«

»Als Grund gab er vermutlich an, Sir Charles würde Ihnen mit einem Darlehen beistehen, um die Gerichtskosten Ihres Scheidungsprozesses decken zu können.«

»Ganz recht.«

»Als Sie dann den Brief abgesandt hatten, redete er Ihnen zu, Sie sollten lieber nicht hingehen?«

»Er sagte mir, es verwunde seinen Stolz, dass ein anderer das Geld zu einem solchen Zweck hergebe; er sei zwar selber ein armer Mann, aber er wolle den letzten Schilling hergeben, um die Hindernisse zu beseitigen, die uns trennten.«

»Er ist augenscheinlich ein sehr zielbewusster Charakter … Und dann hörten Sie nichts mehr, als bis Sie den Bericht über Sir Charles’ Tod in der Zeitung lasen?«

»Nein.«

»Und er ließ Sie schwören, dass Sie nichts von Ihrer Verabredung mit Sir Charles sagen wollten?«

»Ja. Er sagte, der Tod sei ein sehr geheimnisvoller, und ich würde sicherlich in Verdacht geraten, wenn von der Verabredung etwas bekannt würde. Er machte mir furchtbar bange – und ich blieb still.«

»So dachte ich’s mir. Aber Sie hatten einen gewissen Verdacht?«

Sie zögerte und schlug die Augen nieder. Nach einer Pause aber antwortete sie:

»Ich kannte ihn. Aber wenn er mir sein Wort gehalten hätte, würde ich ihm das meinige nie und nimmer gebrochen haben.«

»Ich glaube, Sie können von Glück sagen, dass Sie so davongekommen sind!«, rief Sherlock Holmes. »Sie haben ihn in Ihrer Gewalt gehabt; er wusste das – und Sie sind trotzdem noch am Leben. Sie sind monatelang dicht am Rande des Abgrundes entlang gegangen … Wir müssen nun gehen, Mrs Lyons. Wahrscheinlich werden Sie binnen ganz kurzer Zeit wieder von uns hören. Guten Morgen …«

»Unser Fall rundet sich immer mehr ab, und eine Schwierigkeit nach der anderen verschwindet vor uns«, sagte Holmes, als wir auf dem Bahnhof standen und den von London kommenden Schnellzug erwarteten. »Bald werde ich in der Lage sein, eine einfache, zusammenhängende Darstellung eines der seltsamsten und sensationellsten Verbrechen der Gegenwart zu geben. Wer sich speziell für Kriminalistik interessiert, wird sich des ähnlichen Falles erinnern, der sich im Jahr 1866 in Grodno in Klein-Russland zutrug. Außerdem natürlich der Anderson’schen Mordtaten in Nord-Carolina; aber unser Fall hier weist einige Züge auf, die in ihrer Art ganz einzig dastehen. Selbst jetzt haben wir noch keinen ganz klaren Beweis gegen diesen überaus verschlagenen Mann. Aber es sollte mich außerordentlich wundern, wenn nicht alles vollkommen aufgeklärt wäre, ehe wir heute Nacht zu Bett gehen.«

In diesem Augenblick kam der Londoner Schnellzug mit betäubendem Lärm herangebraust. Er hielt, und ein kleiner, stämmiger Mann mit einem Bulldoggengesicht sprang aus einem Abteil erster Klasse auf den Bahnsteig. Wir schüttelten uns alle drei die Hand, und ich sah sofort an der ehrerbietigen Art, wie Lestrade meinen Freund ansah, dass er seit unserem ersten Zusammenarbeiten mancherlei gelernt hatte. Ich erinnerte mich noch sehr gut des verächtlichen Spottes, womit der Mann der Praxis die Theorien des Grüblers abgetan hatte.

»Haben Sie was Gutes für mich?«, fragte der Beamte.

»Den großartigsten Fall, der seit Jahren vorgekommen ist!«, antwortete Holmes. »Wir haben zwei Stunden zu unserer freien Verfügung. Ich glaube, wir können sie nicht besser anwenden, als indem wir einen Bissen essen; und dann, Lestrade, sollen Sie den Londoner Nebel aus Ihrer Kehle los werden und dafür ein bisschen reine Nachtluft von Dartmoor einatmen. Sie waren noch niemals hier? Na, ich denke, Sie werden Ihren ersten Besuch schwerlich vergessen.«

VIERZEHNTES KAPITEL

Zu Sherlock Holmes’ Fehlern – vorausgesetzt, dass es überhaupt ein Fehler genannt werden kann – gehörte es, dass er eine große Abneigung dagegen hatte, von seinen Plänen etwas mitzuteilen, bevor der Augenblick der Ausführung dazu da war. Zum Teil beruhte dies unzweifelhaft auf der Überlegenheit seiner Natur: er liebte es, sich als Herrn und Meister zu zeigen und seine Umgebung zu überraschen. Zum anderen Teil aber lag es in der ihm angeborenen und in seinem Beruf noch mehr ausgebildeten Vorsicht; er wollte nichts auf unvorhergesehene Zufälle ankommen lassen. Sei dem wie ihm wolle – das Ergebnis war eine harte Geduldsprobe für seine Helfer und Mitarbeiter. Ich hatte schon oft darunter gelitten, aber niemals so sehr wie während unserer langen Fahrt in der Dunkelheit. Der große Schlag stand unmittelbar bevor, endlich sollte die Entscheidung fallen – und doch hatte Holmes noch kein Wort gesagt, und ich konnte mich nur in Vermutungen über das von uns einzuschlagende Verfahren ergehen. Meine Nerven waren fast bis zur Unerträglichkeit angespannt, als ich rechts und links von unserem schmalen Landweg düstere weite Flächen bemerkte und an dem mir ins Gesicht schlagenden kalten Wind erkannte, dass wir wieder auf dem Moor angelangt waren. Jeder Sprung der Pferde, jede Umdrehung der Räder brachte uns dem Ende unseres Abenteuers näher.

Da der Kutscher auf dem Bock unseres Mietwagens jedes Wort hören konnte, mussten wir uns in unserem Gespräch großen Zwang antun und durften uns nur über gleichgültige Gegenstände unterhalten; das fiel uns in unserer begreiflichen Aufregung nicht leicht. Ich atmete daher erleichtert auf, als wir bei Franklands Haus vorbeikamen; endlich näherten wir uns Baskerville Hall und damit dem Schauplatz der Handlung. Wir fuhren nicht beim Haupteingang vor, sondern ließen den Wagen in der Allee halten und stiegen aus. Der Kutscher wurde abgelohnt, und wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Merripit House.

»Sind Sie bewaffnet, Lestrade?«

Lächelnd antwortete der Detektiv:

»Solange ich meine Hosen anhabe, habe ich eine Hüfttasche, und solange ich meine Hüfttasche habe, ist auch was drin.«

»Gut! Mein Freund und ich haben uns ebenfalls für alle Eventualitäten vorgesehen.«

»Sie sind sehr verschlossen, Mr Holmes. Mit was für ’ner Art von Spiel haben wir’s denn eigentlich zu tun?«

»Mit einem Geduldsspiel.«

»Wahrhaftig, das scheint hier keine sehr nette Gegend zu sein!«, bemerkte der Detektiv, indem er fröstelnd seinen Überrock dichter zuzog und dabei einen Blick auf die düstere Hügelkette warf und auf den riesigen Nebelsee, der über dem Grimpener Moor lag. »Gerade vor uns sehe ich die Lichter eines Hauses.«

»Das ist Merripit House, das Ziel unserer Wanderung. Ich muss Sie jetzt ersuchen, auf den Fußspitzen zu gehen und im Flüsterton zu sprechen, wenn Sie etwas zu sagen haben.«

Vorsichtig gingen wir den Fußweg entlang auf das Haus zu, aber als wir noch ungefähr zweihundert Schritte davon entfernt waren, ließ Holmes uns Halt machen und sagte:

»Weiter brauchen wir nicht zu gehen. Die Felsen hier zur Rechten geben ein ausgezeichnetes Versteck ab.«

»Müssen wir hier warten?«

»Ja, hier wollen wir uns in Hinterhalt legen. Gehen Sie in diese Höhlung hinein, Lestrade! Sie waren drinnen im Haus, nicht wahr, Watson? Können Sie die Lage der verschiedenen Zimmer angeben? Was sind das für Gitterfenster an unserem Ende hier?«

»Ich glaube, es sind die Küchenfenster.«

»Und das Fenster weiter weg, aus dem der helle Lichtschein herausfällt?«

»Das gehört ganz bestimmt zum Speisezimmer.«

»Die Vorhänge sind zurückgezogen. Sie wissen am besten hier Bescheid. Kriechen Sie sachte heran und sehen Sie mal zu, was drinnen vorgeht – aber lassen Sie sie um Gottes willen nicht merken, dass sie beobachtet werden!«

Ich ging auf den Zehen den Fußpfad entlang und duckte mich dann hinter die niedrige Mauer, die den verwahrlosten Obstgarten umgab. An dieser entlangkriechend, kam ich zu einer Stelle, von der aus ich ungehindert in das gardinenlose Fenster hineinsehen konnte.

In dem Zimmer befanden sich nur Sir Henry und Stapleton. Sie saßen an dem runden Tisch einander so gegenüber, dass ich ihre Gesichter von der Seite sehen konnte. Beide rauchten; vor ihnen auf dem Tisch standen Kaffeetassen und Weingläser. Stapleton sprach lebhaft, aber der Baronet sah bleich und zerstreut aus. Vielleicht lag der Gedanke an den ihm bevorstehenden Gang über das einsame, übelberufene Moor ihm schwer auf der Seele.

Nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, stand Stapleton auf und verließ das Zimmer; Sir Henry schenkte sich sein Glas voll, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blies den Zigarrendampf in dicken Wolken von sich. Ich hörte eine Tür knarren; dann knirschten Schritte auf dem Kies an der anderen Seite der Mauer, hinter der ich mich zusammengekauert hatte. Als sie bei mir vorbei waren, blickte ich vorsichtig über die Mauer hinweg und sah den Naturforscher vor der Tür eines Nebengebäudes stehen, das sich in der Ecke des Baumgartens befand. Er öffnete die Tür mit einem Schlüssel, und als er eingetreten war, hörte ich ein eigentümlich raschelndes Geräusch in dem Gebäude. Er verweilte höchstens ein paar Minuten, dann hörte ich den Schlüssel sich abermals im Schloss drehen, die knirschenden Schritte kamen wieder bei mir vorüber, und Stapleton betrat sein Haus. Ich sah noch, wie er im Zimmer erschien, wo Sir Henry auf ihn wartete, dann kroch ich vorsichtig zum Versteck meiner Freunde zurück und berichtete, was ich gesehen hatte.

»Und sagen Sie, Watson, die Dame saß nicht bei ihnen?«, fragte Holmes, als ich mit meiner Erzählung fertig war.

»Nein.«

»Wo kann sie denn nur sein! Es ist ja in keinem anderen Raum Licht als nur im Speisezimmer und in der Küche!«

»Ich habe keine Ahnung!«

Über dem großen Grimpener Sumpf lagerte, wie ich vorhin bereits erwähnte, ein dichter, weißer Nebel. Er wälzte sich langsam auf uns zu und stand jetzt in einiger Entfernung wie eine niedrige, scharf abgeschnittene Wand vor uns. Der Mond beschien sie, und sie glich einer weiten schimmernden Eisfläche; die Felsspitzen, die daraus hervorragten, sahen aus wie riesige Granitblöcke, die von diesem Eis getragen wurden. Holmes beobachtete unverwandt diese Nebelfläche, und ich hörte ihn unwillig brummen, als sie allmählich sich immer näher an uns heranschob.

»Es kommt auf uns zu, Watson!«

»Ist das von irgendwelcher Bedeutung?«

»Von sehr großer Bedeutung sogar! Es ist die einzige Möglichkeit, die auf meine Pläne irgendwelchen Einfluss haben könnte! Er kann jetzt nicht lange mehr bleiben, denn es ist bereits zehn Uhr. Unser Erfolg und vielleicht sogar sein Leben hängt möglicherweise davon ab, dass er das Haus verlässt, ehe der Nebel den Weg bedeckt.«

Der Nachthimmel stand in klarer Schönheit über uns; die Sterne funkelten in der Kälte mit hellem Schein, und der Halbmond übergoss die Landschaft mit einem sanften ungewissen Licht. Vor uns lag die dunkle Masse des Hauses, das Giebeldach und die hohen Kamine scharf vom silberbestreuten Nachthimmel sich abhebend. Breite Lichtstreifen ergossen sich goldig aus den Fenstern des Erdgeschosses über den Garten und das Moor. Mit einem Mal verschwand einer von diesen Streifen – die Dienstboten hatten die Küche verlassen. Nur noch das Speisezimmer blieb hell; dort saßen die beiden Männer, der mordsinnende Wirt und der ahnungslose Gast, und plauderten bei Wein und Zigarren.

Mit jeder Minute schob die weiße, wolkige Fläche, die bereits die Hälfte des Moores bedeckte, sich näher und näher an das Haus heran. Schon kräuselten sich die ersten feinen Ausläufer des Nebels vor dem goldenen Viereck des erleuchteten Fensters. Die rückseitige Mauer des Baumgartens war bereits unsichtbar, und die Bäume erhoben sich aus einem brodelnden weißen Dampf in die Luft. Und schon wälzten sich Nebelstreifen um die Ecke des Hauses herum und vereinigten sich allmählich zu einer dichten, glatt abgeschnittenen Wolke, über welcher das obere Stockwerk und das Dach des Hauses wie ein Gespensterschiff auf seltsamem Meer schwammen. Holmes schlug aufgeregt mit der Faust auf den Felsen, hinter welchem wir uns versteckt hatten und stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß.

»Wenn er nicht binnen einer Viertelstunde draußen ist, wird der Fußweg bedeckt sein. In einer halben Stunde können wir keine Hand mehr vor Augen sehen.«

»Sollen wir uns nicht ein Stück Weges zurückziehen? Hinter uns steigt der Grund an.«

»Ja, das wird wohl das Beste sein.«

Wir gingen also, vor der Nebelbank allmählich zurückweichend, weiter aufs Moor hinaus, bis wir etwa tausend Schritte vom Haus entfernt waren – und immer noch kroch die weiße Masse mit der mondbeglänzten Oberfläche näher an uns heran, unerbittlich immer näher!

»Wir gehen zu weit!«, sagte Holmes. »Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, dass er eingeholt wird, bevor er unser Versteck erreicht hat. Hier, wo wir jetzt sind, müssen wir auf alle Fälle bleiben.« Er ließ sich auf die Knie nieder und hielt das eine Ohr an den Erdboden. »Gott sei Dank! Ich glaube, ich höre ihn kommen!«

Wirklich wurden jetzt schnelle Schritte in der Stille des Moors hörbar. Uns an die Felsblöcke anschmiegend, beobachteten wir mit gespanntester Erwartung die schimmernde Nebelbank, die vor uns lag. Und jetzt trat, wie wenn er einen Vorhang zerteilte, aus dem weißen Nebel heraus der Mann, auf den wir warteten. Er blickte sich überrascht um, als er plötzlich die klare, sternenbeglänzte Nachtlandschaft vor sich sah. Dann eilte er schnellen Schrittes auf dem Pfad dahin, an unserem Versteck vorbei und den Hügel hinauf, der sich sanft ansteigend hinter uns erstreckte. Während er vorwärts eilte, sah er beständig bald über die eine, bald über die andere Schulter nach hinten. Augenscheinlich war ihm unbehaglich zu Mute.

»Sst!«, rief plötzlich Holmes, und ich hörte ein scharfes Knacken; er hatte den Hahn seines Revolvers gespannt. »Aufgepasst! Es kommt!«

Mitten in der heranschleichenden Nebelmasse hörten wir ein scharfes, schnelles Getrappel. Die Wolke lag fünfzig Schritte vor uns und wir starrten alle drei auf die weiße Fläche. Was für ein Gräuel würde aus ihr hervorbrechen? Ich lag an Holmes’ Ellbogen und warf einen schnellen Blick auf sein Gesicht. Er war bleich, aber offenbar frohlockte er innerlich; seine Augen funkelten hell im Mondenschein. Plötzlich aber stierte er entsetzt vorwärts und seine Lippen öffneten sich in maßlosem Erstaunen. Im selben Augenblick stieß Lestrade einen Schrei des Entsetzens aus und fiel mit dem Gesicht auf die Erde. Ich sprang auf; meine zitternde Hand umklammerte den Revolver, aber ich konnte nicht schießen, mein Geist war gelähmt von dem Anblick des grausigen Geschöpfes, das aus dem Nebel hervorgesprungen kam.

Es war ein Hund, ein riesiger kohlschwarzer Hund, aber ein Hund, wie keines Menschen Augen ihn jemals gesehen haben. Feuer sprühte aus dem offenen Rachen hervor, die Augen glühten, Lefzen und Wampe waren von hellem Glanz umloht. Ein Wahnsinniger könnte in seinen Fieberträumen kein wilderes, grausigeres Ungeheuer sich vorstellen; wie ein Geschöpf der Hölle brach die schwarze Bestie aus dem weißen Dampf hervor.

In langen Sätzen sprang der riesige schwarze Hund den schmalen Weg entlang; die Nase dicht über dem Erdboden haltend, folgte er den Fußspuren unseres Freundes. Wir waren durch diese Erscheinung wie gelähmt, und ehe wir unsere Besinnung wiedererlangt hatten, war die Bestie schon an unserem Versteck vorübergesprungen. Dann feuerten Holmes und ich gleichzeitig, und ein schauerliches Geheul bewies uns, dass wenigstens einer von uns getroffen haben musste. Doch ließ der Hund sich durch die Verwundung nicht aufhalten, sondern jagte mit unverminderter Schnelligkeit weiter. In ziemlich weiter Entfernung sahen wir Sir Henry auf dem Weg stehen; er sah mit kreideweißem Antlitz, dessen Blässe durch den voll darauf fallenden Mondschein noch mehr hervorgehoben wurde, sich um; die Hände hatte er voller Entsetzen emporgeworfen und hilflos starrte er auf das grausige Ungeheuer, das auf ihn losgesprungen kam.

Aber das Schmerzgeheul des Hundes benahm uns alle Furcht. Wenn er verwundbar war, dann war er ein Erdengeschöpf, und wenn wir ihn verwunden konnten, dann konnten wir ihn auch töten. Niemals habe ich einen Menschen rennen sehen, wie Sherlock Holmes in diesem entscheidenden Augenblick rannte. Ich gelte für einen schnellen Läufer, aber ich blieb weit hinter meinem Freund zurück, und in gleicher Entfernung hinter mir folgte erst der kleine Londoner Detektiv. Vor uns hörten wir Schrei auf Schrei, die gellenden Angstrufe des Baronets und dazwischen das tiefe Gebell des Hundes. Ich sah, wie die Bestie auf ihr Opfer lossprang, Sir Henry zu Boden warf und ihm an die Kehle fuhr. Im nächsten Augenblick aber hatte Holmes fünf Kugeln seines Revolvers dem Tier in die Flanke gejagt. Mit einem letzten Todesgeheul und noch einmal wild um sich beißend rollte der Hund auf den Rücken; die vier Beine fuhren noch ein paar Mal durch die Luft, dann fiel er auf die Seite und lag regungslos da. Keuchend sprang ich an das Tier heran und hielt den Lauf meines Revolvers an den fürchterlichen feuerumlohten Kopf; aber ich brauchte nicht mehr abzudrücken. Der Riesenhund war tot.

Sir Henry lag bewusstlos auf der Stelle, wo er umgesunken war. Wir rissen ihm den Kragen auf, und Holmes gab ein Stoßgebet der Dankbarkeit von sich, als wir sahen, dass keine Wunde vorhanden und dass unsere Hilfe noch zur rechten Zeit gekommen war. Bald bewegten sich zuckend die Augenlider unseres Freundes, und er machte einen schwachen Versuch, sich zu bewegen. Lestrade schob dem Baronet seine Branntweinflasche zwischen die Zähne – und dann sahen zwei ängstliche Augen uns an.

»Mein Gott!«, flüsterte Sir Henry. »Was war das? Um des Himmels willen – was war es?«

»Was es auch gewesen sein mag, es ist tot«, antwortete Holmes. »Wir haben dem Familiengespenst für ewige Zeiten den Garaus gemacht!«

Das Tier, das da zu unseren Füßen hingestreckt lag, war schon durch seine Größe und Stärke eine fürchterliche Bestie. Es war kein reinrassiger Bluthund und auch keine reine Dogge, sondern schien aus einer Kreuzung hervorgegangen zu sein – ein zottiges, dürres Geschöpf von der Größe einer kleinen Löwin. Noch jetzt, wo es tot war, schien von den gewaltigen Kinnladen ein bläuliches Feuer zu triefen, und die tiefliegenden, grausamen kleinen Augen waren von Flammenringen umgeben. Und als ich mit meinen Händen das furchtbare Maul auseinanderriss, da schimmerten auch meine Finger feurig in der Dunkelheit.

»Phosphor!«, rief ich.

»Ja, ein Phosphorpräparat – und ein sehr geschickt hergerichtetes!«, sagte Holmes, der sich niedergebeugt hatte und den Kopf des toten Tieres beroch. »Es ist eine geruchlose Lösung, durch die der Spürsinn des Tieres nicht beeinträchtigt werden konnte. – Wir müssen Sie von ganzem Herzen um Verzeihung bitten, Sir Henry, dass wir Sie der Gefahr eines so furchtbaren Schrecks ausgesetzt haben. Ich war auf einen Hund gefasst – aber nicht auf eine Bestie wie diese hier. Und infolge des Nebels hatten wir nur einen ganz geringen Augenblick Zeit, um sie mit mehreren Schüssen zu empfangen.«

»Sie haben mir das Leben gerettet!«

»Nachdem ich es erst in Gefahr gebracht hatte. Sind Sie kräftig genug, um sich auf Ihren Füßen halten zu können?«

»Lassen Sie mich noch einen Schluck Branntwein zu mir nehmen, und ich bin zu allem bereit. – So! Wollen Sie mir jetzt bitte aufhelfen? Was gedenken Sie jetzt zunächst zu tun?«

»Sie hier zu lassen. Sie sind nicht imstande, in dieser Nacht noch mehr Abenteuer durchzumachen. Wenn Sie auf unsere Rückkunft warten wollen, kann einer von uns Sie zum Schloss bringen.«

Sir Henry versuchte sich aufrecht zu halten; aber er war noch immer leichenblass und zitterte an allen Gliedern. Wir führten ihn zu einem Granitblock; auf diesen setzte er sich und vergrub zusammenschauernd das Gesicht in seine Hände.

»Wir müssen Sie jetzt hier allein lassen«, sagte Holmes. »Es bleibt uns noch anderes zu tun, und jeder Augenblick ist von Wichtigkeit. Das Verbrechen ist völlig aufgeklärt – jetzt brauchen wir nur noch den Verbrecher!«

»Es ist tausend gegen eins zu wetten, dass wir ihn nicht in seinem Haus finden«, fuhr Holmes fort, als wir schnell den Fußweg entlang auf Merripit House zueilten. »Die Schüsse müssen ihm gesagt haben, dass er die Partie verloren hat.«

»Wir waren ein ziemliches Stück vom Haus entfernt, und der Nebel hat vielleicht den Schall gedämpft«, bemerkte Lestrade.

»Er folgte dem Hund auf dem Fuß, um ihn sofort abzurufen – darauf können Sie sich verlassen! Nein, nein – er ist jetzt längst fort. Aber wir wollen zur Sicherheit das Haus durchsuchen.«

Die Haustür stand offen; wir stürmten daher hinein und eilten von Zimmer zu Zimmer, zum größten Erstaunen des vor Angst an allen Gliedern bebenden alten Dieners, der uns im Flur entgegenkam. Nur im Speisezimmer brannte Licht, aber Holmes nahm die Lampe vom Tisch und ließ keinen Winkel des Hauses undurchsucht. Nirgends war von dem Mann, den wir verfolgten, auch nur das geringste Zeichen zu sehen. Im obersten Stock jedoch war die Tür zu einem der Zimmer verschlossen.

»Es ist jemand drinnen!«, rief Lestrade. »Ich höre etwas sich bewegen. Machen Sie die Tür auf!«

Wir hörten drinnen ein schwaches Stöhnen und ein Rauschen wie von Kleidern. Holmes sprengte die Tür mit einem Fußtritt, und mit dem Revolver in der Hand stürzten wir alle drei ins Zimmer.

Aber wir fanden keine Spur von dem verzweifelten Schurken, den wir zu sehen erwarteten. Statt dessen aber hatten wir einen so seltsamen und unerwarteten Anblick, dass wir zuerst sprachlos und wie an den Fleck gebannt dastanden.

Das Zimmer war zu einer Art von kleinem Museum hergerichtet; an den Wänden hingen eine Anzahl Glaskästen, deren Anfüllung mit Schmetterlingen und Käfern der gefährlichste Verbrecher der Gegenwart zu seiner Erholung betrieben hatte. Mitten im Raum stand ein Holzpfeiler, der den alten wurmzerfressenen Deckbalken stützen musste. An diesen Pfeiler war eine menschliche Gestalt festgebunden, aber ob es ein Mann oder ein Weib war, konnten wir für den Augenblick nicht sagen, denn diese Gestalt war vollständig von Bett- und Handtüchern vermummt. Ein Handtuch war um die Kehle geschlungen und hinter dem Pfosten zusammengeknotet; ein zweites bedeckte den unteren Teil des Gesichtes und über diesem starrten zwei dunkle Augen uns entgegen – Augen voll Schmerz und Scham und Angst. In einem Augenblick hatten wir den Knebel hinweggerissen, die Bande gelöst – und Beryl Stapleton sank vor uns ohnmächtig auf den Fußboden nieder. Ihr schönes Haupt neigte sich auf ihre Brust, und da sah ich auf ihrem Hals klar und scharf die rote Strieme vom Hieb einer Reitpeitsche.

»Der rohe Schuft!«, rief Holmes. »Hier, Lestrade, geben Sie schnell Ihre Whiskyflasche! Helfen Sie mir, sie auf einen Stuhl setzen. Die erlittenen Misshandlungen und die Erschöpfung haben sie ohnmächtig gemacht.«

Nach einer kurzen Weile schlug sie die Augen wieder auf und fragte:

»Ist er gerettet? Hat er sich in Sicherheit bringen können?«

»Er kann uns nicht entkommen.«

»Nein, nein – ich meinte nicht meinen Mann! Aber Sir Henry – ist er in Sicherheit?«

»Ja.«

»Und der Hund?«

»Der ist tot.«

»Gott sei Dank! Gott sei Dank!«, rief sie nach einem tiefen Seufzer der Erleichterung. »Oh, dieser Schurke! Sehen Sie, wie er mich behandelt hat!«

Sie streifte ihre Ärmel zurück, und wir sahen voll Entsetzen, dass beide Arme mit blutigen Striemen bedeckt waren.

»Aber das ist nichts – gar nichts!«, fuhr sie fort. »Wie hat er erst meine Seele gequält und gefoltert! Und das alles habe ich ertragen können – Misshandlungen, Einsamkeit, ein Leben voller Enttäuschung, alles! –, solange ich mich noch an die Hoffnung anklammern durfte, dass seine Liebe mir gehörte. Aber jetzt weiß ich, dass er auch hierin mich hintergangen hat, dass ich nur sein Werkzeug war!«

Bei diesen Worten brach sie in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.

»Sie sind ihm nicht freundlich gesinnt, gnädige Frau!«, sagte Holmes. »Nun, so sagen Sie uns, wo wir ihn finden werden. Wenn Sie ihm je bei seinem bösen Werk beigestanden haben, helfen Sie dafür jetzt uns, und machen Sie damit alles wett.«

»Es gibt nur einen Platz, wohin er geflohen sein kann«, antwortete sie. »Auf einer Insel mitten im großen Sumpf ist eine alte Zinngrube. Dort hielt er seinen Hund und dort hatte er auch allerhand Vorkehrungen getroffen, um für alle Fälle eine Zuflucht zu haben. Dorthin muss er geflohen sein.«

Der Nebel lag dick wie weiße Wolle an den Fensterscheiben. Holmes streckte die Lampe in Richtung Fenster aus und sagte:

»Sehen Sie! Niemand könnte in dieser Nacht einen Weg durch den Grimpener Sumpf finden.«

Sie schlug lachend die Hände zusammen; ihre weißen Zähne blitzten und ihre Augen funkelten in wilder Freude, als sie rief:

»Den Weg hinein findet er vielleicht, aber nie und nimmer den Weg heraus! Wie kann er heute Nacht die Stecken finden, die wir beide, er und ich, zusammen einpflanzten, um den schmalen Fußpfad durch den Morast zu bezeichnen! Oh, hätte ich sie nur heute herausreißen können! Dann allerdings hätte er rettungslos in Ihre Hände fallen müssen.«

Wir sahen ein, dass an eine Verfolgung nicht zu denken war, solange der Nebel über dem Moor lag. Wir ließen daher Lestrade in Merripit House zurück und Holmes und ich gingen mit dem Baronet nach Baskerville Hall. Wir konnten ihm die Wahrheit über die Stapletons nicht länger verschweigen, aber er benahm sich tapfer wie ein Mann, als er erfuhr, dass das Weib, das er geliebt, die Gattin eines Mörders war.

Die Abenteuer dieser Nacht waren jedoch zu viel für seine Nerven gewesen, und ehe der Morgen anbrach, lag er im Delirium eines hohen Fiebers und wir mussten ihn der Pflege des Dr. Mortimer anvertrauen.

Und nun komme ich schnell zum Schluss dieser gewiss nicht alltäglichen Geschichte.

Die Morgensonne des nächsten Tages hatte den dichten Nebel aufgesogen und Mrs Stapleton führte uns zu der Stelle, wo der vom Naturforscher entdeckte schmale Fußweg durch den Sumpf begann. Was für ein Höllenleben die Frau an der Seite des Verbrechers geführt haben musste, das erkannten wir an der freudigen Bereitwilligkeit, womit sie uns auf ihres Gatten Spur brachte. Sie brachte uns bis an den letzten Ausläufer festen Bodens, der sich in Gestalt einer schmalen Halbinsel in den Sumpf hinein erstreckte; von dieser Stelle aus gingen wir allein weiter. Von Zeit zu Zeit bezeichnete ein dünnes Stöckchen die Zickzack-Windungen des Pfades. Nur ein einziges Mal bemerkten wir eine Spur, dass vor uns ein Mensch den gefährlichen Weg gegangen war. Auf einem Büschel Riedgras, der das Untersinken verhindert hatte, lag ein dunkler Gegenstand. Holmes sank bis an den Leib in den Morast, als er, um sich des Gegenstandes zu bemächtigen, abseits des Weges trat; und wären wir nicht da gewesen, hätte sein Fuß niemals wieder festen Grund betreten. Er hielt einen alten schwarzen Schuh empor. Auf dem Innenleder desselben fanden wir den Stempel: ›Meyers, Toronto, Kanada.‹

»Der Fund ist schon ein Moorbad wert!«, rief Holmes. »Es ist der abhanden gekommene Schuh unseres Freundes Sir Henry.«

»Und Stapleton hat ihn auf seiner Flucht an dieser Stelle weggeworfen!«

»Ganz recht. Er behielt ihn in der Hand, nachdem er ihn benutzt hatte, den Hund auf die Fährte zu bringen. Auf der Flucht, als er wusste, dass das Spiel verloren war, hielt er unbewusst den Schuh noch immer in der Hand. Und an dieser Stelle warf er ihn von sich. Wir wissen also wenigstens so viel, dass er bis hierher gekommen ist.«

Aber mehr sollten wir über Stapletons Schicksal überhaupt nicht erfahren; wir waren nur auf Vermutungen angewiesen – Gewissheit erlangten wir nicht. Wir konnten nicht erwarten, Fußspuren im Sumpf zu finden, denn jede Höhlung wurde sofort von dem aus der Tiefe aufsteigenden Morastwasser ausgefüllt und war in wenigen Augenblicken wieder der Oberfläche gleichgemacht. Aber als wir endlich auf festeren Grund kamen, sahen wir uns alle drei eifrig suchend und erwartungsvoll nach Spuren um. Wir fanden keine. Wenn der spurenlose Erdboden uns die Wahrheit sagte, hat Stapleton niemals die Rettungsinsel im Sumpf erreicht, nach der er sich durch Nacht und Nebel hinzutasten versuchte. Irgendwo mitten im großen Grimpener Sumpf, tief in den Morast hinuntergezogen, liegt für immer der Mann mit dem kältesten Mörderherzen begraben.

Dass er auf dem morastumgürteten Eiland oft geweilt haben musste, ergab sich aus mancherlei Anzeichen. Von der verlassenen Zinngrube war noch ein großes Triebrad und ein halbzugeschütteter Schacht übrig; daneben standen verfallende Mauerreste von den Hütten der Bergleute, die ohne Zweifel von den Fieberdünsten des Sumpfes vertrieben worden waren. In einer dieser Hütten hatte das wilde Tier gehaust, das Stapleton zu seinem Verbündeten ausersehen hatte; wir fanden seine Kette und einen großen Haufen abgenagter Knochen. In einer Ecke lag eine Dose, die eine leuchtende Masse enthielt – ohne Zweifel das Phosphorpräparat, das dem schlauen Schurken dazu gedient hatte, aus seinem Hund einen Höllenhund zu machen.

»Und nun«, sagte Holmes, »wo wir alle Ecken und Winkel durchsucht haben, können wir sagen, dass der Fall kaum noch ein unaufgeklärtes Geheimnis enthält.«

»Hm«, antwortete ich, »immerhin haben wir über Stapletons Persönlichkeit doch nur Vermutungen. War er wirklich ein Baskerville? Das wird wohl kein Mensch je erfahren, und damit bleibt auch der Beweggrund des Verbrechens für immer im Bereich der bloßen Mutmaßungen.«

»O nein, mein lieber Watson. Der Beweggrund ist völlig klar: Stapleton war ein Baskerville. Sie wissen, ich hatte heute früh eine kleine Unterredung mit seiner armen Frau, und wenige Fragen genügten, um in dieser Hinsicht alles aufzuklären. Er war ein Sohn des jüngeren Bruders von Sir Charles, Rodger Baskerville, der infolge anrüchiger Geschichten nach Südamerika hatte fliehen müssen. Es hieß, er sei dort unverheiratet gestorben. Das war aber ein Irrtum. Er hatte geheiratet, und dieser Ehe entstammte ein Sohn, der, wie sein Vater, Rodger hieß. Es ist unser Verbrecher. Dieser heiratete eines der schönsten Mädchen von Costa Rica, Beryl Garcia. Nachdem er eine bedeutende Summe Geldes veruntreut hatte, floh er mit seiner Frau nach England, wo er unter dem Namen Vandeleur eine Schule in Yorkshire hielt. Bald fand er es aber angezeigt, seinen Namen abermals zu ändern, und er kam als Stapleton mit den Resten seines Vermögens und mit seinen Zukunftsplänen nach Südengland.

Offenbar hatte er sich nach den Verhältnissen seiner Familie erkundigt und natürlich bald herausgefunden, dass nur zwei Männer zwischen ihm und einer großen Erbschaft standen; vielleicht hat er sogar im Anfang von dem Vorhandensein des jetzigen Baronets gar nichts gewusst, sondern geglaubt, er habe es nur mit Sir Charles zu tun. Als er nach Devonshire kam, waren überhaupt seine Pläne, glaube ich, noch außerordentlich unbestimmt. Aber dass er von Anfang an auf Böses sann, geht daraus hervor, dass er seine Frau für seine Schwester ausgab. Offenbar gedachte er sie als Lockvogel zu benutzen, wenn er auch noch nicht wusste, in welcher Weise dies geschehen könnte. Zunächst ließ er sich möglichst nahe bei dem Haus seiner Väter nieder, alsdann trug er Sorge, mit Sir Charles und den anderen Nachbarn in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten. Der Baronet erzählte ihm von dem Familienhund und sprach sich damit selber das Todesurteil.

Nachdem Stapleton einmal seinen bestimmten Plan gefasst hatte, führte er ihn mit außerordentlicher Schlauheit durch. Auf den zur Bereicherung seiner Schmetterlingssammlung unternommenen Streifzügen hatte er das Moor in allen Richtungen kennengelernt; er hatte den Weg nach dieser alten Zinngrube gefunden und hatte damit das unumgänglich nötige Versteck für seinen grimmigen Hund, den er sich in London gekauft und in dunkler Nacht von einer entfernten Bahnstation hierher gebracht hatte. Er wartete nun seine Gelegenheit ab. Aber diese wollte nicht kommen. Er hatte gehofft, seine Frau würde bereit sein, Sir Charles ins Verderben zu locken, aber hier stieß er auf einen unerwarteten Widerstand. Wie er schließlich durch Benutzung seiner Freundin, Mrs Laura Lyons, seinen Zweck erreichte, wissen Sie bereits. Aber beide Frauen, die er in sein Spiel gezogen hatte, Mrs Stapleton und Mrs Lyons, hatten einen bösen Verdacht gegen ihn gefasst. Seine Frau kannte seine Zukunftspläne und wusste außerdem um die Anwesenheit des Hundes. Mrs Lyons wusste von diesen beiden Umständen nichts, aber es hatte einen starken Eindruck auf sie gemacht, dass der Baronet gerade zu der Stunde gestorben war, wo sie eine Zusammenkunft mit ihm haben sollte, und dass sie auf Stapletons ausdrücklichen Wunsch dieser Zusammenkunft hatte fern bleiben müssen. Indessen beide Frauen standen unter dem Einfluss seines starken Willens, und er hatte von ihnen nichts zu fürchten. Die erste Hälfte seiner Aufgabe war erfüllt, aber der schwierigere zweite Teil blieb noch zu tun.

Wenn Stapleton von dem Vorhandensein des in Kanada lebenden Erben nichts gewusst hatte, musste er es jedenfalls sehr bald von Doktor Mortimer erfahren, und von diesem hörte er denn auch jede Einzelheit über die bevorstehende Ankunft Sir Henrys. Zunächst dachte er nun, der junge Fremde aus Kanada könnte vielleicht in London ins Jenseits befördert werden, ehe er überhaupt nach Devonshire käme. Gegen seine Frau hegte er Misstrauen, seitdem sie sich geweigert hatte, ihm in seinem Anschlag gegen den alten Baronet beizustehen; er wagte deshalb nicht, sie für längere Zeit aus den Augen zu lassen, weil er seinen Einfluss auf sie zu verlieren fürchtete. Deshalb nahm er sie mit nach London. Sie wohnten dort im Mexborough-Hotel in Craven Street – einem von den Gasthöfen, deren Papierkörbe ich durch Cartwright durchsuchen ließ. Wie Sie wissen, war die Nachforschung vergeblich. Hier schloss er seine Frau in ihr Zimmer ein, während er selbst, unter der Verkleidung eines falschen Bartes, dem Dr. Mortimer auf seinen Gängen zu meiner Wohnung und später zum Bahnhof und dem Northumberland-Hotel unbemerkt folgte.

Seine Frau hatte eine ziemlich bestimmte Ahnung, mit welchen Plänen er sich trüge, aber sie hatte zugleich auch – und zwar infolge brutaler Misshandlungen – eine solche Angst vor ihrem Mann, dass sie es nicht wagte, dem in Gefahr schwebenden, ahnungslosen Baronet ein Warnungszeichen zu geben. Wäre der Brief in Stapletons Hände gefallen, wäre sie selber ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen. Schließlich fiel ihr, wie wir wissen, ein Aushilfsmittel ein: Sie schnitt die Worte ihrer Warnung aus einer Zeitung aus und adressierte den Brief mit verstellter Handschrift. Der Baronet erhielt ihn und damit zugleich die erste Warnung vor der Gefahr.

Von Stapletons Gewandtheit erhielten wir selber an jenem Morgen einen Begriff, als er uns so plötzlich entkam. Er wusste von dem Augenblick an, dass ich den Fall in meine Hände genommen hatte, dass also in London sich schwerlich für ihn eine Gelegenheit ergeben würde, seine Mordpläne zur Ausführung zu bringen. Er kehrte daher nach Devonshire zurück und wartete des Baronets Ankunft ab.«

»Einen Augenblick, bitte!«, rief ich. »Sie haben ohne Zweifel die Reihenfolge der Ereignisse richtig angegeben, aber es bleibt noch ein Punkt unaufgeklärt: Was wurde aus dem Hund, während der Herr in London war?«

»Ich habe mich selbst ernstlich mit diesem ohne Frage wichtigen Punkt beschäftigt. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass Stapleton einen Vertrauten hatte, obwohl er ihn wahrscheinlich nicht so weit ins Geheimnis zog, dass seine eigene Sicherheit dadurch gefährdet werden konnte. In Merripit House war ein alter Diener namens Anton. Er ist mit den Stapletons hierhergekommen und soll schon früher bei ihnen gewesen sein. Dann müsste er aber auch gewusst haben, dass die Stapletons nicht Bruder und Schwester, sondern Mann und Frau waren. Der Mann ist heute Nacht verschwunden und nicht wiedergekommen. Auffällig ist auch sein Name: Anton heißen in England nur wenig Leute, dagegen ist Antonio in Spanien und im spanischen Amerika ein sehr gewöhnlicher Name. Er sprach, wie auch Mrs Stapleton, gut englisch, aber mit einem etwas lispelnden Akzent. Ich selbst habe den alten Mann über den Grimpener Morast gehen sehen; er benutzte diesen von Stapleton kenntlich gemachten Pfad. Höchstwahrscheinlich also hat er in Abwesenheit seines Herrn den Hund gefüttert, obwohl er vielleicht den Zweck, zu welchem die Bestie gehalten wurde, nicht gekannt hat.

Ich selbst hatte vom ersten Anfang an Stapleton in Verdacht. Und das kam so: Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich das Papier des Warnungsbriefes genau untersuchte, um eine Wassermarke zu entdecken. Als ich es nun ein paar Zoll weit von meinen Augen entfernt hielt, bemerkte ich den schwachen Duft eines Parfüms. Es war weißer Jasmin. Es gibt fünfundsiebzig verschiedene Parfüms, und wer sich berufsmäßig mit der Entdeckung von Verbrechen beschäftigt, der muss sie alle voneinander unterscheiden können; mehr als einmal ist es mir passiert, ein scheinbar unerklärliches Rätsel mit Hilfe des Geruchssinnes sofort zu lösen. Das Parfüm brachte mich darauf, dass eine Dame im Spiel sein müsste, und so war es ganz natürlich, dass ich meine Aufmerksamkeit dem Ehepaar Stapleton zuwandte. Ich wusste also, dass ein Hund benutzt wurde, und ich hatte erraten, wer der Verbrecher war, ehe ich London verlassen hatte.

Was ich hier tat, während Sie mich zu Hause in der Baker Street wähnten, das ist Ihnen ja bekannt. Es bleibt nur noch die Rolle näher zu bestimmen, die die Dame gespielt hat. Ohne Zweifel übte Stapleton eine ungeheure Macht über sie aus. Beruhte diese auf Liebe, beruhte sie auf Furcht? Das weiß ich nicht. Vielleicht war es beides; denn diese beiden Gefühle sind durchaus nicht unvereinbar miteinander. Jedenfalls war die Macht vorhanden und wirksam. Auf seinen Befehl willigte sie ein, für seine Schwester zu gelten; nur als er sie zu unmittelbarer Mitwirkung an einem Mord heranziehen wollte, da fand er die Grenzen seiner Macht. Sie versuchte Sir Henry zu warnen, so weit es geschehen konnte, ohne ihren Gatten zu gefährden; sie versuchte es nicht nur das eine Mal, sondern wiederholt. Stapleton selbst scheint eifersüchtig gewesen zu sein; denn als er sah, wie der Baronet der Dame den Hof machte, da brach seine Leidenschaft wild hervor, obwohl doch Sir Henrys Liebe zu den Faktoren des Mordplanes gehörte. Indem er später das Verhältnis guthieß, erlangte er die Gewissheit, dass Sir Henry häufig nach Merripit House zu Besuch kommen und dass er selbst dadurch früher oder später die Gelegenheit erhalten würde, auf die er es abgesehen hatte.

Am Entscheidungstag jedoch erklärte seine Frau sich plötzlich gegen ihn. Sie hatte etwas von dem Tod des entsprungenen Sträflings gehört und sie erfuhr, dass an demselben Tag, wo Sir Henry zu Tisch kommen sollte, der Hund in das Nebengebäude von Merripit House gebracht worden war. Sie sagte ihrem Mann das beabsichtigte Verbrechen gerade auf den Kopf zu, und es folgte ein heftiger Auftritt, wobei Stapleton in seiner Wut ihr verriet, dass sie eine Nebenbuhlerin hatte. Augenblicklich schlug ihre treue Liebe in bitteren Hass um, und er sah, dass sie ihn verraten würde. Deshalb fesselte und knebelte er sie, damit sie nicht imstande wäre, den Baron zu warnen. Ohne Zweifel hoffte er, wenn die ganze Gegend den Tod des Baronets dem Familienfluch zuschreiben würde – und daran brauchte er nicht zu zweifeln –, so würde sie sich ihm wieder zuwenden, mit der vollendeten Tatsache sich abfinden und über das, was sie wusste, Stillschweigen bewahren. Hierin hatte er sich allerdings meiner Meinung nach auf jeden Fall verrechnet; er wäre verloren gewesen, selbst wenn wir nicht dazwischen gekommen wären. Ein Weib, in dessen Adern spanisches Blut glüht, vergibt nicht so leicht eine so grausame Beschimpfung … Und das wäre wohl alles, was über den Fall zu sagen ist.«

»Aber Stapleton konnte doch nicht erwarten, dass der junge, kräftige Sir Henry aus reiner Angst vor dem Hund sterben würde, wie es ihm bei dem alten, herzkranken Baronet geglückt war?«

»Nein, das nicht. Aber die Bestie war blutgierig und halb verhungert. Und der Anblick des wilden Tieres mit dem feurigen Schlund musste jedenfalls dazu beitragen, die Widerstandskraft zu lähmen. Übrigens war ja die Wirkung auf Sir Henrys Nerven schwer genug. Doktor Mortimer sagte mir, es sei ein wahres Wunder, dass Sir Henry die Nacht so gut überstanden habe. Er habe anfangs Schlimmeres befürchtet. Es würden Monate nötig sein, um ihm die volle Gesundheit wiederzugeben. Sir Henry hat, um die grauenhaften Eindrücke los zu werden, beschlossen, eine Reise um die Welt zu machen, und Doktor Mortimer wird ihn begleiten.«

»Noch eins. Wenn Stapleton die Erbschaft antrat – wie konnte er’s glaubhaft machen, dass er, der Erbe, jahrelang unter angenommenem Namen hier in unmittelbarer Nähe seines Eigentums gelebt hatte? Musste das nicht Verdacht erregen und dadurch Nachforschungen veranlassen?«

»Diese Schwierigkeit ist allerdings sehr beträchtlich und ich fürchte, ich kann sie Ihnen nicht erklären. Vergangenheit und Gegenwart sind das Gebiet meiner Berufstätigkeit – aber was jemand in Zukunft tun wird, diese Frage lässt sich schwer beantworten. Mrs Stapleton – die ich natürlich darüber befragt habe – hat ihren Mann zu verschiedenen Malen diese Frage diskutieren hören. Es waren drei Möglichkeiten vorhanden: Er konnte seine Ansprüche von Südamerika aus geltend machen, seine Identität vor einem britischen Konsul nachweisen und auf diese Weise sich in Besitz des Vermögens setzen, ohne überhaupt nach England zu kommen. Oder er konnte für die kurze Zeit, die er zur Erledigung des Geschäftes in London hätte sein müssen, sich einer geschickten Verkleidung bedienen. Oder er konnte einem Helfershelfer die nötigen Dokumente und Papiere ausliefern; dieser hätte die Erbschaft angetreten und ihm natürlich den größeren Teil des Einkommens überlassen müssen. Nach dem, was wir von ihm gesehen haben, können wir wohl annehmen, dass er schon einen Ausweg aus der Schwierigkeit gefunden haben würde. Denn, mein lieber Watson, ich sagte es schon in London und wiederhole es hier: Niemals haben wir einen gefährlicheren Verbrecher zu verfolgen gehabt als den Mann, der jetzt hier unter der trügerischen grünen Decke des Sumpfes liegt.«

Und damit deutete Sherlock Holmes’ langer Arm auf die Miasmen aushauchende weite Fläche des Morastes, der sich in der Ferne in dem melancholischen Braun des Heidemoors verlor.