Wir waren ziemlich daran gewöhnt, rätselhafte Telegramme zu erhalten, aber besonders liegt mir noch eins im Sinn, das vor etwa acht Jahren an einem düsteren Februarmorgen ankam und Holmes einige Verlegenheit bereitete. Es trug seine Adresse und lautete:
Bitte mich erwarten. Furchtbares Unglück. Wichtigster Mann fort; morgen unentbehrlich. – Overton.
»Es trägt die ordnungsmäßige Stempelmarke und ist um zehn Uhr sechsunddreißig Minuten aufgegeben worden«, sagte mein Freund, nachdem er es immer wieder gelesen hatte. »Mr Overton war augenscheinlich sehr aufgeregt, als er’s abschickte, und daher etwas verwirrt. Nun, ich glaube, er wird gleich selbst ankommen und dann werden wir ja alles erfahren. Ich will einstweilen die ›Times‹ durchgucken. Selbst die unbedeutendste Aufgabe würde mir in dieser flauen Zeit willkommen sein.«
Wir hatten tatsächlich schon länger keine richtige Beschäftigung mehr gehabt, und ich hatte diese Perioden der Untätigkeit fürchten gelernt, denn mein Freund war eine so rührige Natur, dass es gefährlich für ihn war, wenn er nicht die nötige Arbeit hatte. Seit Jahren hatte ich ihm den Genuss narkotischer Mittel allmählich abgewöhnt, wodurch früher einmal seine ganze Laufbahn beinahe unterbrochen worden wäre. Nun wusste ich zwar, dass er unter gewöhnlichen Umständen nach diesen Reizmitteln kein Verlangen mehr trug, aber ich war mir ebenso klar darüber, dass der Feind nicht tot war, sondern nur schlief; und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass dieser Schlaf nicht sehr fest und das Erwachen sehr nahe war, sobald Perioden der Untätigkeit kamen. Dann zeigte sein asketisches Gesicht große Niedergeschlagenheit, und seine tiefen, unergründlichen Augen nahmen den Ausdruck des dumpfen Dahinbrütens an. Ich segnete deshalb diesen Mr Overton, wer er auch sein mochte, weil er durch seine sonderbare Botschaft diese unheimliche Ruhe unterbrochen hatte, welche für meinen Freund gefährlicher war als alle Stürme seines bewegten Lebens.
Wie wir erwartet hatten, blieb der Absender der Depesche nicht lange aus. Mr Cyril Overton vom Trinity College in Cambridge war ein riesenhafter junger Mann, er hatte einen enormen Knochenbau und eine entsprechende Muskulatur; seine breiten Schultern füllten unsere Tür vollkommen aus. Dabei hatte er ein ganz nettes, sympathisches Gesicht, dem man freilich die Unruhe auf den ersten Blick ansah.
»Mr Sherlock Holmes?«
Mein Freund verbeugte sich.
»Ich komme eben von Scotland Yard herauf, Mr Holmes. Ich sprach den Inspektor Hopkins. Er riet mir, mich an Sie zu wenden. Er sagte, der Fall sei, soweit er ihn beurteilen könne, eher etwas für Sie als für die reguläre Polizei. Wenn Sie mir helfen könnten, Mr Holmes ... Ich befinde mich in einer fatalen Lage ...«
»Bitte nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was los ist.«
»Es ist schrecklich, Mr Holmes, einfach schrecklich! Ich wundere mich, dass ich noch keine grauen Haare habe. Godfrey Staunton – Sie haben von ihm gehört, selbstverständlich? Beim ganzen Spiel dreht sich alles um ihn. Lieber sollen mir drei andere fehlen als gerade er, keiner reicht ihm das Wasser. Er ist das Haupt und hält das ganze Spiel zusammen. Was soll ich nun anfangen? Das sollen Sie mir sagen, Mr Holmes. Da ist freilich noch Moorhouse, der erste Reservemann, er ist aber nur halb trainiert. Er hat ja ’nen guten Fuß, aber nicht die nötige Überlegung. Ei, Morton oder Johnson, die berühmten Oxforder Fußballspieler, würden ihn schön schlagen. Und Stevenson wäre ja fest genug, der ist aber auf seinem jetzigen Posten ganz unentbehrlich. Nein, Mr Holmes, wir sind verloren, wenn Sie mir nicht helfen können, Godfrey Staunton aufzufinden.«
Holmes hatte den Worten des Mr Overton mit Interesse zugehört. Der außerordentliche Eifer und Ernst, womit sie hervorgestoßen wurden, und der Nachdruck, den der Sprecher jedem einzelnen Punkt durch einen gewaltigen Schlag mit seiner muskulösen Hand auf seine Knie verlieh, schienen ihn zu amüsieren.
Als unser Besucher mit seiner Erklärung fertig war, holte Holmes den Band mit S seines selbstangelegten Lexikons vom Bücherregal herunter. Zum ersten Mal sah er vergeblich in diesem reichhaltigen Sammelwerk nach.
»Ich habe hier einen Arthur H. Staunton, einen vielversprechenden Falschmünzer«, sagte er, »und den Henry Staunton, dem ich zum Galgen verholfen habe, aber Godfrey Staunton ist mir ein unbekannter Name. Wer und was ist denn dieser Staunton?«
Nun machte unser Klient ein erstauntes Gesicht.
»Aber Mr Holmes, ich glaubte, Sie wüssten alles Mögliche«, sagte er. »Wenn Sie nie was von Godfrey Staunton gehört haben, dann kennen Sie womöglich auch Cyril Overton nicht?«
Holmes schüttelte lächelnd den Kopf.
»Unglaublich!«, rief der Athlet. »Ei, ich war der erste Sieger für England gegen Wales und habe schon ein Jahr an der Spitze des akademischen Fußballklubs gestanden. Aber das ist noch gar nichts gegen Godfrey Staunton, den Sieger von Cambridge, Blackheath und von fünf internationalen Fußballwettspielen. Gütiger Gott! Mr Holmes, wo sind Sie eigentlich auf der Welt gewesen?«
Holmes lachte über das kindliche Staunen des jungen Wettkämpfers.
»Sie leben in einer ganz anderen Welt als ich, Mr Overton, in einer angenehmeren und gesunderen Atmosphäre. Meine Beziehungen erstrecken sich auf viele Gesellschaftsschichten, aber, ich kann wohl sagen glücklicherweise, nicht in die Kreise des Liebhabersports, der ein gutes und gesundes Zeichen ist für die innere Kraft des englischen Volkes. Doch beweist mir Ihr unerwarteter Besuch, dass es auch in dieser frischen Welt für mich zu tun gibt; ich bitte Sie nun, mein lieber Herr, mir langsam und ganz ruhig den Sachverhalt genau anzugeben und mir zu sagen, in welcher Weise ich Ihnen behilflich sein kann. Ihre bisherigen Darstellungen machen einen etwas konfusen Eindruck.«
Der junge Mr Overton war ein Mann, der mehr an den Gebrauch seiner Muskeln als an den seines Gehirns gewöhnt war. Er machte ein ziemlich verlegenes Gesicht, aber nach und nach, mit vielen Wiederholungen und Unklarheiten, die ich hier weglassen will, brachte er Folgendes heraus.
»Die Sache ist, wie Sie sehen werden, die, Mr Holmes. Wie ich gesagt habe, bin ich Vorstand des Fußballklubs in der Universitätsstadt Cambridge, und Godfrey Staunton ist mein bester Mann. Morgen spielen wir gegen Oxford, und zwar hier in London. Gestern sind wir alle hierher gefahren und haben uns in Bentleys Privathotel einquartiert. Um zehn Uhr machte ich die Runde und sah nach, ob alle Mitglieder zur Ruhe gegangen waren, denn ich halte ausreichenden Schlaf für unerlässlich vor einem Wettspiel. Ich sprach mit Godfrey noch ein paar Worte, ehe er sich hinlegte. Er kam mir blass und aufgeregt vor. Ich fragte ihn, was er habe. Er antwortete, es sei weiter nichts – nur ein bisschen Kopfschmerzen. Ich wünschte ihm Gute Nacht und ging hinaus. Aber Godfrey gefiel mir gar nicht, denn wenn man sich nicht wohlfühlt, und soll doch alle seine Kräfte zur Verfügung haben, vollends wenn einer die Hauptperson im Spiel ist – da konnte die ganze Sache für Cambridge recht brenzlig werden. Nach einer halben Stunde sagt mir der Portier, dass ein Mann mit einem wilden Bart mit einem Brief für Mr Staunton draußen sei. Da er noch auf war, wurde ihm das Schreiben auf sein Zimmer gebracht. Godfrey las es und sank, wie vom Schlag gerührt, auf einen Stuhl. Der Portier war so erschrocken, dass er mich holen wollte, aber Godfrey hielt ihn zurück, ließ sich einen Schluck Wasser geben und stand wieder auf. Dann ging er die Treppe hinunter, wechselte noch ein paar Worte mit dem Überbringer des Briefes, der im Hausflur wartete, und ging mit ihm zusammen weg. Als ihnen der Portier zum letzten Mal nachblickte, liefen sie schon die Straße hinunter. Heute Morgen war Godfreys Zimmer leer, sein Bett war unbenutzt, und auch sonst lag noch alles an derselben Stelle wie am Abend. Er war auf eine plötzliche Nachricht hin mit diesem Unbekannten weggegangen, und wir haben seitdem kein Wort von ihm gehört. Ich glaub’ nicht, dass er je wiederkommt. Er war ein großer Sportsfreund, der Godfrey, mit Leib und Seele, und er würde sein Trainieren nicht unterbrochen und seinen Vorstand im Stich gelassen haben, wenn er nicht einen sehr triftigen Grund gehabt hätte. Nein, ich hab das Gefühl, als ob er für immer fort wäre und wir ihn nie wiedersehen würden.«
Holmes hatte dieser merkwürdigen Erzählung aufmerksam zugehört.
»Was haben Sie dann getan?«, fragte er am Ende.
»Ich telegrafierte nach Cambridge, um zu erfahren, ob man dort was von ihm gehört hätte. Ich bekam die Antwort, kein Mensch hätte ihn gesehen.«
»Konnte er am selben Abend noch nach Cambridge zurückfahren?«
»Ja, es fährt noch ein später Zug – um viertelzwölf.«
»Aber soweit Sie haben in Erfahrung bringen können, hat er ihn nicht benutzt?«
»Nein, es hat ihn niemand gesehen.«
»Was taten Sie nachher?«
»Ich depeschierte an Lord Mount-James.«
»Warum an Lord Mount-James?«
»Godfrey hat keine Eltern mehr, und Lord Mount-James ist sein nächster Verwandter – sein Onkel, glaube ich.«
»Wahrhaftig. Das lässt die Sache schon in einem neuen Licht erscheinen. Lord Mount-James ist einer der reichsten Männer in England.«
»Das hat mir Godfrey auch gesagt.«
»Und Ihr Freund war wirklich nahe verwandt mit ihm?«
»Jawohl, er war sein Erbe, und der alte Knabe ist nahe an die achtzig – und hat außerdem noch die Gicht. Man sagt, er könnte das Billardqueue an seinen Gelenken einkreiden. Er gab Godfrey keinen Heller, er ist ’n furchtbarer Geizkragen, aber immerhin muss es ihm nach dem Tod des Onkels zufallen.«
»Haben Sie von Lord Mount-James Antwort bekommen?«
»Nein.«
»Aus welchem Grund sollte Ihr Freund zu Lord Mount-James gegangen sein?«
»Nun, irgendwas drückte ihn, und wenn’s Geldsorgen waren, ist’s immerhin möglich, dass er seinen nächsten Verwandten drum angegangen hat, der so viel hat; obgleich er, nach allem, was ich weiß, keine großen Chancen hat, was zu bekommen. Godfrey mochte den Alten nicht. Er würde sich nicht an ihn wenden, wenn’s nicht unbedingt nötig wäre.«
»Das lässt sich ja leicht feststellen. Wenn Ihr Freund zu seinem Verwandten, Lord Mount-James, gegangen ist, dann müssen Sie eine Erklärung für den Besuch dieses Mannes mit dem struppigen Bart finden, welcher in so später Stunde gekommen ist, und dessen Brief Ihren Freund so stark erregt hat.«
Overton presste die Hände gegen den Kopf und sagte dann: »Ich kann nicht klug draus werden, dies ganze Unglück bringt mich noch um den Verstand.«
»Nun, ich habe heute weiter nichts vor und will gerne die Sache in die Hand nehmen«, sagte Holmes beruhigend. »Ich rate Ihnen, auf alle Fälle, Ihr Wettspiel ohne Rücksicht auf diesen jungen Herrn zu arrangieren. Es muss, wie Sie selbst sagen, eine starke Notwendigkeit vorgelegen haben, dass er auf diese Weise und unter diesen Umständen fortgegangen ist, und dieselbe zwingende Notwendigkeit wird ihn auch wohl abhalten, rechtzeitig zurückzukommen. Wir wollen zusammen ins Hotel gehen und sehen, ob uns der Portier etwas Neues sagen kann.«
Holmes war ein hervorragender Meister darin, einen Zeugen aus dem niederen Volk sich gefügig zu machen, und so hatte er denn in ganz kurzer Zeit in Stauntons verlassenem Zimmer aus dem Portier alles herausgezogen, was er nur aussagen konnte. Der Besucher von der vorhergehenden Nacht war weder ein feiner Herr noch ein Arbeitsmann, er war, wie der Portier sich ausdrückte »so’n Mittelding«, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit grau meliertem Barthaar, blassem Gesicht und in einfacher Kleidung. Er schien selbst erregt gewesen zu sein. Der Portier hatte gesehen, wie ihm die Hand gezittert hatte, als er ihm das Schreiben überreicht hatte. Staunton hatte den Brief in die Tasche gesteckt. Er hatte dem Mann im Hausflur nicht die Hand gegeben. Sie hatten nur wenige Worte ausgetauscht, von denen der Portier nur das eine – »Zeit« – verstanden hatte. Dann waren sie in der oben angegebenen Weise fortgeeilt. Es war an der Hoteluhr gerade halb elf gewesen.
»Lassen Sie mich mal überlegen«, sagte Holmes, als er sich auf Stauntons Bett setzte. »Sie haben nur am Tag Dienst, nicht wahr?«
»Jawohl, ich habe von elf ab frei.«
»Der Nachtportier hat vermutlich nichts mehr bemerkt?«
»Nein, Herr; spät ist noch ’ne Gesellschaft aus dem Theater gekommen, sonst niemand.«
»Haben Sie gestern den ganzen Tag Dienst gehabt?«
»Jawohl.«
»Haben Sie Mr Staunton sonst irgendwelche Briefschaften gebracht?«
»Jawohl; ein Telegramm.«
»Ah, das ist interessant. Um welche Zeit?«
»Gegen sechs Uhr.«
»Wo war Mr Staunton, als er es in Empfang nahm?«
»Hier in seinem Zimmer.«
»Waren Sie dabei, als er’s aufmachte?«
»Jawohl; ich wartete, ob ich vielleicht Antwort mitnehmen sollte.«
»Nun, hat er geantwortet?«
»Ja. Er schrieb ’ne Antwort auf.«
»Brachten Sie sie zur Post?«
»Nein; er hat sie selbst fortgebracht.«
»Aber er schrieb sie in ihrer Gegenwart?«
»Ja. Ich stand wartend an der Tür, und er saß am Tisch. Als er fertig war, sagte er: ›’s ist gut; ich werde selbst zur Post gehen.‹«
»Womit schrieb er?«
»Mit ’ner Feder, Herr.«
»Benutzte er ein’s von den Depeschen-Formularen hier auf dem Tisch?«
»Ja, natürlich.«
Holmes stand auf. Er nahm den Block mit den Formularen, ging damit ans Fenster und untersuchte das oberste genau.
»Es ist schade, dass er nicht mit dem Bleistift geschrieben hat«, sagte er dann; er zuckte die Achseln und warf die Formulare verstimmt beiseite. »Wie Sie ohne Zweifel häufig beobachtet haben, Watson, drücken sich dabei die Schriftzüge gewöhnlich durch – ein Umstand, der schon manchen Gauner in die Hände der Polizei geliefert hat. Aber hier kann ich nichts finden. Ich freue mich aber, dass er eine breite weiche Feder benutzt hat, und ich glaube sicher, dass wir einen Abdruck auf diesem Löschblatt finden werden. Ah, da haben wir’s ja schon!«
Er riss ein Stück vom Löschblatt ab, und zeigte es uns.
Overton war ganz aufgeregt.
»Halten Sie’s gegen den Spiegel!«, rief er.
»Das ist gar nicht nötig«, antwortete Holmes. »Das Papier ist ziemlich dünn, und auf der Rückseite werden wir die Schrift lesen können.« Er drehte es um, und wir lasen: »Stehen Sie uns um Himmels willen bei!«
»So, das ist aber bloß der Schluss des Telegramms, das Godfrey Staunton wenige Stunden vor seinem Verschwinden abgesandt hat. Es fehlen uns noch wenigstens sechs Worte am Anfang, aber das Ende beweist schon, dass der junge Mann vor einer furchtbaren Gefahr stand, aus der ihn irgendjemand befreien sollte. Uns, wohlgemerkt! Es war also eine zweite Person mit hinein verwickelt. Wer sollte es sonst sein als dieser blasse, bärtige Mann, der sich selbst in so großer Aufregung befand? Welcher Art sind dann aber die Beziehungen zwischen Staunton und dem Mann? Und wer ist der Dritte, von dem sie Hilfe erwarteten gegen die dringende Gefahr? Unsere Nachforschung muss sich auf diese Hilfsquelle stützen.«
»Wir brauchen nur die Adresse dieses Dritten ausfindig zu machen«, warf Mr Overton ein.
»Gewiss, mein Verehrter. Dieser eminent tiefsinnige Gedanke war mir auch bereits gekommen. Aber Sie werden wohl auch schon erfahren haben, dass, wenn man auf dem Postamt nach der Adresse von anderer Leute Depeschen fragt, die Beamten wenig Entgegenkommen zeigen. Die Sache ist nicht so einfach! Immerhin bezweifle ich nicht, dass wir bei einiger Vorsicht und Schlauheit unseren Zweck erreichen können. Einstweilen möchte ich gerne in Ihrer Gegenwart, Mr Overton, diese Briefschaften hier auf dem Tisch durchsehen.«
Es waren eine Menge Briefe, Zettel und Notizen, die Holmes rasch mit scharfem Blick überflog. »’s ist nichts darunter«, sagte er endlich. »Beiläufig bemerkt, Ihr Freund war doch ein gesunder junger Mann – der keinerlei Krankheit an sich hatte?«
»So gesund wie ’n Fisch.«
»Wissen Sie, ob er schon jemals krank war?«
»Keine Stunde. Er hat sich einmal geschnitten, und einmal am Knie verletzt, ’s war aber nicht der Rede wert.«
»Vielleicht war er doch nicht so gesund, wie Sie glauben. Ich bin entschieden der Meinung, dass er eine geheime Störung gehabt hat. Mit Ihrer Einwilligung will ich diese zwei Zettel einstecken, sie können uns bei unseren weiteren Nachforschungen möglicherweise noch zustattenkommen.«
»Einen Moment! Einen Moment!«, rief eine jammernde Stimme, und als wir uns umdrehten, sahen wir einen wunderlichen alten Mann, ruckend und zuckend in der Tür stehen. Er hatte einen alten schwarzen Anzug an, einen breitkrempigen Zylinderhut auf und ein weißes Halstuch um – die ganze Erscheinung war die eines alten Dorfpfarrers, wie sie auf alten englischen Bildern zu sehen sind. Aber trotz seines schäbigen und sonderbaren Aussehens hatte seine Stimme einen scharfen, bestimmten Klang, und sein ganzes Benehmen war so sicher, dass wir ihm unsere Beachtung nicht versagen konnten.
»Wer sind Sie, mein Herr, und mit welchem Recht nehmen Sie Einsicht in die Papiere dieses Herrn?«, fragte er meinen Freund.
»Ich bin Privatdetektiv und versuche aufVeranlassung eines Dritten das Verschwinden jenes Herrn aufzuklären.«
»So, Detektiv sind Sie, sind Sie wirklich? Und wer hat Sie beauftragt, he?«
»Dieser Herr hier, Mr Stauntons Freund; er ist von Scotland Yard an mich gewiesen worden.«
»Und wer sind Sie, mein Herr?«
»Ich bin Cyril Overton.«
»Dann sind Sie’s also, der mir ein Telegramm geschickt hat. Ich heiße Lord Mount-James. Ich bin so rasch heruntergekommen, wie mich der Bayswaterzug nur herbringen konnte. Sie haben also einen Detektiv zugezogen, Mr Overton?«
»Jawohl, mein Herr.«
»Und Sie wollen auch die Kosten bezahlen?«
»Ich zweifle nicht, dass das mein Freund Godfrey tun wird, wenn wir ihn gefunden haben.«
»Wenn er aber nicht gefunden wird, wie ist’s dann, he? Beantworten Sie mir diese Frage!«
»In diesem Fall zweifellos seine Familie.«
»Da gibt’s nichts!«, jammerte der Alte. »Von mir bekommen Sie keinen Pfennig, nicht einen Pfennig! Haben Sie’s gehört, Herr Detektiv? Ich bin die ganze Familie, die dieser junge Mann hat, und ich sage Ihnen, ich bin durchaus nicht verantwortlich. Wenn er was in Aussicht hat, hat er’s dem Umstand zuzuschreiben, dass ich mein Geld stets zusammengehalten habe, und das werde ich auch in diesem Fall tun. Was diese Papiere betrifft, mit denen Sie so frei umgehen, so will ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich, wenn sich irgendeins von Wert darunter befindet, Sie dafür haftbar mache, und genaue Auskunft verlange, was Sie damit tun.«
»Schon gut«, antwortete Holmes. »Einstweilen möchte ich mir die Frage erlauben, ob Sie sich selbst vielleicht inzwischen eine Meinung gebildet haben, wie dieser junge Mann verschwunden ist?«
»Nein, das habe ich nicht. Er ist groß genug und auch alt genug, für sich selbst zu sorgen, und wenn er so dumm ist, sich selbst zu verlieren, weigere ich mich ganz entschieden, die Kosten für seine Wiederauffindung zu übernehmen.«
»Ich verstehe Ihren Standpunkt vollkommen«, erwiderte Holmes mit boshaftem Augenzwinkern. »Vielleicht aber verstehen Sie den meinen nicht ganz recht. Godfrey Staunton scheint ein armer Mann gewesen zu sein. Wenn er entführt worden ist, kann es nicht wegen seines eigenen Besitzes geschehen sein. Der Ruf von Ihrem Reichtum ist weit verbreitet, Lord Mount-James, und es ist wohl möglich, dass sich Einbrecher Ihres Neffen bemächtigt haben, um von ihm Aufschluss über Ihr Haus, Ihre Gewohnheiten und Ihren Geldaufbewahrungsort zu erlangen.«
Das Gesicht unseres kleinen, unliebsamen Besuchers wurde so weiß wie sein Halstuch.
»Himmel, was für ein Gedanke! An so was hab ich nie gedacht! Was für elende Schurken gibt’s doch auf der Welt! Aber Godfrey ist ’n braver Junge – ’n standhafter Junge. Nichts könnte ihn dazu bringen, seinen alten Onkel zu verraten. Aber ich will das Silbergeschirr heute Abend zur Bank bringen lassen. Inzwischen sparen Sie keinen Fleiß, Herr Detektiv! Ich bitte Sie, lassen Sie keinen Stein auf seinem Platz, um ihn wiederaufzufinden. Was das Geld betrifft, nun, bis zu einer Fünf-, ja bis zu einer Zehnpfund-Note, können Sie immerhin auf mich rechnen.«
Aber auch jetzt, in seiner veränderten Gemütsverfassung vermochte uns der Alte keine Auskunft zu geben, die uns etwas hätte nützen können, denn über das Privatleben seines Neffen war er nur wenig unterrichtet. Unser einziger Anhaltspunkt lag in dem unvollständigen Telegramm, und damit versuchte Holmes, ein zweites Glied seiner Kette zu finden. Wir verabschiedeten uns von Lord Mount-James, und Overton ging zu seinen Klubmitgliedern, um mit ihnen über das Missgeschick zu beraten, von dem sie betroffen waren.
In der Nähe des Hotels war ein Telegrafenamt. Wir blieben davor stehen.
»Wir müssen’s versuchen, Watson«, sagte Holmes. »Natürlich, aufgrund einer richterlichen Vollmacht könnten wir Einsicht in die Bücher verlangen, aber soweit ist’s noch nicht gekommen. Ich glaube nicht, dass man sich an einem so verkehrsreichen Amt der einzelnen Gesichter erinnert. Wir wollen’s wagen.«
Wir traten ein und mussten zunächst warten, bis zwei andere vor uns abgefertigt waren.
»Entschuldigen Sie, dass ich störe«, sagte Holmes in der liebenswürdigsten Weise zu der jungen Dame am Schalter, »da ist mir bei einem Telegramm, das ich gestern abgesandt habe, vermutlich ein kleines Versehen passiert. Ich habe noch keine Antwort darauf bekommen und ich befürchte stark, dass ich meine Hoteladresse darunterzusetzen vergessen habe. Vielleicht fehlt sogar mein Name. Würden Sie mir vielleicht sagen, ob dass wirklich der Fall ist?«
Das Fräulein blätterte in einem Bündel Papieren nach.
»Um wie viel Uhr war’s?«
»Etwas nach sechs.«
»An wen war’s adressiert?«
Holmes hielt den Finger an den Mund und sah das Schalterfräulein bittend an. »Die letzten Worte waren ›um Himmels willen‹«, flüsterte er leise in vertrauenerweckendem Ton, »ich bin sehr bekümmert, dass ich keine Antwort erhalten habe.«
Die Schalterdame fand endlich das gesuchte Formular.
»Hier ist’s. Da fehlt die Unterschrift«, sagte sie und reichte es meinem Freund hin.
»Dann ist’s freilich erklärlich, dass ich keine Nachricht erhalten habe«, sagte er. »Wahrhaftig, wie töricht ich doch war! Guten Morgen, Miss, besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit!« Er lachte und rieb sich vergnügt die Hände, als wir wieder draußen auf der Straße waren.
»Nun?«, fragte ich.
»Es geht vorwärts, mein lieber Watson, es geht vorwärts. Ich hatte mir bereits sieben verschiedene Möglichkeiten ausgedacht, wie ich mir einen Einblick in dieses Telegramm verschaffen könnte, aber ich erwartete wirklich kaum, dass gleich die erste zum Ziel führen würde.«
»Und was haben Sie nun damit gewonnen?«
»Einen Ausgangspunkt für die fernere Untersuchung.« Er winkte eine Droschke herbei und rief dem Kutscher zu: »Kings Cross Station.«
»Wir haben also eine Reise vor?«
»Ja, ich denke, wir fahren zusammen nach Cambridge. Alle Anzeichen weisen nach dieser Richtung hin.«
»Sagen Sie mal«, fragte ich ihn, als wir im Wagen saßen, »haben Sie schon eine Ahnung, warum dieser junge Mann verschwunden ist? Ich kann mich kaum an einen Fall erinnern, bei dem die Motive dunkler gewesen wären. Sie glauben doch sicher nicht im Ernst, dass er festgehalten wird, um über seinen reichen Oheim Auskunft zu geben?«
»Ich muss selbst gestehen, mein Lieber, dass mir diese Erklärung nicht allzu wahrscheinlich vorkommt. Ich hielt sie aber für besonders geeignet, um den unliebsamen Alten für die Sache ein wenig zu interessieren.«
»Das hat sie auch sicher getan. Aber was haben Sie sonst noch für Annahmen?«
»Ich könnte Ihnen verschiedene hernennen. Sie müssen zugeben, dass es merkwürdig und auffallend ist, dass die Sache gerade am Abend vor dem Wettspiel passiert und dass gerade der Mann verschwunden ist, dessen Mitwirkung ausschlaggebend zu sein scheint. Es kann selbstverständlich ein bloßer Zufall sein, aber immerhin ist es sonderbar. Beim Liebhabersport wird ja nicht gewettet, aber im Publikum draußen werden trotzdem Wetten abgeschlossen, und es ist nicht unmöglich, dass jemand einen Spieler entführt hat, wie die Schurken beim Pferderennen zuweilen Pferde stehlen. Das ist eine Erklärung. Eine andere, gar nicht unwahrscheinliche Möglichkeit ist die, dass wirklich ein Plan, diesen jungen Menschen in die Gewalt zu bekommen, ausgeheckt wurde, um dann ein Lösegeld zu erpressen, denn wenn er auch gegenwärtig über keine größeren Mittel verfügt, hat er doch ein großes Vermögen in Aussicht.«
»Aber mit diesen Theorien steht die Depesche in keinerlei Zusammenhang.«
»Sehr richtig, Watson. Das Telegramm ist und bleibt die einzige solide Grundlage, mit der wir rechnen können und von der wir nicht abgehen dürfen. Um Licht in die Sache zu bringen, fahren wir jetzt nach Cambridge. Wie sich unsere Nachforschung gestalten wird, ist mir vorläufig noch unklar, aber es sollte mich sehr wundern, wenn wir unser Ziel bis morgen Abend nicht erreicht hätten, oder ihm doch um ein gutes Stück näher gekommen wären.«
Es war schon dunkel, als wir in der alten Universitätsstadt ankamen. Holmes nahm am Bahnhof eine Droschke und befahl dem Kutscher, zur Wohnung des Dr. Leslie Armstrong zu fahren. Nach einigen Minuten hielten wir vor einem großen Haus in einer belebten Straße. Wir wurden ins Wartezimmer geführt und nach längerem Warten endlich ins Sprechzimmer vorgelassen. Der Doktor saß hinter dem Schreibtisch.
Dass mir der Name Leslie Armstrong unbekannt war, beweist, wie sehr ich alle Fühlung mit meinem Beruf verloren hatte. Jetzt weiß ich, dass er nicht nur einer der bedeutendsten Professoren der medizinischen Fakultät der Universität Cambridge ist, sondern ein Gelehrter, der sich in mehr als einem Wissenschaftszweig eines Weltrufs erfreut. Aber auch auf denjenigen, der keine Ahnung von der Berühmtheit dieses Mannes hatte, musste sein außergewöhnlicher, viereckiger Kopf mit den klugen Augen und den energischen, harten Gesichtszügen einen bleibenden Eindruck machen. Er schien mir eine tiefangelegte Natur, streng, asketisch, verschlossen, unbeugsam und furchtbar – dieser Dr. Armstrong. Er hatte die Visitenkarte meines Freundes in der Hand und blickte uns nicht gerade allzu freundlich an.
»Ich kenne Sie dem Namen nach, Mr Holmes, und auch Ihre Tätigkeit, die ich keineswegs billige.«
»Diese Ansicht dürften wohl alle Verbrecher in England mit Ihnen teilen, Herr Professor«, antwortete Holmes ganz ruhig.
»Soweit sich Ihre Bemühungen darauf erstrecken, Verbrechen zu unterdrücken, müssen sie die Unterstützung jedes vernünftig denkenden Mitgliedes der menschlichen Gesellschaft finden, obgleich ich nicht bezweifle, dass die amtliche Polizei derartig organisiert ist, dass sie allein diesen Zweck erfüllen kann. Aber offenen Tadel verdient Ihre Tätigkeit, wenn Sie die Geheimnisse von Privatpersonen auskundschaften, wenn Sie Familienverhältnisse aufdecken, die besser verborgen blieben, und wenn Sie gelegentlich die Zeit von Männern in Anspruch nehmen, die mehr und vor allem Wichtigeres zu tun haben als Sie. Gegenwärtig sollte ich zum Beispiel eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben, statt mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Ohne Zweifel, Herr Doktor; und doch erweist sich die Unterhaltung vielleicht als wichtiger denn die wissenschaftliche Abhandlung. Übrigens möchte ich Ihnen erwidern, dass wir genau das Gegenteil von dem tun, was Sie kritisieren, und dass wir gerade zu verhindern suchen, dass Privatangelegenheiten in die Öffentlichkeit dringen, was unbedingt der Fall ist, wenn eine Sache einmal in den Händen der offiziellen Polizei ist. Sie können mich also einfach als einen Vorkämpfer der regulären Polizei des Landes betrachten. Ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie nach Mr Godfrey Staunton zu fragen.«
»Inwiefern?«
»Sie kennen ihn doch, nicht wahr?«
»Er ist ein Bekannter von mir.«
»Ah, wirklich!«
Der Professor verzog keine Miene bei diesen Worten.
»Er ist vergangene Nacht aus seinem Hotel fortgegangen, und man hat nichts wieder von ihm gehört.«
»Er wird sicher wiederkommen.«
»Morgen findet der Wettstreit der akademischen Fußballklubs statt.«
»Ich bringe diesen kindischen Spielen sehr wenig Sympathie entgegen. Das Geschick des jungen Mannes interessiert mich jedoch sehr, weil ich ihn kenne und gern habe. Von dem Fußballwettkampf weiß ich dagegen absolut nichts, er kümmert mich nicht im Geringsten.«
»Ich rechne dann darauf, dass Sie mir bei der Wiederauffindung des Mr Staunton Ihre Hilfe nicht versagen. Kennen Sie seinen Aufenthaltsort?«
»Durchaus nicht!«
»Sie haben ihn seit gestern nicht mehr gesehen?«
»Nein.«
»War Mr Staunton ein gesunder Mann?«
»Vollkommen.«
»Ist er Ihres Wissens jemals krank gewesen?«
»Nie.«
Holmes legte dem Professor ein Stück Papier vor. »Dann haben Sie wohl die Güte, sich über diese Quittung über acht Pfund zu äußern, die Mr Staunton im letzten Monat an Herrn Dr. Leslie Armstrong in Cambridge bezahlt hat. Ich fand sie unter den Briefschaften auf seinem Schreibtisch.«
Der Doktor wurde rot vor Zorn.
»Ich sehe keinerlei Grund, warum ich Ihnen eine Erklärung darüber schuldig wäre, Mr Holmes.«
Mein Freund legte den Zettel wieder in sein Notizbuch.
»Wenn Sie eine öffentliche Aufklärung vorziehen, gut! Sie wird früher oder später nicht zu vermeiden sein«, erwiderte er. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich Dinge vertuschen kann, die andere an die Öffentlichkeit zu ziehen verpflichtet sind, und Sie würden wirklich klüger tun, mir volles Vertrauen entgegenzubringen.«
»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen? Habe aber auch gar keine Veranlassung.« –
»Haben Sie aus London keine Nachricht von Mr Staunton bekommen?«
»Sicher nicht.«
Holmes schlug ärgerlich mit der Hand auf den Tisch.
»Alle Wetter, wieder mal diese erzbummelige Post!«, rief er entrüstet. »Gestern Abend um sechs Uhr fünfzehn ist ein sehr dringendes Telegramm aus London von Mr Staunton an Sie aufgegeben worden – ein Telegramm, das ohne Zweifel mit seinem Verschwinden in Zusammenhang steht – und das Sie nicht erhalten haben. Das ist unverzeihlich. Ich werde entschieden zum Telegrafenamt gehen und Beschwerde führen.«
Dr. Armstrong sprang wütend auf.
»Ich muss Sie bitten, sofort mein Haus zu verlassen«, sagte er. »Sagen Sie Ihrem Auftraggeber, Lord Mount-James, dass ich weder mit ihm noch mit seinen Agenten etwas zu schaffen haben will. Nein, kein Wort mehr!« Er klingelte heftig. »Johann, leuchte diesen Herren hinaus!« Ein Diener wies uns die Tür, und wir standen draußen auf der Straße. Holmes fing laut zu lachen an.
»Dieser Dr. Armstrong ist ganz bestimmt ein energischer Charakter«, sagte er. »Ich habe noch keinen Mann kennengelernt, der, wenn er sich darauf verlegen wollte, geeigneter wäre, die Stelle des berühmten verstorbenen Professors Moriarty1 auszufüllen. Und nun, mein lieber Watson, stehen wir hier, auf die Straße gesetzt und obdach- und freundlos in dieser ungastlichen Stadt; trotzdem können wir nicht fort, wenn wir unseren Fall nicht gänzlich aufgeben wollen. Das kleine Wirtshaus gegenüber Armstrongs Wohnung passt für unsere Zwecke ausgezeichnet. Wenn Sie ein Wohnzimmer mieten und die paar unentbehrlichen Kleinigkeiten für die Nacht einkaufen wollten, möchte ich die Zeit benutzen, einige Nachforschungen anzustellen.«
Diese Recherchen schienen jedoch zeitraubender zu sein, als sich Holmes eingebildet hatte, denn er kehrte erst kurz vor neun Uhr ins Gasthaus zurück. Er war blass und niedergeschlagen, mit Schmutz bespritzt und erschöpft vor Hunger und Ermüdung. Ein kaltes Abendbrot stand schon für ihn bereit, und als er seine Bedürfnisse befriedigt und seine Pfeife angezündet hatte, machte er jenes halb komische und ganz philosophische Gesicht, das ihm eigen war, wenn seine Sachen schiefgingen. Das Gerassel von Wagenrädern erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit; er stand rasch auf und guckte zum Fenster hinaus. Vor dem Toreingang der Wohnung Armstrongs stand ein verdeckter Wagen, mit zwei Schimmeln bespannt.
»Er ist drei Stunden unterwegs gewesen«, sagte Holmes; »um halb sieben abgefahren, jetzt kommt er erst zurück. Das entspricht ungefähr einer Strecke von zehn bis zwölf Meilen im Umkreis, und diese Tour macht er jeden Tag ein-, zuweilen auch zweimal.«
»Das ist nichts Auffallendes bei einem praktischen Arzt.«
»Aber Armstrong ist kein gewöhnlicher praktischer Arzt. Er ist Professor an der Universität und hält nur in der Wohnung Sprechstunde ab, kümmert sich aber um allgemeine Praxis gar nicht, um nicht von seinen wissenschaftlichen Arbeiten abgelenkt zu werden. Wozu unternimmt er dann diese langen Fahrten, die ihm doch ungeheuer lästig sein müssen, und wen besucht er?«
»Sein Kutscher ...«
»Mein lieber Watson, können Sie darüber im Zweifel sein, dass er nicht der erste Mensch war, an den ich mich wandte? Ich weiß nicht, ob er’s aus angeborener Rohheit oder auf Geheiß seines Herrn getan hat, aber er war niederträchtig genug, einen Hund auf mich zu hetzen. Aber Hund wie Kutscher trauten meinem Stock nicht, sodass ich mit heiler Haut davonkam. Bei derartig gespannten Beziehungen waren weitere Nachforschungen von dieser Seite unmöglich. Alles, was ich erfahren habe, verdanke ich einem freundlichen Mann hier unten in unserer Herberge. Er erzählte mir von den Gewohnheiten des Doktors und von seinen täglichen Ausfahrten. Wie um seine Aussagen zu bestätigen, kam auch gerade im selben Augenblick der Wagen aus dem Hof heraus.«
»Konnten Sie ihm nicht folgen?«
»Großartig, Watson! Sie sprühen heute Abend nur so Gedankenblitze aus. Diese Idee kam mir wahrhaftig auch in den Sinn. Wie Sie vielleicht gesehen haben, befindet sich ganz in der Nähe unseres Gasthauses ein Fahrradgeschäft. Ich lief schnell hinein, mietete mir ein Bycicle und fuhr, ehe es mir noch ganz außer Sicht gekommen war, hinter dem Gefährt her. Ich holte es rasch ein, hielt mich dann in einer achtbaren Entfernung von ungefähr hundert Metern und folgte seinen Laternen. Wir waren bereits außerhalb der Stadt und schon ein gutes Stück auf der Landstraße weiter gefahren, als mir ein trauriges Missgeschick passierte. Der Wagen hielt, der Professor stieg aus, ging geschwind zurück, wo ich auch angehalten hatte, und sagte mir hohnlachend, er fürchtete, der Weg, den er jetzt fahre, würde für mich zu schmal sein, um vorbeizukommen, er möchte mich jedoch durch seinen Wagen durchaus nicht hindern. Dieser Zwischenfall war mir sehr unangenehm und merkwürdig. Ich fuhr sofort an dem Wagen vorbei und die Hauptstraße entlang. Nach ein paar Meilen machte ich an einer passenden Stelle halt, um zu sehen, ob der Wagen vorbeifahren würde. Es zeigte sich jedoch keine Spur von ihm, er war offenbar in einen der verschiedenen Seitenwege eingebogen, die ich bemerkt hatte. Ich radelte zurück, konnte aber von dem Wagen nichts entdecken; nun ist er, wie Sie merken, eben zurückgekommen. Natürlich hatte ich anfangs nicht erwartet, dass diese Fahrten in direktem Zusammenhang mit dem Verschwinden des jungen Staunton ständen, ich fuhr nur dahinter her, weil mich augenblicklich alles interessiert, was Dr. Armstrong unternimmt; aber nun, wo ich weiß, dass er so genau aufpasst, ob nicht jemand hinter ihm ist, erscheint mir die Sache bedeutend wichtiger, und ich werde mich nicht eher zufriedengeben, bis ich mir volle Klarheit verschafft habe.«
»Dann können wir ihm ja morgen wieder folgen.«
»Können wir? Das ist nicht so leicht, wie Sie sich vorstellen. Sie kennen sicher die Landschaft hier nicht. Sie eignet sich schlecht zu Verstecken. Die ganze Gegend, durch die ich heute Abend gekommen bin, ist so flach und eben wie eine Tischplatte, und wir sind hinter keinem Dummen, das habe ich eben deutlich erfahren. Ich habe an Overton telegrafiert, mich von jeder etwaigen neuen Entwicklung in London sofort zu benachrichtigen. Einstweilen müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem Herrn Dr. Armstrong zuwenden, dessen Namen ich durch die Liebenswürdigkeit des jungen Schalterfräuleins kennengelernt habe. Er weiß, wo sich der junge Mann aufhält – darauf will ich schwören – und wenn er’s weiß, liegt’s an uns, wenn wir’s nicht auch erfahren. Augenblicklich lässt sich nicht leugnen, dass er gegen uns im Vorteil ist, und, wie Ihnen bekannt ist, Watson, pflege ich eine Sache nicht in diesem Stadium aufzugeben.«
Aber der nächste Tag brachte uns der Lösung unseres Problems nicht näher. Während des Frühstücks erhielten wir ein Billett, das mir Holmes lächelnd über den Tisch warf.
Es lautete:
Geehrter Herr, ich kann Ihnen versichern, dass es verlorene Mühe ist, wenn Sie meinem Wagen folgen. Wie Sie gestern Abend gemerkt haben werden, ist hinten ein Fensterchen drin, und wenn Sie zwanzig Meilen weit hinter mir herfahren, werden Sie doch nur wieder am Ausgangspunkt ankommen. Übrigens kann ich Ihnen die Mitteilung machen, dass alles Spionieren dem Mr Staunton in keiner Weise zustattenkommen wird, und ich bin überzeugt, dass Sie dem Herrn den besten Dienst erweisen, wenn Sie sofort nach London zurückreisen und Ihrem Auftraggeber berichten, dass Sie ihn nicht aufzuspüren vermögen. Die Zeit, welche Sie in Cambridge verbringen, ist sicher verloren.
Ihr ergebener
Dr. Leslie Armstrong.
»Der Doktor ist wenigstens ein offener und ehrlicher Gegner«, sagte Holmes. »Er regt meine Neugierde an, und ich muss ihn wirklich näher kennenlernen, ehe ich mich von ihm trenne.«
»Sein Wagen steht eben wieder vor der Tür«, sagte ich. »Er steigt gerade ein. Ich bemerkte, wie er erst nach unserem Fenster heraufsah. Ich schlage vor, ich versuche mein Glück auf dem Rad.«
»Nein, nein, mein lieber Watson! Bei aller Achtung vor Ihrem natürlichen Scharfsinn, dem würdigen Doktor gegenüber würden Sie doch bald ins Hintertreffen geraten. Ich glaube, dass ich unseren Zweck auch auf andere Weise erreichen kann. Es tut mir leid, Sie heute Ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Wenn wir uns aber beide auf den Weg machten, würde es zu sehr auffallen und zu mehr Gerede Veranlassung geben, als mir lieb wäre. Ich hoffe, dass Sie sich in dieser ehrwürdigen Stadt während meiner Abwesenheit gut unterhalten und dass ich Ihnen eine erfreulichere Kunde mitbringen kann als gestern Abend.«
Mein Freund sollte aber ein zweites Mal verstimmt heimkehren. Er kam in der Nacht zurück, verdrießlich und ohne etwas erreicht zu haben.
»Ich habe heute gar nichts bezweckt, Watson. Nachdem ich die Richtung herausgefunden hatte, die der Professor einschlug, habe ich den ganzen Tag damit verbracht, sämtliche Dörfer auf dieser Seite der Stadt zu besuchen und an allen möglichen Stellen Erkundigungen einzuziehen. Ich habe ein gutes Stück Wegs hinter mir: Chesterton, Histon, Waterbeach und Oakington habe ich durchgekundschaftet, aber nirgends etwas gehört. Ein Landauer mit zwei Schimmeln würde in solchen abgelegenen Nestern sicher nicht übersehen worden sein. Der Doktor ist immer noch im Vorteil. Ist ein Telegramm flir mich angekommen?«
»Jawohl.« Ich öffnete es, und er las:
»›Erbitten Sie Pompey von Jeremy Dixon, Trinity Colleges.‹«
»Ich kann mir nichts dabei denken«, sagte ich.
»O, mir ist’s ziemlich klar. Es ist von unserem Freund Overton und enthält die Antwort auf eine Anfrage von mir. Ich will gleich ein paar Zeilen an Mr Dixon schreiben, und dann darf ich wohl glauben, dass sich das Glück wenden wird. Nebenbei, haben Sie etwas von dem Wettspiel gehört?«
»Ja, die Lokalblätter haben einen längeren Bericht gebracht. Am Schluss steht:
›Die Niederlage der Hellblauen ist nur dem Fehlen des internationalen Siegers, Mr Godfrey Staunton, zuzuschreiben, dessen Abwesenheit sich jeden Augenblick beim Spiel bemerkbar machte. Diese Lücke vermochten auch die schwersten Anstrengungen der übrigen Mitglieder nicht auszugleichen.‹«
»Darum sind also die Befürchtungen Overtons gerechtfertigt gewesen«, antwortete Holmes. »Ich persönlich stehe übrigens auf dem Standpunkt des Dr. Armstrong, mich interessiert das Fußballspiel nicht, oder doch nur wenig. Heute geht’s früh zu Bett, Watson, denn voraussichtlich haben wir morgen einen ereignisreichen Tag.«
Als ich Holmes am ändern Morgen erblickte, bekam ich einen nicht gelinden Schrecken. Er saß am Kaminfeuer und hatte die Morphiumspritze in der Hand. Ich brachte dieses Instrument mit seiner bekannten schwachen Seite in Zusammenhang und fürchtete bereits das Schlimmste, als ich’s in seiner Hand glitzern sah. In dem Zimmer herrschte ein eigener scharfer Geruch, der mich sofort an eine Spelunke erinnerte, die wir in London einmal aufgesucht hatten, um einem französischen Verbrecher auf die Spur zu kommen. Holmes lachte über meine Ängstlichkeit und legte das Instrument auf den Tisch.
»Nein, nein, mein Lieber, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. In diesem Fall ist’s kein Werkzeug des Bösen, vielmehr soll es den Schlüssel zur Auflösung unseres Geheimnisses bilden. Ich setze alle meine Hoffnungen auf diese Spritze. Ich bin gerade von einem kleinen Patrouillengang zurück; die Aussichten sind sehr günstig für uns. Nehmen Sie ein tüchtiges Frühstück, Watson, denn ich habe heute vor, Armstrongs Spur zu verfolgen, und, sobald ich einmal drauf bin, werde ich mir weder zum Ausruhen noch zum Essen Zeit nehmen, bis ich ihn aufgefunden habe.«
»In diesem Fall«, antwortete ich, »würden wir am besten unser Frühstück mitnehmen, denn er scheint früh aufzubrechen, sein Wagen steht schon vor der Tür.«
»Das schadet nichts. Lass ihn nur losfahren. Er soll sich wundern, ob ich ihm nicht überallhin folgen kann. Wenn Sie fertig gegessen haben, wollen wir zusammen hinuntergehen, und ich will Sie einem Detektiv vorstellen, der ein hervorragender Spezialist auf dem Gebiet ist, mit dem wir heute zu tun haben.«
Als wir unten im Hof waren, ging Holmes in einen Stall. Er machte den Deckel einer Kiste auf und heraus sprang ein kräftiger, weiß und braun gezeichneter Jagdhund mit langem Behang, eine Kreuzung von Schweiß- und Fuchshund.
»Darf ich Ihnen Pompey vorstellen?«, sagte mein Freund. »Er ist der Stolz der Cambridger Spürhunde; er läuft nicht übermäßig schnell, wie Sie aus seinem Bau erkennen werden, aber er hat eine ausgezeichnete Nase. Nun, Pompey, wenn du auch kein allzu guter Läufer bist, fürchte ich doch, dass du für ein paar Londoner Herren in mittleren Jahren noch ein zu rasches Tempo einschlägst, ich will daher so frei sein und diese lederne Leine an deinem Halsband festmachen. Nun komm, alter Freund, und zeig, was du kannst.«
Er führte ihn hinüber an die Toreinfahrt von Dr. Armstrongs Wohnhaus. Der Hund schnüffelte einen Augenblick, dann winselte er laut vor Begierde, und dann ging’s die Straße hinunter. In einer halben Stunde waren wir draußen vor der Stadt und eilten eine Landstraße entlang.
»Was haben Sie getan, Holmes?«, fragte ich ihn.
»Ich habe zu einer altbekannten und ehrwürdigen List meine Zuflucht genommen, die manchmal recht nützlich ist. Ich bin heute früh beim Doktor im Hof gewesen und hatte die Spritze voll Anisöl in meiner Hosentasche. Die Spitze hatte ich nach außen ein ganz klein wenig durchgestochen, und im Vorbeigehen habe ich das aromatische Ol völlig unbemerkt an das hintere Wagenrad gespritzt. Ein Spürhund verfolgt diese Anisfährte von hier bis nach Buxtehude, und unser Freund Armstrong kann so weit fahren, wie er Lust hat, ohne den guten Pompey loszuwerden. Oh, der alte Schlaumeier! Er soll mir diesmal nicht wieder entwischen wie vorgestern und gestern.«
Nun erklärte sich auch, warum mich jener Geruch sofort an die Franzosenkneipe erinnerte. Es war der Anisgeruch, der dem bei den Franzosen so beliebten Anislikör und dem Absinth entströmt.
Der Hund war plötzlich von der Hauptstraße ab und in einen Feldweg eingebogen. Nach einer halben Stunde führte er wieder auf eine Chaussee und beinahe wieder direkt in Richtung Stadt, wo wir hergekommen waren. Diese Straße machte eine Biegung nach Süden, ging dann aber wieder in entgegengesetzter Richtung weiter.
»Diesen Umweg hat er nur uns zu Gefallen gemacht«, sagte Holmes. »Da ist’s kein Wunder, dass meine Nachfragen in jenen Ortschaften resultados verlaufen sind. Der Doktor hat sich entschieden keine Mühe verdrießen lassen, uns hinter’s Licht zu führen, und ich möchte zu gerne wissen, was er mit dieser Täuschung bezweckt hat. Das Dorf dort zur Rechten muss Trumpington sein. Wahrhaftig! Hier kommt sein Wagen um die Ecke. Rasch, Watson, rasch, oder wir haben verloren!«
Er sprang über den Graben ins Feld, den betrübten Pompey hinter sich herziehend. Wir hatten uns kaum hinter einer Hecke verborgen, als das Fuhrwerk vorbeisauste. Ich sah flüchtig, dass Dr. Armstrong drin saß, niedergebeugt, den Kopf auf die Hände gestützt, ein Bild äußerster Sorge und Bekümmernis. An dem ernsten Gesicht meines Gefährten bemerkte ich, dass ihm dieser Anblick auch nicht entgangen war.
»Ich fürchte, dass unsere Untersuchung ein schlimmes Ende nimmt«, sagte er zu mir. »Es wird nicht mehr lange dauern, so sind wir im Klaren. Komm, Pompey! Aha, es ist das Häuschen dort mitten im Feld!«
Es war nicht mehr zweifelhaft, dass wir am Ziel angelangt waren. Pompey sprang um den Eingang herum und winselte; die Spuren der Räder waren noch sichtbar. Ein Fußpfad führte zu der einsamen Hütte. Holmes band den Hund am Zaun fest, und wir eilten darauf zu. Mein Freund pochte an die niedrige Tür, er klopfte zum zweiten Mal, aber kein Mensch machte auf. Und doch war das Häuschen nicht unbewohnt, denn es drang ein leises Geräusch an unser Ohr, eine Art Stöhnen und Jammern – es klang unsäglich traurig. Holmes blieb unentschlossen stehen, dann schaute er sich um. Ein Wagen kam heran, und wir konnten die Schimmel wiedererkennen.
»Bei Gott, der Professor kehrt noch mal zurück!«, rief Holmes. »Das treibt uns zur Tat. Wir müssen sehen, was los ist, eh’ er kommt.«
Er öffnete nun selbst die Tür, und wir traten in den Hausflur. Wir hörten das Wehklagen deutlicher. Es kam von oben. Holmes stürzte die Treppe hinauf, und ich folgte ihm. Er stieß eine halb offene Tür auf, und wir erblassten beide bei dem Anblick, der sich uns bot.
Auf einem Bett lag tot ein junges, hübsches Weib. Ihr friedliches, bleiches Gesicht mit den trüben, weitgeöffneten Augen war von goldenem Haar umrahmt. Am Bett hockte ein junger Mann, halb sitzend, halb kniend, das Gesicht in die Betttücher vergraben; sein Körper zuckte heftig vor Schluchzen. Er war so von seinem Schmerz überwältigt, dass er erst aufblickte, als ihm Holmes die Hand auf die Schulter legte.
»Sind Sie Mr Godfrey Staunton?«
»Ja, ja; ich bin’s – aber Sie kommen zu spät: Sie ist tot.«
Der Mann war so verstört, dass er nicht begreifen konnte, dass wir nicht etwa Ärzte seien, die zu Hilfe gekommen wären. Als ihm Holmes einige Worte des Trostes sagte und ihm auseinanderzusetzen suchte, dass seine Freunde durch sein plötzliches Verschwinden in große Unruhe versetzt worden seien, hörten wir Tritte auf der Treppe; und in der Tür erschien das ernste, strenge, fragende Gesicht Doktor Armstrongs.
»So, meine Herren«, redete er uns an. »Sie haben Ihren Zweck erreicht und gewiss einen besonders passenden Moment gewählt, hier einzudringen. Ich will im Angesicht des Todes nicht laut werden, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass Sie, wenn ich noch jünger wäre, wegen Ihres geradezu unverantwortlichen Benehmens nicht ohne eine gehörige Züchtigung von mir davonkämen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor Armstrong«, erwiderte mein Freund würdig, »ich glaube wir verstehen uns gegenseitig nicht. Wenn Sie mit uns hinuntergehen wollten, könnten wir diese traurige Angelegenheit wohl gegenseitig aufklären.«
Nach etwa einer Minute befanden wir uns mit dem grimmigen Professor unten im Wohnzimmer.
»Nun?«, begann er.
»In erster Linie möchte ich Ihnen sagen, dass ich nicht im Auftrag des Lord Mount-James handle und dass meine Sympathien in diesem Fall durchaus nicht aufseiten dieses Mannes sind. Wenn jemand vermisst wird, ist es meine Pflicht, mich um sein Schicksal zu kümmern. Während ich das getan habe, hat die Sache ein so unglückseliges Ende genommen, das ich von Herzen bedauere. Im Übrigen bin ich nicht der Mann, der öffentliche Skandale wünscht, sondern vielmehr darauf bedacht, Privatsachen nicht so weit kommen zu lassen; wenn nicht etwa Verbrechen vorliegen. Wenn es sich hier, wie ich glaube, um keine Gesetzesverletzung handelt, können Sie vollkommen auf meine Verschwiegenheit rechnen und auf meine Mitwirkung, dass die Angelegenheit nicht in die Zeitungen kommt.«
Dr. Armstrong ging auf meinen Freund zu und schüttelte ihm die Hand.
»Sie sind ein wackerer Mann«, sagte er. »Ich hatte Sie falsch beurteilt. Ich freue mich, dass es mir mein Gewissen nicht erlaubte, den armen Staunton in diesem Zustand allein zu lassen, und dass ich dadurch Ihre Bekanntschaft gemacht habe. Da ich so gut unterrichtet bin wie Sie, ist die Situation leicht geklärt. Vor einem Jahr wohnte Staunton eine Zeit lang in London und verliebte sich leidenschaftlich in die Tochter seiner Wirtsleute und heiratete sie. Sie war ebenso gut, wie sie schön war, und ebenso intelligent, wie sie gut war. Kein Mann braucht sich einer solchen Frau zu schämen. Aber Godfrey war der Erbe dieses griesgrämigen alten Lords, und es unterlag keinem Zweifel, dass das Bekanntwerden dieser Heirat das Ende der Erbschaft bedeutet hätte. Ich kannte den Jungen sehr gut und liebte ihn wegen vieler vorzüglichen Eigenschaften. Ich tat alles, was in meinen Kräften stand, um ihn vor Schaden zu bewahren. Wir boten alles auf, um die Sache vor allen zu verheimlichen, denn wenn so etwas erst mal durchsickert, dauert es nicht lange, so weiß es alle Welt. Dank dieser abgelegenen Wohnung und seiner eigenen Verschwiegenheit ist es Godfrey bis jetzt gelungen, das Geheimnis zu bewahren. Es kannte niemand außer mir und einem zuverlässigen Diener, der gegenwärtig nach Trumpington gegangen ist, um noch Hilfe zu holen. Aber endlich traf den armen Ehemann ein schwerer Schlag, seine Frau befiel eine gefährliche Krankheit. Es war Schwindsucht der schlimmsten Art. Der arme Mensch wurde beinahe von Kummer verzehrt und musste trotzdem nach London zum Wettspiel gehen, weil er sich dessen nicht entziehen konnte, ohne sein Geheimnis zu verraten. Ich suchte ihn durch ein Telegramm zu ermutigen, worauf er an mich depeschierte, dass ich alles tun sollte, was ich vermöchte. Das war das Telegramm, das Ihnen auf irgendeine unerklärliche Weise zu Gesicht gekommen ist. Ich hatte ihm nicht mitgeteilt, wie groß die Gefahr eigentlich war, denn ich wusste, dass er hier nichts an der Sache ändern konnte, aber dem Vater des Mädchens schrieb ich die Wahrheit, und er hat es nun unverständigerweise Godfrey hinterbracht. Das Resultat davon war, dass er in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand hierherkam, und auch darin geblieben ist. Heute Morgen hat der Tod nun ihren Leiden ein Ende gemacht. Das ist der volle und wahre Sachverhalt, Mr Holmes. Ich glaube, dass ich mich auf Ihre und Ihres Freundes Diskretion fest verlassen kann.«
Holmes reichte dem Arzt die Hand.
»Kommen Sie, Watson«, sagte er alsdann; und wir verließen zusammen das Haus des Jammers und traten hinaus in den matten Schein der Wintersonne.
1 Vgl. »Das letzte Problem« und »Im leeren Haus«.