Isa Whitney, der Bruder des weiland Elias Whitney, Doktors der Theologie und Rektors des Predigerseminars von St. Georgen, war ein starker Opiumraucher. Soviel ich weiß, kam er durch eine Jugendeselei dazu, als er noch auf der Schule war. Er hatte damals De Quinceys Beschreibung seiner Träume und Empfindungen gelesen und tränkte seinen Rauchtabak mit Opiumtinktur, um womöglich dieselbe Wirkung zu erzielen. Dabei ging es ihm aber wie schon so manchem vor ihm: Er fand, dass es viel leichter ist, eine Gewohnheit anzunehmen, als sie wieder abzulegen; so blieb er jahrelang ein Sklave dieses Gifts und wurde seinen Freunden und Verwandten zum Gegenstand des Abscheus oder auch des Mitleids. Noch sehe ich ihn vor mir in einem Lehnstuhl zusammengekauert mit dem gelben, aufgedunsenen Gesicht, den schlaffen Augenlidern und den bis zum Umfang eines Stecknadelknopfes verkleinerten Pupillen, die traurige Ruine eines ursprünglich edlen Menschen.
Eines Abends – es war im Juni 1889 – so um die Zeit, wenn der Mensch anfängt zu gähnen und nach der Uhr zu sehen, wurde an meinem Haus die Klingel gezogen. Ich fuhr in die Höhe, und meine Frau ließ mit verstimmtem Gesicht ihre Handarbeit in den Schoß sinken. »Ein Kranker«, sagte sie. »Du wirst nochmals fortgehen müssen.«
Ich seufzte, denn soeben war ich von schwerem Tagewerk heimgekehrt. Wir hörten die Haustür gehen, vernahmen ein paar hastige Worte und dann rasche Schritte auf dem Linoleum. Unsere Zimmertür flog auf, und herein trat eine dunkel gekleidete, schwarz verschleierte Dame.
»Entschuldigen Sie meinen späten Besuch«, begann sie, doch plötzlich, allen Halt verlierend, stürzte sie auf meine Frau zu und warf sich ihr schluchzend um den Hals.
»Ach, ich bin in entsetzlicher Lage«, rief sie aus, »und bedarf dringend des Beistandes!«
»Was, das ist Kate Whitney?«, sagte meine Frau und schlug ihrem Gast den Schleier zurück. »Wie du mich aber erschreckt hast, Kate! Als du hereinkamst, hatte ich keine Ahnung, wer du seist.«
»Ach, ich wusste keinen anderen Ausweg, als zu dir zu flüchten.«
Es war die alte Geschichte; jeder, der in Not war, kam zu meiner Frau, wie die Vögel zum Leuchtturm fliegen.
»Wie lieb von dir, dass du gekommen bist. Jetzt trinke nur erst ein Glas Wein mit Wasser und setze dich behaglich her, dann erzählst du uns alles. Oder möchtest du lieber, dass ich James zu Bett schicke?«
»Nein, gewiss nicht! Denn ich bedarf auch des Doktors Rat und Beistand. Es handelt sich um meinen Mann. Seit zwei Tagen ist er nicht mehr nach Hause gekommen, und ich bin in entsetzlicher Angst um ihn!«
Nicht zum ersten Mal sprach sie mit uns von ihrem Kummer um den Gatten, mit mir als Arzt und mit meiner Frau als alter Freundin und Vertrauten noch von der Schule her. Wir beruhigten und trösteten sie nach Kräften. Ich fragte, ob sie wisse, wo sich ihr Gatte aufhalte; ob wir ihr helfen könnten, ihn nach Hause zu schaffen.
Es schien so: Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass er in letzter Zeit, wenn ihn der krankhafte Drang überkam, eine Opiumhöhle im entferntesten Osten der Stadt aufgesucht habe. Bisher hatten sich seine Orgien immer nur auf einen Tag beschränkt, worauf er dann wankend und gebrochen am Abend heimkehrte. Aber diesmal war er schon seit zweimal vierundzwanzig Stunden im Bann seiner Leidenschaft und lag ohne Zweifel unter dem Auswurf des Schiffervolkes, um das Gift in sich aufzunehmen oder dessen Folgen zu verschlafen. Dort in der ›Goldschenke‹ in der Upper Swandam Street wäre er, meinte sie, sicherlich zu finden. Aber was könnte sie da tun? Wie sollte sie, die junge, ängstliche Frau, in einen solchen Ort eindringen und ihren Gatten aus der Mitte des Gesindels, das sich dort aufhielt, herausholen?
So lagen die Dinge, und in der Tat gab es nur einen einzigen Ausweg. Ob ich sie nicht dorthin begleiten wollte? Oder – ob es am Ende besser wäre, ich ginge allein? Ich sei ja ihres Mannes ärztlicher Ratgeber und besäße als solcher Einfluss auf ihn. Ich wäre viel unbehinderter in allem. Ich gab ihr mein Wort darauf, ihn binnen zwei Stunden in einem Wagen heimzusenden, vorausgesetzt, dass ich ihn wirklich an dem von ihr bezeichneten Ort fände. Und zehn Minuten später hatte ich auch schon den Lehnstuhl und das behagliche Wohnzimmer im Rücken und fuhr davon in einer Angelegenheit, die mir von vornherein höchst absonderlich vorkam, wenn sich auch erst später herausstellte, wie absonderlich sie in der Tat werden sollte.
Der erste Teil meiner Expedition ging ohne Schwierigkeit vonstatten. Die obere Swandam Street ist eine hässliche Gasse, die hinter den großen Lagerhäusern steckt, welche sich an der Nordseite der Themse bis östlich der London Bridge hinziehen. Zwischen einer Trödelbude und einer Schnapskneipe führte eine steile Treppe zu einem Loch, finster wie ein Kellerschacht, und damit hatte ich die gesuchte Spelunke gefunden. Ich hieß den Kutscher warten und stieg die Stufen hinab, die von dem unausgesetzten Wandel trunkener Füße in der Mitte stark ausgetreten waren. Beim flackernden Schein einer Öllampe über der Tür fand ich die Klinke und trat in einen langen niedrigen Raum, der von braunem Opiumrauch dick angefüllt und wie das Zwischendeck eines Auswanderungsschiffes mit übereinandergeschichteten hölzernen Pritschen ausgestattet war.
In all dem Qualm vermochte man kaum die Gestalten zu erkennen, die in sonderbar fantastischen Stellungen umherlagen, mit eingezogenen Achseln, gekrümmten Knien, zurückgeworfenem Kopf und aufwärts gekehrtem Kinn. Ab und zu richtete sich ein dunkles, glanzloses Auge auf den Ankömmling. Aus den düsteren Schatten glommen kleine rote Lichtstreifen auf, bald heller, bald matter, je nachdem ob das brennende Gift in den Köpfen der Metallpfeifen zu- oder abnahm. Die meisten der Leute lagen stumm da; doch murmelten einzelne vor sich hin, während andere wieder mit seltsam leiser, eintöniger Stimme sich miteinander unterhielten, die Sätze heftig hervorstoßend, um dann plötzlich in Schweigen zu versinken; jeder spann an seinen eigenen Gedanken weiter, ohne sich viel an das Gerede des Nachbarn zu kehren. Am anderen Ende des Raumes stand ein kleines Becken mit glühenden Kohlen, neben dem ein hagerer alter Mann auf einem dreibeinigen Stuhl saß. Er hatte das Kinn auf die Fäuste und die Ellenbogen auf die Knie gestützt und blickte starr in die Glut.
Bei meinem Eintritt sprang ein schmutziger Malaie mit einer Pfeife und einem Quantum Opium auf mich zu und wollte mir eine leere Lagerstelle anweisen.
»Ich danke Ihnen, meine Absicht ist nicht zu bleiben«, sagte ich. »Ein Freund von mir, Mr Isa Whitney, befindet sich hier, und diesen wünsche ich zu sprechen.«
Bei diesen Worten bewegte sich etwas zu meiner Rechten, und ich vernahm einen Ausruf. Ich sah hin und erkannte in dem Dunst Whitney, der blass und verstört mit wirren Haaren dasaß und mich anstierte.
»Mein Gott, Sie sind’s, Watson!«, sagte er.
Er war in einem kläglichen Zustand der Nachwirkung des Giftes, und jeder Nerv an ihm zitterte.
»Wie viel Uhr ist es denn, Watson?«
»Bald elf.«
»Und welchen Tag haben wir?«
»Freitag, den 19. Juni.«
»Gerechter Gott! Ich glaubte, es sei Mittwoch. Und es ist auch Mittwoch. Wie können Sie einen armen Kerl nur so erschrecken?« Mit diesen Worten begrub er sein Gesicht in den Händen und begann laut zu schluchzen.
»Ich versichere Ihnen, dass es wirklich Freitag ist, Sie Mann des Jammers. Ihre Frau wartet nun seit zwei Tagen auf Sie. Sie sollten sich vor sich selber schämen!«
»Das tue ich auch. Aber Sie täuschen sich, Watson, denn ich bin erst seit ein paar Stunden hier, drei, vier Pfeifen etwa – ich weiß nicht mehr, wie viele. Doch ich will mit Ihnen nach Hause gehen, denn ich möchte Kate, mein armes, liebes Kätchen, nicht ängstigen. Geben Sie mir Ihre Hand! Haben Sie einen Wagen hier?«
»Ja, er wartet draußen.«
»Dann will ich ihn benutzen. Doch ich muss noch etwas schuldig sein. Sorgen Sie doch dafür, Watson. Ich bin ganz verwirrt und unfähig, mir selbst zu helfen.«
Um der Einwirkung der abscheulichen, betäubenden Giftdämpfe zu entgehen, schritt ich mit angehaltenem Atem den schmalen Gang zwischen der Doppelreihe von Schläfern entlang und suchte nach dem Wirt. Als ich an der hageren Gestalt bei dem Kohlenbecken vorüberkam, fühlte ich mich plötzlich am Rockschoß gezupft, und eine leise Stimme flüsterte mir zu: »Gehen Sie an mir vorüber, und dann sehen Sie sich nach mir um.« Diese Worte trafen mein Ohr ganz deutlich. Ich blickte auf. Sie konnten nur von dem Alten neben mir herrühren, und doch saß er so geistesabwesend, schlotterig und vom Alter gebeugt da wie zuvor; seine Opiumpfeife baumelte ihm zwischen den Knien, als wäre sie eben den schlaffen Fingern entglitten. Ich ging zwei Schritte weiter und sah zurück. Und nun bedurfte ich meiner ganzen Selbstbeherrschung, um nicht einen Schrei maßlosen Erstaunens auszustoßen. Er hatte sich so umgewendet, dass ihn niemand außer mir sehen konnte. Seine Gestalt war voll geworden, die Runzeln waren verschwunden, die matten Augen hatten ihr Feuer wieder gewonnen – kurz, der Mann, der da am Feuer saß und sich an meiner Überraschung höchst belustigte, war niemand anders als Sherlock Holmes. Er gab mir einen Wink, mich ihm zu nähern, und als er das Gesicht den anderen wieder zuwandte, nahm es sofort wieder den Ausdruck schlaffen Alters an.
»Holmes!«, flüsterte ich. »Wie kommen Sie nur in dieses Loch?«
»So leise wie möglich«, antwortete er, »mein Gehör ist vorzüglich. Wenn Sie die Güte hätten, sich Ihres jammervollen Freundes dort zu entledigen, so wäre es mir sehr erwünscht, ein wenig mit Ihnen zu plaudern.«
»Draußen habe ich einen Wagen stehen.«
»Dann schicken Sie ihn doch nach Hause. Es ist keine Gefahr dabei, denn er fühlt sich zu schlaff und matt, um weiteres Unheil anzurichten. Auch möchte ich Ihnen empfehlen, Ihre Frau durch den Kutscher wissen zu lassen, dass wir etwas zusammen vorhaben. Wenn Sie so lange draußen warten wollen, so bin ich in fünf Minuten bei Ihnen.«
Sherlock Holmes etwas abzuschlagen war äußerst schwierig, denn er trug seine Bitten stets mit der größten Ruhe und Entschiedenheit vor. Zudem hatte ich das Gefühl, dass, sobald Whitney im Wagen säße, auch meine Verpflichtung gegen ihn zu Ende sei; und was konnte ich mir eigentlich Besseres wünschen als eines der wunderlichen Abenteuer mitmachen zu dürfen, wie sie meinem Freund zum Lebensbedürfnis geworden waren? In wenigen Minuten war der Zettel an meine Frau geschrieben, Whitneys Rechnung bezahlt, er selbst in den Wagen gesetzt und durchs Dunkel der Nacht davongefahren.
Kurz darauf stieg eine verkommene Gestalt aus der Opiumhöhle empor, und an meiner Seite schritt Sherlock Holmes. Zwei Straßenlängen weit schleppte er sich mühsam mit gebücktem Rücken und unsicherem Tritt vorwärts. Dann blickte er um sich, richtete sich auf und brach in ein herzliches Lachen aus.
»Und nun, Watson«, sagte er, »bilden Sie sich gewiss ein, dass nun auch noch das Opiumrauchen zu den Kokaineinspritzungen und all den anderen kleinen Schwächen gekommen ist, die mir die schätzenswerte Bekanntschaft mit Ihrer medizinischen Erfahrung nebenbei eingetragen hat.«
»Allerdings war ich überrascht, Sie hier zu sehen.«
»Und ich nicht minder Sie …«
»Ich suchte einen Freund.«
»Und ich einen Feind.«
»Einen Feind?«
»Ja, einen meiner natürlichen Feinde, oder, um es richtiger zu sagen, meine natürliche Beute. Mit einem Wort, Watson, ich stecke eben in einer ganz merkwürdigen Geschichte und hatte gehofft, in dem unzusammenhängenden Geschwätz dieser Kerle einen Schlüssel zu finden, wie mir das schon mehrfach geglückt ist. Wäre ich jedoch in diesem Loch erkannt worden, so wär’s um mich geschehen, denn ich habe es früher schon für meine Zwecke ausgebeutet, und der Malaie, der Schurke von einem Wirt, hat mir Rache geschworen. An der Rückseite des Gebäudes befindet sich eine Falltür, in der Nähe der Paulswerft, die könnte Schaudergeschichten erzählen von dem, was in mondlosen Nächten da schon hinabgestürzt ist.«
»Wieso? Sie meinen doch nicht etwa, dass Leichen …?«
»Jawohl, Leichen, Watson; wir wären reiche Leute, wenn wir für jeden armen Teufel, der dort auf ewig stumm gemacht worden ist, unsere tausend Pfund bekämen. Es ist die scheußlichste Mördergrube auf dieser ganzen Uferseite, und ich fürchte sehr, dass Neville St. Clair hier hineingeraten ist, um nie wieder herauszukommen.« Damit steckte er beide Zeigefinger zwischen die Zähne und ließ einen schrillen Pfiff ertönen, dem ein ähnlicher aus einiger Entfernung antwortete, worauf sich Rädergerolle und Pferdegetrappel hören ließen. »Nun, wie ist’s, Watson«, fragte Holmes, als ein großer Jagdwagen aus der Dunkelheit auftauchte, dessen Seitenlaternen zwei lange goldene Lichtstreifen vor sich herwarfen. »Sie gehen doch mit?«
»Gern, wenn ich Ihnen nützlich sein kann.«
»Ein treuer Freund ist immer nützlich und vollends noch, wenn er zugleich ein Mann der Feder ist. Mein Zimmer ›zu den Zedern‹ hat zwei Betten.«
»Zu den Zedern?«
»Ja, nämlich in St. Clairs Haus, denn dort wohne ich, solange meine Nachforschungen dauern.«
»Wo liegt es denn?«
»Bei Lee in Kent. Wir haben eine Fahrt von sieben Meilen vor uns.«
»Aber ich weiß ja von gar nichts.«
»Natürlich, doch werden Sie bald alles erfahren. Sitzen Sie nur auf. Schon gut, John, wir kutschieren selbst. Hier ein Trinkgeld. Morgen gegen elf Uhr können Sie mich erwarten. So, jetzt lassen Sie los, und nun vorwärts!«
Er versetzte dem Pferd einen leichten Schlag mit der Peitsche, und wir flogen dahin durch die endlosen, dunklen, einsamen Straßen, die sich allmählich erweiterten, bis wir über eine breite Brücke sausten, unter der der schlammige Fluss träge dahinfloss. Auch drüben dasselbe Häusermeer; nichts als der gleichmäßige Schritt der Schutzleute oder das Johlen verspäteter Nachtschwärmer unterbrach die nächtliche Stille. Eine dunkle Wolkenmasse zog langsam am Himmel dahin, und nur matt schimmerte da und dort ein Stern durch das Gewölk auf. Schweigend lenkte Holmes das Gefährt, den Kopf auf die Brust gesenkt und mit dem Ausdruck eines Mannes, der ganz in Gedanken verloren ist, während ich neben ihm saß, gespannt, zu erfahren, was für ein neuer Fall das wohl sein mochte, der seinen Geist so vollständig in Anspruch nahm, und doch getraute ich mir nicht, seinen Gedankengang zu unterbrechen. Wir waren schon verschiedene Meilen gefahren und gelangten an den äußeren Gürtel der Vorstadtvillen, als sich Holmes aufraffte, die Achseln zuckte und seine Pfeife in Brand steckte mit der Miene eines Menschen, der mit sich zufrieden ist, im Bewusstsein, dass er tut, was in seinen Kräften steht.
»Ihnen ward die schöne Gabe des Schweigens verliehen, Watson«, sagte er, »und das macht Sie zu einem geradezu unschätzbaren Gefährten. Auf Ehre, für mich ist es von größtem Wert, jemand zu haben, bei dem ich mich aussprechen kann, denn meine eigenen Gedanken sind nicht gerade ergötzlicher Art. Eben überlegte ich mir, was ich dem guten Frauchen wohl sagen sollte, wenn sie mir heute Abend entgegentritt.«
»Sie vergessen, dass ich ja von gar nichts weiß.«
»Es bleibt jetzt gerade noch Zeit genug, bis wir nach Lee kommen, um Ihnen die Einzelheiten des Falles zu erzählen. Er sieht sich lächerlich einfach an, und doch weiß ich nicht, was ich damit anstellen soll. Fäden gibt es in Menge, aber das richtige Ende vermag ich nicht zu finden. Lassen Sie mich Ihnen also die Sache klar und deutlich auseinandersetzen, Watson, möglich, dass Ihnen vielleicht ein Licht aufgeht, wo für mich alles dunkel ist.«
»So fangen Sie nur an.«
»Vor einigen Jahren, oder genauer gesagt, im Mai 1884, kam ein Herr namens Neville St. Clair nach Lee, der allem Anschein nach in sehr guten Verhältnissen war. Er bezog eine große Villa, legte geschmackvolle Gärten an und lebte in jeder Beziehung auf großem Fuß. Allmählich gewann er Freunde in der Nachbarschaft und heiratete im Jahr 1887 die Tochter eines dort ansässigen Bierbrauers, die ihn seitdem mit zwei Kindern beschenkt hat. Einen eigentlichen Beruf hatte er nicht, doch war er bei verschiedenen Unternehmungen beteiligt und ging in der Regel des Morgens zur Stadt und kehrte des Abends mit dem 5 Uhr 14-Zug wieder zurück. Mr St. Clair ist jetzt siebenunddreißig Jahre alt, ein Mann von soliden Lebensgewohnheiten, ein guter Ehegatte, zärtlicher Vater und bei allen beliebt, die ihn kennen. Ich kann noch hinzufügen, dass, soweit es sich ermitteln ließ, seine ganze Schuldenlast sich zur Zeit auf achtundachtzig Pfund und zehn Schilling beläuft, während sein Bankguthaben zweihundertundzwanzig Pfund beträgt. Es liegt darum auch kein Grund zur Annahme vor, dass ihn etwa Geldsorgen bedrückt hätten.
Am letzten Montag fuhr Mr Neville St. Clair etwas früher als gewöhnlich zur Stadt, nachdem er zuvor geäußert, dass er zwei wichtige Geschäfte zu erledigen habe und dass er seinem Söhnchen einen Baukasten mitbringen wolle. Am selben Morgen, ganz kurz nach St. Clairs Weggang, erhielt seine Frau die Drahtnachricht, dass ein von ihr erwartetes Paketchen von beträchtlichem Wert auf dem Postamt der Aberdeen Schiffsgesellschaft abgeholt werden könne. Wenn Sie sich in Ihrem London gut auskennen, dann wissen Sie, dass die Geschäftsräume dieser Gesellschaft in der Fresno Street liegen, die in die Upper Swandam Street mündet, wo Sie mich heute Nacht getroffen haben. Mrs St. Clair nahm ihr zweites Frühstück ein und ging dann nach der Stadt, machte einige Einkäufe, holte ihr Paketchen auf dem Schiffsamt und ging genau um 4 Uhr 35 Minuten durch die Swandam Street wieder zurück, der Bahnstation zu. Sind Sie mir so weit gefolgt?«
»Das alles ist völlig klar.«
»Sie erinnern sich vielleicht noch, dass es am Montag außerordentlich heiß war. Mrs St. Clair ging darum langsam und sah sich, in der Hoffnung, einen Wagen zu entdecken, nach allen Seiten um, denn es kam ihr in dieser Umgebung nicht recht geheuer vor. Während sie so die Swandam Street entlangschritt, hörte sie plötzlich einen Schrei und war starr vor Schrecken, als sie ihren Mann aus dem Fenster eines zweiten Stocks auf sich niederblicken und ihr zuwinken sah. Das Fenster stand offen, sodass sie sein Gesicht ganz deutlich erkennen konnte, das nach ihrer Schilderung entsetzlich aufgeregt gewesen sein muss. Nachdem er ihr heftig mit der Hand gewinkt hatte, verschwand er so plötzlich vom Fenster, dass es ihr schien, als ob eine unwiderstehliche Macht ihn von hintenher weggerissen habe. Ein eigentümlicher Umstand entging ihrem raschen Blick nicht: Obwohl ihr Mann denselben dunklen Rock trug wie bei seinem Weggang von Zuhause, hatte er doch weder Kragen noch Krawatte an.
Überzeugt, dass St. Clair irgendetwas zugestoßen sein müsse, eilte sie die Stufen hinab – denn das Haus war kein anderes als die Opiumhöhle, in der Sie mich heute Nacht gefunden haben – lief durch das Vorzimmer und wollte die Treppe, die zum ersten Stock führt, hinaufsteigen, doch da trat ihr jener Malaie, der Schurke, den ich schon einmal nannte, in den Weg, drängte sie zurück und schob sie mithilfe eines Dänen, der dort häufig Handlangerdienste tut, hinaus auf die Straße. Voll der wahnsinnigsten Befìirchtungen und Sorgen, rannte sie die Straße entlang, und ein glücklicher Zufall wollte es, dass sie in der Fresno Street auf einige Schutzleute stieß, die unter der Führung eines Inspektors eben die Runde machten. Der Inspektor begleitete sie mit zweien seiner Leute zurück, und trotz des hartnäckigen Widerstandes des Hausbesitzers drangen sie zu dem Zimmer durch, in dem St. Clair zuletzt gesehen worden war. Keine Spur mehr von ihm. Ja, im ganzen Stockwerk niemand als ein jämmerlicher Krüppel von abschreckender Hässlichkeit, der hier zu wohnen schien. Er sowohl als der Wirt schworen hoch und teuer, dass den ganzen Nachmittag außer ihnen niemand in diesem vorderen Zimmer gewesen sei. Ihre Beteuerungen schienen so glaubwürdig, dass der Inspektor zu glauben geneigt war, Mrs St. Clair müsse sich getäuscht haben, als diese plötzlich mit jähem Aufschrei auf ein hölzernes Kästchen zulief, das auf dem Tisch stand, und den Deckel aufriss. Eine Menge kleiner Bausteine stürzte daraus hervor. Es war das Spielzeug, das der Vater versprochen hatte mit nach Hause zu bringen.
Diese Entdeckung sowie die sichtliche Verlegenheit, die der Krüppel zeigte, überzeugten den Inspektor von dem Ernst der Sache. Die Räume wurden sorgfältig untersucht, und alles, was sich ergab, wies auf ein entsetzliches Verbrechen hin. Das vordere Zimmer war ein einfach ausgestatteter Wohnraum und führte in ein kleines Schlafzimmer mit der Aussicht auf die Rückseite einer Werft. Zwischen der Werft und dem Schlafzimmerfenster befindet sich ein schmaler Weg, der während der Ebbe trocken, während der Flut jedoch zum mindesten vier bis fünf Fuß hoch unter Wasser ist. Das Fenster war breit und ließ sich in die Höhe schieben. Bei genauer Besichtigung fanden sich Blutspuren auf dem Fenstersims, und vereinzelte Tropfen waren auf dem Bretterboden des Schlafzimmers sichtbar. Hinter einem Vorhang des Wohnzimmers lagen alle Kleider des Mr Neville St. Clair auf einem Haufen beisammen, nur der Rock fehlte. Stiefel, Socken, Hut, Uhr – alles fand sich vor, aber kein Merkmal von Gewalttat war daran zu erkennen, und auch sonstige Spuren von Mr Neville St. Clair fanden sich nicht. Allem Anschein nach musste er zum Fenster hinausbefördert worden sein, ein anderer Ausweg war nicht zu entdecken, und die verdächtigen Blutspuren am Gesims ließen wenig Hoffnung übrig, dass er sich durch Schwimmen gerettet haben könnte, denn die Flut stand zur Zeit der Gräueltat am höchsten. Und nun zu den Strolchen, die zunächst in die Sache verwickelt schienen. Der Malaie war ein äußerst übel beleumundeter Mensch. Da er aber nach Aussage der Mrs St. Clair wenige Sekunden nach ihres Mannes Erscheinen am Fenster am Fuß der Treppe gestanden hatte, konnte er kaum anders denn als bloße Nebenfigur bei dem Verbrechen angesehen werden. Seine Verteidigung beschränkte sich auf die Behauptung vollständiger Unwissenheit. Er verwahrte sich gegen jegliche Kenntnis von dem Tun und Lassen seines Mieters, Hugo Boones, und erklärte sich außerstande, irgendwelche Rechenschaft darüber zu geben, wie die Kleider des vermissten Herrn hierher gekommen wären.
So viel über den Wirt. Und nun zu dem unheimlichen Krüppel, der im zweiten Stock der Opiumhöhle wohnt und der sicher das letzte menschliche Wesen war, dessen Auge Neville St. Clair gesehen hat. Er heißt Hugo Boone, und jedermann, der häufig zur City kommt, kennt sein abschreckend hässliches Gesicht. Er ist gewerbsmäßiger Bettler und treibt dabei, um den polizeilichen Verordnungen nachzukommen, einen kleinen Handel mit Wachsstreichhölzern. Eine kurze Strecke die Threadneedle Street abwärts tritt links an der Mauer eine kleine Ecke hervor. Dort lässt sich der Kerl täglich mit gekreuzten Beinen und seinem kleinen Warenvorrat auf dem Schoß nieder, und sein Anblick ist so erbarmungswürdig, dass der reichste Wohltätigkeitsregen in seine fettige Mütze neben ihm auf dem Pflaster niederträufelt. Noch ehe ich ahnte, dass ich einmal von Berufs wegen dieses Burschen Bekanntschaft machen würde, hatte ich ihn schon oft beobachtet und war erstaunt über die große Ernte, die er in kürzester Frist einheimste. Seine Erscheinung ist nämlich derart auffällig, dass man ihn nicht unbeachtet lassen kann. Ein Busch rotgelben Haares, ein blasses Gesicht, verunziert durch eine entsetzliche Narbe, die im Verwachsen den einen Mundwinkel in die Höhe gezerrt hat, ein Bulldoggenkiefer und ein paar stechende dunkle Augen, die zu der Farbe des Haares in absonderlichem Kontrast stehen, dies alles zeichnet ihn vor der übrigen Menge der Bettler aus, und dies tut auch sein Witz; denn er hat stets eine schlagfertige Antwort auf jeden schlechten Scherz, den ein Vorübergehender mit ihm machen mag. Das ist also jener Mietsmann in der Opiumhöhle, jener Mann, der den vermissten Herrn, den wir suchten, zuletzt gesehen haben muss.«
»Aber ein Krüppel!«, warf ich ein. »Was vermochte der allein gegen einen Mann in vollster Körperkraft?«
»Ein Krüppel ist er wohl, sofern er zum Gehen einer Krücke bedarf, sonst aber scheint er kräftig und wohlgenährt zu sein. Gewiss wird Ihre ärztliche Erfahrung Sie lehren, Watson, dass die Schwäche des einen Gliedes oft durch eine umso größere Stärke des anderen ausgeglichen wird.«
»Bitte fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.«
»Mrs St. Clair war beim Anblick der Blutflecken am Fenster ohnmächtig geworden, und ein Schutzmann hatte sie im Wagen nach Hause gebracht, zumal da auch ihre Gegenwart bei den weiteren Nachforschungen nutzlos war. Inspektor Barton, der den Fall zu leiten hatte, untersuchte alles aufs Genaueste, doch ohne irgendetwas zu finden, was die dunkle Sache hätte aufhellen können. Darin war der Fehler begangen worden, dass Boone nicht sofort verhaftet wurde, sondern noch einige Minuten sich überlassen blieb, während deren er sich mit seinem Freund, dem Malaien, verständigen konnte; doch machte man diesen Fehler sehr bald wieder gut, denn er wurde festgenommen und durchsucht, ohne dass sich jedoch irgendetwas Belastendes gegen ihn ergeben hätte. Allerdings befanden sich einige Blutflecken auf seinem rechten Hemdsärmel, doch wies er auf seinen Ringfinger hin, an dem unterhalb des Nagels eine Schnittwunde war, und sagte, das Blut komme daher, mit der Hinzufügung, er sei erst vor Kurzem am Fenster gewesen, und die dort bemerkten Blutspuren rührten ohne Zweifel von der gleichen Ursache her. Er verneinte es aufs Entschiedenste, Mr Neville St. Clair je einmal gesehen zu haben, und versicherte, dass es ihm nicht weniger unerklärlich sei als der Polizei, wie die Kleider in sein Zimmer kämen. Was aber Mrs St. Clairs Aussage anbelange, dass sie ihren Mann leibhaftig am Fenster gesehen habe, so müsse sie entweder geistig gestört oder im Traum gewesen sein. Trotz seines lauten Widerspruchs wurde er zur Polizeistation verbracht, während der Inspektor zurückblieb, in der Hoffnung, die Ebbe möchte neue Anhaltspunkte liefern.
Und so war es auch, obgleich auf dem Schlamm nicht das gefunden wurde, was man gefürchtet hatte: Nicht Neville St. Clair selbst, aber Neville St. Clairs Rock kam zu Tage, als die Flut sich verlief. Und was glauben Sie wohl, dass sich in den Rocktaschen vorfand?«
»Ich kann mir’s nicht denken.«
»Nein, Sie würden es auch niemals erraten. Jede Tasche war vollgepfropft mit Kupfermünzen – 421 ganzen und 270 halben Pennystücken. Da war es also kein Wunder, dass der Rock nicht von der Flut mit fortgenommen wurde. Aber mit einem menschlichen Körper ist’s ein ander Ding. Zwischen der Werft und dem Haus ist ein starker Wirbel, und so konnte es leicht geschehen, dass der beschwerte Rock zurückblieb, während der entkleidete Körper in den Fluss hinausgespült wurde.«
»Ich habe geglaubt, alle übrigen Kleider seien im Zimmer vorgefunden worden. Sollte der Körper nur allein mit dem Rock bekleidet gewesen sein?«
»Nein, gewiss nicht, aber die Tatsachen lassen doch eine ziemlich glaubwürdige Erklärung zu. Vorausgesetzt, dieser Boone habe St. Clair aus dem Fenster geworfen, ohne dass ein menschliches Auge es sah – was hätte er dann vor allem tun müssen? Natürlich sich in erster Linie der verräterischen Kleider entledigen. Er griff also nach dem Rock; im Begriff, diesen hinauszuwerfen, fiel ihm aber ein, dass er ja schwimmen würde, anstatt unterzusinken. Die Zeit drängt, denn von unten her hört er die Stimme der Mrs St. Clair, die hinaufdringen will; vielleicht hat ihm auch sein Spießgeselle, der Wirt, schon einen Wink gegeben, dass die Polizei nicht fern sei. Kein Augenblick ist zu verlieren. Er eilt zu irgendeinem geheimen Winkel, wo er die Erträge seines Bettels aufgestapelt hat, und stopft so viele Münzen, als ihm zur Hand sind, in den Rock, damit dieser gewiss untersinkt. Schnell wirft er ihn hinaus, wie er es auch mit den anderen Kleidungsstücken gemacht hätte, wären nicht Schritte genaht, sodass ihm nur noch Zeit blieb, das Fenster zu schließen.«
»Dies klingt allerdings nicht unmöglich.«
»So lassen Sie uns einstweilen auf diesen Voraussetzungen fußen, bis sich Besseres findet. Boone wurde also, wie ich Ihnen schon erzählt habe, festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht, doch konnte nicht nachgewiesen werden, dass schon früher etwas gegen ihn vorgelegen hätte. Seit Jahren war er als gewerbsmäßiger Bettler bekannt, schien aber sonst ein stilles, unbescholtenes Leben geführt zu haben. So weit ist die Sache bis jetzt gediehen, und die Fragen, die einer Lösung harren, nämlich was Neville St. Clair in der Opiumhöhle zu schaffen gehabt hat, was dort mit ihm geschehen ist, wo er sich jetzt befindet und inwiefern Hugo Boone an seinem Verschwinden beteiligt war – alle diese Fragen sind noch so weit wie je von einer Lösung entfernt. Ich muss Ihnen gestehen, dass mir in meiner ganzen Erfahrung nie ein Fall vorgekommen ist, der auf den ersten Anblick so einfach erschienen wäre und dennoch solche Schwierigkeiten geboten hätte.«
Während mir Sherlock Holmes die sonderbare Verwicklung dieser Umstände im Einzelnen darlegte, waren wir an den letzten Vorstadthäusern vorübergerollt und hatten jetzt grüne Hecken zu beiden Seiten. Als er eben am Schluss war, fuhren wir durch zwei verstreut liegende Dörfer, wo aus manchem Fenster noch Licht schimmerte.
»Jetzt nähern wir uns Lee«, sagte Holmes; »auf unserer kurzen Fahrt haben wir nicht weniger als drei Grafschaften berührt. In Middlesex brachen wir auf, kamen durch einen Zipfel von Surrey und beschließen die Fahrt jetzt mit Kent. Sehen Sie das Licht dort zwischen den Bäumen hervorschimmern? Das kommt von ›den Zedern‹, und neben jener Lampe sitzt eine Frau, deren angstvolles Ohr ohne Zweifel schon den Hufschlag unseres Pferdes vernommen hat.«
»Aber warum betreiben Sie die Angelegenheit nicht von der Baker Street aus?«, fragte ich.
»Weil allerlei Erkundigungen von hier aus einzuziehen sind. Mrs St. Clair hat mir in entgegenkommendster Weise zwei Zimmer zur Verfügung gestellt, und Sie dürfen überzeugt sein, dass sie meinen Freund und Kollegen gleichfalls freundlich willkommen heißen wird. Es ist mir im Innersten zuwider, Watson, ihr ohne Nachrichten über ihren Mann entgegentreten zu müssen. So, jetzt wären wir da! Hollah, he!«
Wir hielten vor einer großen, von Gärten umgebenen Villa. Ein Stalljunge war herbeigeeilt und hielt das Pferd. Wir stiegen aus, und ich folgte Holmes auf dem schmalen, geschlängelten Kiesweg, der zum Haus führte. Als wir näher kamen, flog die Tür auf, und eine kleine blonde Frau stand auf der Schwelle. Sie war in ein leichtes, an Hals und Ärmeln mit Spitzen verziertes Seidengewand gehüllt. Ihre Gestalt zeichnete sich in dem starken Lichtstrom, der aus der Tür quoll, deutlich ab, und wie sie so dastand, den Körper leicht vorgebeugt, die eine Hand auf der Türklinke, die andere halb erhoben vor Sehnsucht und Verlangen, das Gesicht mit den forschenden Augen und den halbgeöffneten Lippen nach vorne gewandt, sah sie ganz so aus wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen.
»Nun, und was gibt’s?«, rief sie. Und sobald sie bemerkte, dass wir zu zweien waren, kam es wie ein Ausruf der Hoffnung von ihren Lippen, der aber in einem Seufzer erstarb, als mein Gefährte den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte.
»Keine guten Nachrichten?«
»Überhaupt keine.«
»Also auch keine schlechten?«
»Nein.«
»Gott sei Dank. Doch treten Sie ein. Sie müssen müde sein nach diesem langen Tag.«
»Hier stelle ich Ihnen meinen Freund, Dr. Watson, vor. Er ist mir schon bei verschiedenen Angelegenheiten von Nutzen gewesen, und ein glücklicher Zufall hat es gefügt, dass es mir möglich wurde, ihn mitzubringen und ihn mit unserer Sache vertraut zu machen.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte sie und drückte mir herzlich die Hand, »nur bitte ich um Entschuldigung, wenn heute mein Haus manches zu wünschen übrig lässt, Sie wissen ja, welcher harte Schlag uns so unvermutet getroffen hat.«
»Ich bin ein alter Soldat, gnädige Frau, und wäre ich es auch nicht, so würde ich es doch für selbstverständlich halten, dass es hier keinerlei Entschuldigung bedarf. Wenn ich Ihnen oder meinem Freund irgendwie nützlich sein könnte, so würde ich mich glücklich schätzen.«
»Nun, Mr Sherlock Holmes«, begann die Dame, als wir das hell erleuchtete Speisezimmer betraten, wo ein kalter Imbiss bereit stand, »möchte ich Sie geradeheraus etwas fragen, und Sie sollen mir dann ebenso darauf antworten.«
»Ganz einverstanden, gnädige Frau!«
»Nehmen Sie keine Rücksicht auf meine Empfindungen. Ich bin weder hysterisch noch leicht zu Ohnmachten geneigt. Es ist mir einzig und allein um Ihre aufrichtige Meinung zu tun.«
»Worüber?«
»Glauben Sie im Innersten Ihres Herzensgrundes, dass Neville noch am Leben ist?«
Diese Frage schien Sherlock Holmes in Verlegenheit zu setzen. »Also geradeheraus!«, wiederholte sie. Er saß in einem Sessel und sie stand vor ihm und sah forschend auf ihn nieder.
»Nun denn, ehrlich gestanden, gnädige Frau, nein.«
»Glauben Sie, dass er tot ist?«
»Ja, ich glaube es.«
»Ermordet?«
»Das will ich nicht behaupten, vielleicht.«
»Und an welchem Tag soll er vom Tod ereilt worden sein?«
»Am Montag.«
»Dann, Mr Holmes, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu erklären, wie es geschehen konnte, dass ich heute einen Brief von ihm erhielt.«
Sherlock Holmes sprang wie elektrisiert von seinem Stuhl auf.
»Was!«, schrie er.
»Jawohl, heute.« Lächelnd stand sie da und hielt ein Blättchen Papier empor.
»Darf ich es lesen?«
»Gewiss.«
Er riss ihr den Brief aus der Hand, glättete ihn auf dem Tisch, zog die Lampe näher und besichtigte ihn aufs Genaueste. Auch ich war aufgestanden und blickte ihm über die Schulter. Der Briefumschlag war aus grobem Papier und trug den Poststempel von Gravesend mit dem Datum des heutigen Tages, oder eigentlich des gestrigen, denn Mitternacht war längst vorüber.
»Ungeübte Schrift«, murmelte Holmes. »Sicher ist dies nicht Ihres Gatten Hand, gnädige Frau.«
»Nein, aber der Brief selbst ist von ihm.«
»Man sieht auch, dass derjenige, der die Aufschrift machte, sich erst genauer nach der Adresse erkundigen musste.«
»Woraus können Sie dies schließen?«
»Der Name ist, wie Sie sehen, vollständig schwarz, weil die Tinte darauf von selbst abtrocknete. Das übrige dagegen ist grauschwarz, ein Beweis, dass Löschpapier dabei verwendet wurde. Wäre alles in einem Zug geschrieben und dann das Fließblatt gebraucht worden, so hätte nicht ein Teil so tiefschwarz werden können. Der Schreiber hat zuerst den Namen geschrieben, dann trat eine Pause ein, ehe er die Adresse vervollständigte, was doch nur seinen Grund darin haben konnte, dass sie ihm nicht geläufig war. Freilich ist dies nur eine Kleinigkeit, aber nichts ist eben so wichtig wie Kleinigkeiten. Und nun wollen wir den Brief betrachten. Ei, da war etwas eingeschlossen!«
»Ja, ein Ring, sein Siegelring.«
»Und sind Sie überzeugt, dass dies Ihres Gatten Handschrift ist?«
»Ja, eine seiner Handschriften.«
»Eine?«
»Seine Handschrift, wenn er in Eile war. Diese ist ganz verschieden von der gewöhnlichen, aber ich kenne sie genau.«
Auf dem Papier standen nur die Worte:
»Liebste, ängstige dich nicht. Es wird noch alles gut werden. Ein schwerer Irrtum waltet ob, der sich aber in Kurzem aufklären muss. Fasse dich in Geduld. – Neville.«
»Mit Bleistift auf das Vorsatzblatt eines Oktavbandes geschrieben, kein Wasserzeichen. Hm! Heute in Gravesend in den Schalter geworfen von einem Menschen mit schmutzigem Daumen! Ha! Und der Umschlag ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, von jemand zugeklebt worden, der Tabak kaut. Und Ihnen steht es ganz außer Zweifel, dass es die Handschrift Ihres Gatten ist, gnädige Frau?«
»Durchaus. Neville hat diese Zeilen geschrieben.«
»Und heute wurde dieser Brief in Gravesend bestellt. Wahrhaftig, die Wolken beginnen sich zu lichten, obgleich ich nicht sagen möchte, dass die Gefahr vorüber ist.«
»Aber am Leben muss er doch noch sein, Mr Holmes?«
»Außer, dies wäre eine schlaue Täuschung, um uns auf falsche Fährte zu locken. Der Ring beweist so gut wie nichts, er kann ihm genommen worden sein.«
»Nein, nein; es ist und bleibt seine Handschrift!«
»Ganz recht. Doch kann das Blatt am Montag geschrieben und erst heute zur Post gegeben worden sein.«
»Das ist möglich.«
»Und wenn dem so ist, so mag wohl inzwischen manches vorgegangen sein.«
»Ach, Mr Holmes, Sie dürfen mich nicht entmutigen. Ich weiß es gewiss, dass es gut mit ihm steht. Zwischen uns besteht eine so innige Seelengemeinschaft, dass ich es empfinden müsste, wenn er von Unheil bedroht wäre. Gerade an dem Tag, als ich ihn zum letzten Mal sah, schnitt er sich im Schlafzimmer in den Finger, und obwohl ich im Esszimmer war, eilte ich hinauf, in der unumstößlichen Gewissheit, es müsse ihm etwas widerfahren sein. Glauben Sie denn, dass, wenn ich schon bei einer solchen Kleinigkeit in Mitleidenschaft gezogen werde, ich nicht auch um seinen Tod wissen sollte?«
»Ich habe schon zu vieles erlebt, um nicht davon überzeugt zu sein, dass das Gefühl einer Frau oft mehr Wert haben kann als die Schlussfolgerungen eines kühl zergliedernden Verstandesmenschen. Und in diesem Brief besitzen Sie unzweifelhaft ein starkes Beweisstück für Ihre Behauptung. Doch wenn Ihr Gatte am Leben ist und sogar fähig, Briefe zu schreiben, weshalb bleibt er Ihnen dann fern?«
»Ich kann es mir nicht denken. Es ist mir unbegreiflich.«
»Und machte er denn beim Weggehen am Montag keinerlei Andeutung?«
»Nein.«
»Und Sie waren überrascht, als Sie ihn in der Swandam Street sahen?«
»Außerordentlich.«
»Stand das Fenster offen?«
»Ja.«
»So hätte er Ihnen also zurufen können?«
»Jawohl.«
»Doch stieß er, soviel ich weiß, nur einen unartikulierten Schrei aus!«
»Ja.«
»Den Sie für einen Hilferuf hielten?«
»Ja. Er erhob die Hände.«
»Es kann aber auch ein Ruf der Überraschung gewesen sein. Vielleicht veranlasste ihn Ihr unerwarteter Anblick, die Hände emporzuheben.«
»Das kann sein.«
»Kam es Ihnen vielleicht nur so vor, als ob er nach rückwärts gerissen worden sei?«
»Er verschwand ganz plötzlich.«
»Er kann auch zurückgesprungen sein. Sie sahen doch sonst niemand im Zimmer?«
»Nein, aber jener entsetzliche Mensch hat zugegeben, dass er dort war, und der Malaie stand an der Treppe.«
»Ganz recht. Und Ihr Gemahl hatte, soviel Sie sehen konnten, seine gewöhnlichen Kleider an?«
»Ja, aber ohne Kragen und Krawatte. Ich sah seinen bloßen Hals ganz deutlich.«
»Hat er je einmal von der Swandam Street gesprochen?«
»Niemals.«
»Konnten Sie je Zeichen von Opiumgenuss an ihm entdecken?«
»Niemals.«
»Ich danke Ihnen, Mrs St. Clair. Dies sind die Hauptpunkte, über die ich vollständig im Reinen sein wollte. Lassen Sie uns nun etwas zu Abend speisen, dann wollen wir uns zurückziehen, denn morgen wird es einen unruhigen Tag für uns geben.«
Ein großes, behagliches Zimmer stand für uns bereit, und bald lag ich in den Federn, denn ich war müde von dieser Nacht voll Abenteuer. Sherlock Holmes dagegen war ein Mensch, der tage-, ja eine ganze Woche lang in rastloser Tätigkeit ausharren konnte, solange ihn ein ungelöstes Problem beschäftigte. Er beleuchtete es dann nach allen Seiten, wälzte es hin und her, war unermüdlich, das Beweismaterial neu zu ordnen, bis er die Lösung endlich gefunden oder sich überzeugt hatte, dass die Beweismittel ungenügend waren. Es wurde mir bald klar, dass er sich auch heute zu einer Nachtsitzung vorbereitete. Nachdem er Rock und Weste abgelegt hatte, hüllte er sich in seinen großen blauen Schlafrock und zog im Zimmer umher, auf der Jagd nach Kissen, die er sich von Bett, Sofa und Sesseln zusammenlas. Damit baute er sich eine Art orientalischen Diwans, auf den er sich mit gekreuzten Beinen niederließ, und vor ihm lag ein Paket Rauchtabak und Streichhölzer. Bei dem matten Lampenschein sah ich ihn dort sitzen, eine alte Tonpfeife im Mund, die Augen wie geistesabwesend auf die Zimmerdecke gerichtet, von blauen Rauchwolken umhüllt, schweigend, unbeweglich, die scharf geschnittenen Gesichtszüge vom Licht beschienen. So saß er da, als ich in Schlaf versank, und so saß er noch, als ein Ausruf mich weckte, und die Sommersonne bereits in unser Zimmer schien. Noch steckte ihm die Pfeife im Mund, noch kräuselte sich der Rauch empor, und der Raum war von dichtem Tabaksqualm erfüllt; aber von dem Häufchen Rauchtabak, das ich in der Nacht gesehen hatte, war nichts mehr vorhanden.
»Sind Sie wach, Watson?«, fragte er.
»Ja.«
»Bereit zu einer Morgenfahrt?«
»Gewiss.«
»Dann kleiden Sie sich an. Niemand rührt sich noch, doch weiß ich, wo der Stallknecht schläft, und den kleinen Wagen wollen wir schon herausbekommen.« Dabei lachte er in sich hinein, seine Augen funkelten; der ganze Mann schien völlig ausgewechselt zu sein und nicht mehr der düstere Denker der verflossenen Nacht. Beim Ankleiden sah ich auf die Uhr. Kein Wunder, dass sich noch niemand rührte. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach vier Uhr. Kaum war ich fertig, als Holmes mit der Nachricht zurückkam, dass jetzt angespannt werde.
»Ich muss eine meiner Theorien erproben«, sagte er, indem er seine Stiefel anzog. »Watson, meiner Ansicht nach sehen Sie hier einen der größten Esel in ganz Europa vor sich stehen. Ich verdiene einen Fußtritt, dass ich von hier bis Charing Cross fliege. Aber den Schlüssel zu dieser Geschichte glaube ich jetzt gefunden zu haben.«
»Und wo ist er?«, fragte ich lächelnd.
»Im Badezimmer«, erwiderte er. »Jawohl, ich scherze nicht«, fuhr er fort, als er mein ungläubiges Gesicht sah. »Soeben war ich dort und habe ihn hier in dieser Ledertasche mitgenommen. Vorwärts, mein Freund, wir wollen sehen, ob er nicht zum Schloss passt.«
So leise als möglich schlichen wir die Treppe hinab und traten hinaus in die klare Morgensonne. Auf der Straße stand unser Gefährt mit dem halbangekleideten Stallknecht, der den Gaul hielt. Rasch stiegen wir ein, und fort ging’s auf der Londoner Straße. Vereinzelte Bauernwagen, die Gemüse nach der Weltstadt brachten, machten zwar einigen Lärm, aber die zahlreichen Landhäuser zu beiden Seiten des Weges lagen still und leblos da, wie eine in Traum versunkene Stadt.
»Dieser Fall ist doch in mancher Beziehung recht merkwürdig«, sagte Holmes und trieb sein Pferd zum Galopp an. »Blind wie ein Maulwurf bin ich gewesen, das muss ich gestehen, doch ist es immer noch besser, man wird erst spät klug als gar nicht.«
In der Stadt sahen eben die ersten Frühaufsteher mit verschlafenen Augen zum Fenster heraus, als wir durch die Straßen des Surrey-Viertels fuhren. Durch die Waterloo Bridge Street hinab kamen wir über den Fluss, wandten uns dann zur Rechten und gelangten in die Bow Street. Sherlock Holmes war auf der Polizei wohlbekannt, und die beiden Schutzleute vor der Tür begrüßten ihn. Einer hielt das Pferd, während der andere uns hineinführte.
»Wer hat Dienst?«, fragte Holmes.
»Inspektor Brad Street.«
»Ei, guten Tag, Brad Street, wie geht’s?«
Ein großer, stattlicher Beamter kam in Dienstmütze und Uniform den mit Steinfliesen belegten Gang herab.
»Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Brad Street?«
»Gewiss, Mr Holmes. Treten Sie nur hier in mein Zimmer ein.«
Es war ein kleiner, büromäßig ausgestatteter Raum, ein riesiges Hauptbuch lag auf dem Tisch, und ein Telefon ragte aus der Wand hervor. Der Inspektor setzte sich an sein Pult.
»Womit kann ich dienen, Mr Holmes?«
»Ich komme wegen jenes Bettlers, Boone, wissen Sie, des Menschen, der im Verdacht steht, bei dem Verschwinden des Mr Neville St. Clair aus Lee beteiligt zu sein.«
»Ja, der wurde hereingebracht und soll noch weiter verhört werden.«
»Das ist mir gesagt worden. Haben Sie ihn hier?«
»Ja, in einer Zelle.«
»Ist er ruhig?«
»Ja, der macht wenig Mühe, aber ein schmutziger Kerl ist er.«
»Schmutzig?«
»Freilich, und wir können ihn kaum dazu bringen, dass er sich die Hände wäscht, ein Gesicht hat er, so schwarz wie ein Kesselflicker. Nun, sobald einmal das Verfahren im Gang ist, bekommt er sein regelrechtes Gefängnisbad, und meiner Treu, wenn Sie ihn sähen, Sie würden mir beistimmen, dass er dessen bedarf.«
»Sehr gern möchte ich ihn sehen!«
»Wirklich? Das lässt sich leicht machen. Kommen Sie nur mit. Ihre Tasche kann hier bleiben.«
»Nein, danke, ich nehme sie lieber mit.«
»Auch recht. Hierher, bitte.« Er führte uns einen Gang hinunter, öffnete eine verriegelte Tür, stieg eine Wendeltreppe hinab und brachte uns auf einen weiß getünchten Korridor, an dessen beiden Seiten eine Reihe von Türen war.
»Die dritte rechts führt zu ihm«, sagte der Inspektor. »Hier, diese ist’s.« Sachte zog er einen Schieber im oberen Teil der Tür zurück und blickte durch die Öffnung.
»Er schläft«, sagte er. »Jetzt können Sie ihn bequem sehen.« Wir näherten uns beide und sahen durch das Gitter. Der Gefangene hatte das Gesicht uns zugewandt und lag in tiefem Schlaf da, langsam und schwer atmend. Er war ein mittelgroßer Mann, derb gekleidet, wie es für seinen Beruf passte, und durch die Risse seines zerlumpten Rockes kam sein buntes Hemd zum Vorschein. Der Inspektor hatte recht gehabt, wenn er den Gefangenen außerordentlich schmutzig nannte, aber die dicke Schmutzkruste, die sein Gesicht bedeckte, war nicht imstande, seine abschreckende Hässlichkeit zu verhüllen. Eine alte Schramme lief in einem breiten Striemen vom Auge bis zum Kinn und hatte bei der Vernarbung die Oberlippe derart hinaufgezogen, dass drei Zähne unbedeckt blieben, was aussah, wie ein beständiges Grinsen. Ein dichter Busch gelbroten Haares fiel ihm tief über Augen und Stirn.
»Ist er nicht der reinste Adonis?«, spottete der Inspektor.
»Jedenfalls ist er des Waschens bedürftig«, bemerkte Holmes, »und da ich dies vermutete, erlaubte ich mir, das hierzu Notwendige mitzubringen.« Damit öffnete er seine Ledertasche und zog zu meinem Staunen einen sehr großen Badeschwamm hervor.
»Ha, ha!«, lachte der Inspektor, »was für ein drolliger Mensch Sie sind!«
»Wenn Sie jetzt die große Güte haben wollten, diese Tür recht vorsichtig zu öffnen, dann soll er uns bald ein anständigeres Gesicht schneiden.«
»Nun, schaden kann’s nichts«, sagte der Inspektor. »Er macht sonst dem Zellengefängnis der Bow Street wenig Ehre.« Er steckte den Schlüssel in das Schloss, und wir traten alle leise ein. Der Schläfer machte eine kleine Wendung, versank aber sofort wieder in tiefen Schlaf. Holmes ging zum Wasserkrug, tauchte seinen Schwamm ein und fuhr zweimal kräftig über das Gesicht des Gefangenen.
»Meine Herren, gestatten Sie mir, Sie dem Mr Neville St. Clair aus Lee in der Grafschaft Kent vorzustellen«, rief Holmes laut.
Noch nie in meinem Leben habe ich solchen Anblick gehabt. Das Gesicht des Mannes schälte sich unter dem Schwamm ab, wie die Rinde vom Baum. Weg war die hässliche braune Farbe! Weg war die entsetzliche Schramme, und weg die verzerrte Oberlippe, die dem Gesicht den abschreckenden, hämischen Ausdruck gegeben hatte! Ein fester Griff entfernte das wirre, rote Haar, und vor uns saß auf dem Bett ein blasser, trauriger, fein aussehender Herr, mit schwarzem Haar und zarter Haut, der sich die Augen ausrieb und schlaftrunken um sich blickte. Dann wurde er sich plötzlich seiner Lage bewusst und begrub, laut aufschreiend, sein Gesicht in dem Kopfkissen.
»Großer Gott!«, rief der Inspektor aus, »das ist ja wirklich der Vermisste. Ich erkenne ihn der Fotografie nach.«
Der Gefangene wandte sich mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich in sein Geschick ergibt, um. »So sei es denn«, sprach er. »Und nun, bitte, sagen Sie mir, wessen beschuldigt man mich?«
»Mr Neville St. Clair auf die Seite geschafft zu haben – doch wahrhaftig, dessen kann man Sie nicht mehr bezichtigen, es wäre denn, dass das Gericht eine Anklage auf versuchten Selbstmord aus dem Fall machen wollte«, sagte der Inspektor lachend. »Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich jetzt im Dienst, doch so etwas ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Wenn ich Neville St. Clair bin, so liegt es klar zu Tage, dass ich keinen Mord begangen habe, wohl aber, dass man mich widerrechtlich hier festhält.«
»Kein Verbrechen, wohl aber ein großer Irrtum hat hier stattgefunden«, sprach Holmes. »Sie hätten besser daran getan, Ihrer Frau zu vertrauen.«
»Nicht um meiner Frau, sondern um meiner Kinder willen ist’s geschehen«, stöhnte der Gefangene. »Wahrhaftiger Gott, sie sollten sich nicht ihres Vaters wegen schämen müssen. Oh Gott, welche Schmach! Was kann ich machen?«
Sherlock Holmes setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihm freundlich seine Hand auf die Schulter.
»Wenn Sie es dem Gerichtshof überlassen, die Sache zu erledigen«, sagte er, »so wird sie natürlich an die Öffentlichkeit kommen. Vermögen Sie dagegen der Polizeibehörde zu beweisen, dass keinerlei Grund zu einer Anklage gegen Sie vorliegt, so weiß ich nicht, wie diese Geschichte ihren Weg in die Presse finden sollte. Inspektor Brad Street wird gewiss bereit sein, alles niederzuschreiben, was Sie uns sagen wollen, und hernach Ihre Aussagen der betreffenden Behörde mitteilen. Auf diese Weise gelangt dann der Fall gar nicht an den Gerichtshof.«
»Gott segne Sie!«, rief der Gefangene leidenschaftlich aus. »Gefängnis, ja Hinrichtung hätte ich eher ausgehalten, als dass ich mein erbärmliches Geheimnis verraten und Schande über meine Kinder gebracht hätte.
Sie sind die ersten, denen ich meine Geschichte erzähle. – Mein Vater war Schullehrer in Chesterfield, wo ich eine ausgezeichnete Erziehung erhielt. In meiner Jugend machte ich Reisen, ging zur Bühne und wurde schließlich Berichterstatter für ein Londoner Abendblatt. Eines Tages wünschte der Leiter unserer Zeitung einige Artikel über das Bettlertum in London, und ich verpflichtete mich, sie ihm zu liefern. Dies war der Ausgangspunkt für alle meine Abenteuer. Nur wenn ich das Bettlerhandwerk selbst versuchte, konnte ich ja das nötige Material für meine Artikel erhalten. Als Schauspieler war ich natürlich in alle Geheimnisse der Verkleidung eingeweiht, ja, ich war seinerzeit unter meinesgleichen wegen meiner Verstellungskunst berühmt gewesen. Jetzt kam mir meine Geschicklichkeit zugute. Ich schminkte mir das Gesicht, und um mich so bemitleidenswert als möglich zu machen, malte ich mir eine tüchtige Schramme hin und zog die Oberlippe mit einem schmalen Streifen fleischfarbenen Heftpflasters in die Höhe. Des weiteren noch mit einer roten Perücke und entsprechender Kleidung ausgestattet, stellte ich mich im belebtesten Stadtteil auf, zum Schein als Streichholzhändler, in Wahrheit aber als Bettler. Sieben Stunden ging ich meinem Geschäft nach, und als ich am Abend heimkehrte, entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass ich nicht weniger als sechsundzwanzig Schilling und vier Pence ersammelt hatte.
Ich schrieb meine Artikel und dachte wenig über die Sache nach, bis ich bald darauf für einen Freund einen Wechsel von 25 Pfund, den ich unterschrieben hatte, einlösen musste. Ich war völlig ratlos, wo ich das Geld auftreiben sollte, da kam mir plötzlich ein rettender Gedanke. Mein erstes war, den Gläubiger um vierzehn Tage Verlängerung anzugehen, dann erbat ich mir Urlaub und verbrachte diese Zeit in meiner einstigen Verkleidung als Bettler in der Stadt. In zehn Tagen war das Geld beisammen und meine Schuld bezahlt.
Nun können Sie sich denken, wie schwer es mir ankam, mich wieder zu angestrengter Arbeit mit einem wöchentlichen Gehalt von zwei Pfund zu bequemen, da ich doch wusste, dass mir ein bisschen Schminke, Stillesitzen und die Mütze auf die Erde stellen in einem einzigen Tag ebenso viel eintrug. Zwischen meinem Stolz und meiner Geldgier entstand ein langer Kampf, bei dem schließlich die letztere den Sieg davontrug. So hängte ich denn die Zeitungsschreiberei an den Nagel und saß Tag für Tag in der Ecke, die ich mir gleich zu Anfang ausersehen hatte, erregte durch mein jammervolles Aussehen Mitleid und füllte meine Taschen mit Kupfermünzen. Nur ein einziger Mensch wusste um mein Geheimnis. Er war Inhaber einer elenden Kneipe in der Swandam Street, wo ich einkehrte, um von dort jeden Morgen als schmutziger Bettler hervorzugehen und mich abends wieder zum wohlanständigen Städter umzuwandeln. Dieser Mensch, ein eingewanderter Malaie, wurde von mir für sein Zimmer gut bezahlt, und somit wusste ich, dass mein Geheimnis bei ihm wohl verwahrt blieb.
Sehr bald zeigte es sich, dass ich ganz bedeutende Summen einnahm. Ich glaube kaum, dass jeder Straßenbettler in London siebenhundert Pfund im Jahr zusammenbringen kann – und dies ist weniger als meine Durchschnittseinnahme betrug – aber mir kam der Umstand zustatten, dass ich mich außergewöhnlich gut herrichten konnte und stets eine schlagfertige Gegenrede bereit hatte, eine Fähigkeit, die mit der Zeit zunahm, sodass ich schließlich zu einer stadtbekannten Persönlichkeit wurde. Eine Menge Kupfermünzen, mit Silberstücken gemischt, flossen mir im Laufe des Tages zu, und schlecht war die Einnahme, wenn sie einmal unter zwei Pfund betrug.
Mit dem Reichwerden nahm auch der Ehrgeiz zu. Ich bezog ein Landhaus, heiratete sogar, und niemand hatte eine Ahnung von meiner eigentlichen Beschäftigung. Meine gute Frau wusste, dass ich in der Stadt zu tun hatte. Was es aber war, vermutete sie nicht.
Letzten Montag hatte ich mein Tagewerk eben beendigt und kleidete mich in meinem Zimmer über der Opiumkneipe um, als ich aus dem Fenster sah und zu meinem Staunen und Entsetzen bemerkte, dass meine Frau auf der Straße stand und mich fest ins Auge gefasst hatte. Ich stieß einen Schrei der Überraschung aus, erhob die Hände, um mein Gesicht zu verhüllen, und stürzte zu dem Wirt, meinem Vertrauten, um ihn anzuflehen, doch ja niemand einzulassen. Wohl hörte ich ihre Stimme von unten, doch wusste ich, dass sie nicht heraufkommen könne. Schnell warf ich meine Kleider von mir, zog mein Bettlergewand an, schminkte mich und stülpte die Perücke auf. Selbst das Auge der eigenen Frau vermochte diese vollständige Verwandlung nicht zu durchschauen. Aber dann fiel mir ein, dass das Zimmer durchsucht werden und die Kleider mich verraten könnten. Eilig riss ich das Fenster auf, und bei dieser heftigen Bewegung öffnete sich eine kleine Wunde wieder, die ich mir an jenem Morgen in meinem Schlafzimmer zugezogen hatte. Dann ergriff ich meinen Rock, beschwerte ihn mit den Kupfermünzen, die ich aus der Ledertasche nahm, in der ich mein Erworbenes wegzutragen pflegte, und schleuderte ihn zum Fenster hinaus, wo er in der Themse verschwand. Die anderen Kleidungsstücke sollten folgen, aber im selben Augenblick hörte ich von der Treppe her das Nahen von Schutzleuten, und wenige Minuten nachher wurde ich zu meiner großen Erleichterung, ich muss es bekennen, anstatt als Neville St. Clair erkannt zu werden, als dessen Mörder festgenommen.
Es wird wohl kaum weiterer Aufklärungen bedürfen. Ich war fest entschlossen, meine Maske so lange als möglich beizubehalten, und daher also kam meine Vorliebe für das schmutzige Gesicht. Da ich wohl wusste, dass meine Frau entsetzlich in Angst sein würde, zog ich meinen Ring ab und vertraute ihn dem Malaien in einem Augenblick an, als mich gerade kein Polizeimann beobachtete, zugleich mit einem eiligst beschriebenen Fetzen Papier an meine Frau, der ihr sagen sollte, dass kein Grund zur Sorge vorliege.«
»Dieser Zettel erreichte sie erst gestern«, sagte Holmes.
»Großer Gott! Welche angstvolle Woche muss sie verbracht haben!«
»Die Polizei hat den Wirt bewacht«, erklärte der Inspektor, »und ich kann mir wohl denken, dass es ihm schwer genug geworden ist, den Brief unbeobachtet zur Post zu bringen. Wahrscheinlich hat er ihn irgendeinem Matrosen seiner Kundschaft übergeben, der ihn wohl ein paar Tage lang vergessen haben mag.«
»Ja, ja«, sagte Holmes mit zustimmendem Kopfnicken, »ohne Zweifel war es so. Doch sind Sie nie wegen Bettelns belangt worden?«
»Freilich, oftmals; aber was kümmerte mich eine Geldstrafe?«
»Doch hiermit muss es nun ein für allemal vorbei sein«, sagte Brad Street. »Soll die Polizei diese Geschichte totschweigen, darf es keinen Hugo Boone mehr geben.«
»Das habe ich mir selbst bei dem heiligsten Eid, den ein Mann leisten kann, geschworen.«
»In diesem Fall halte ich es für wahrscheinlich, dass keinerlei weitere Schritte geschehen werden. Doch sollten Sie je wieder beim Betteln betroffen werden, dann muss alles an den Tag kommen. Ihnen, Mr Holmes, sind wir für die Aufklärung der Sache zu großem Dank verpflichtet. Es würde mich interessieren, zu erfahren, wie und auf welchem Weg Sie zu Ihren merkwürdigen Schlussfolgerungen gelangten.«
»Zu den vorliegenden bin ich dadurch gelangt, dass ich mich auf fünf Kissen setzte und eine gute Portion Tabak verrauchte. – Wir wollen jetzt zur Baker Street fahren, Watson, ich denke, wir kommen gerade noch recht zum Frühstück.«