DER STERBENDE SHERLOCK HOLMES

Mrs Hudson, unsere Hauswirtin in der Baker Street, war eine geduldige Frau und von großer Langmut. Nicht nur wurde ihr erstes Stockwerk zu allen Stunden des Tages und der Nacht von den zahlreichsten und oft auch zweifelhaftesten Menschen überflutet, sondern ihr Mieter Sherlock Holmes zeigte in seiner Lebensführung eine Unregelmäßigkeit und Absonderlichkeit, die ihre Geduld oft hart auf die Probe gestellt haben müssen. Seine unglaubliche Unordentlichkeit, seine Vorliebe, zu den ungewöhnlichsten Stunden »Musik« zu machen, sein gelegentliches Pistolenschießen im Flur, seine qualmigen und oft recht übelriechenden wissenschaftlichen Versuche und schließlich die ganze Atmosphäre von Gefahr und Verbrechen, die ihn umgab, machten ihn sicher zu einem der unbequemsten Mieter in ganz London. Andererseits bezahlte er wie ein Fürst. Ich bezweifele kaum, dass das ganze Haus um den Preis hätte gekauft werden können, den Holmes für seine Zimmer während der Jahre bezahlte, die ich mit ihm zusammenwohnte.

Die Hauswirtin hatte den denkbar größten Respekt vor ihm und wagte nie, Einwendungen zu erheben, mochte das Benehmen meines Freundes auch mehr als nur ungewöhnlich sein. Auf ihre Art liebte sie ihn sogar, denn er war im Verkehr mit Frauen von einer merkwürdigen Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Er verachtete das ganze Geschlecht und misstraute ihm, aber er war stets ein ritterlicher Gegner.

Da ich wusste, wie sehr mein Freund bei Mrs Hudson in Ansehen und Achtung stand, so folgte ich sehr ernsthaft ihrer Erzählung, als sie im zweiten Jahr nach meiner Verheiratung zu mir kam und mir den traurigen Zustand Holmes’ offenbarte, in dem er sich seit Kurzem befand.

»Er stirbt, Doktor Watson«, sagte sie. »Seit drei Tagen sieht man ihn dahinsiechen, und es scheint mir fraglich, ob er den heutigen Tag überleben wird. Er wollte nicht, dass ich einen Doktor hole, aber heute Morgen, als ich sah, wie ihm die Knochen aus dem Gesicht stehen, und er mich mit fiebrigen Augen anstierte, konnte ich es nicht länger aushalten. ›Mit Ihrer Einwilligung oder gegen Ihren Willen, Mr Holmes, gehe ich jetzt augenblicklich einen Arzt rufen‹, sagte ich. ›Dann holen Sie mir wenigstens Watson‹, sagte er. An Ihrer Stelle würde ich keinen Augenblick säumen, Herr Doktor, wenn Sie ihn noch lebend antreffen wollen.«

Ich war entsetzt, denn ich hatte keine Ahnung von seiner Krankheit. Überflüssig, zu bemerken, dass ich sofort nach Überrock und Hut griff und mich auf den Weg machte. Als ich mit ihr zurückfuhr, fragte ich sie nach Einzelheiten.

»Da kann ich Ihnen nur wenig sagen, Herr Doktor; er arbeitete an einem Fall drunten in Rotherhite, in einer Gasse nahe an der Themse, und von dort hat er die Krankheit mitgebracht. Er legte sich am Donnerstagnachmittag zu Bett und hat es seitdem nicht mehr verlassen. Diese drei ganzen Tage hat er weder Nahrung zu sich genommen noch irgendetwas getrunken.«

»Um Gottes willen! Warum haben Sie nicht früher einen Arzt geholt?«

»Er hatte es ja verboten, Herr Doktor. Sie wissen ja, wie streng er ist. Ich wagte nicht, seinen Befehl zu missachten, aber er weilt nicht mehr lange unter uns, das werden Sie selber im gleichen Augenblick schon merken, wo Sie ihn erblicken. Es ist schrecklich.«

Er bot in der Tat einen kläglichen Anblick. In dem dämmerigen Licht eines nebeligen Novembertages war das Krankenzimmer ein düsteres Loch, aber was einen Kälteschauer in mein Herz dringen ließ, war dies geisterhafte, verwüstete Antlitz, das mich vom Bett aus anstierte. Seine Augen glitzerten vor Fieber, hektische Röte lag auf beiden Backen, und dunkle Krusten klebten an seinen Lippen; die skeletthaft mageren Hände zuckten unausgesetzt, seine Stimme war heiser und halb erstickt. Er lag gänzlich leblos da, als ich ins Zimmer trat, aber mein Anblick zauberte einen flüchtigen Freudenschimmer in seine Augen.

»Ah, Watson, es scheint, es kommen jetzt die Tage, die uns nicht gefallen«, sagte er mit matter Stimme, aber wie mir schien, mit seiner früheren Sorglosigkeit.

»Mein lieber Holmes!«, rief ich und trat zu ihm ans Bett.

»Zurück! Zurück da!«, sagte er mit dem scharf befehlenden Klang, den seine Stimme nur in Augenblicken der Gefahr annahm. »Wenn Sie näher kommen, Watson, dann schicke ich Sie wieder nach Hause.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich es will. Genügt Ihnen das nicht?«

Ja, Mrs Hudson hatte recht, er war herrischer denn je. Indes war es herzbrechend, seine Erschöpfung zu sehen.

»Ich kam ja nur, um Ihnen zu helfen«, erklärte ich.

»Gewiss, Sie helfen mir am Besten, wenn Sie das tun, was ich Ihnen sage.«

»Wie es Sie gut dünkt, Holmes.«

Er verzichtete auf den befehlenden Ton.

»Sie sind doch nicht ärgerlich?«, fragte er und rang nach Atem.

Armer Kerl, wie konnte ich ärgerlich sein, wenn ich ihn in diesem Zustand der Auflösung vor mir sah?

»Es ist zu Ihrem eigenen Besten, Watson«, sprach seine raue Stimme.

»Zu meinem Besten?«

»Ich weiß, was mit mir los ist. Es ist eine Kulikrankheit von Sumatra – eine Infektion, von der die Holländer mehr verstehen als wir, obwohl sie bis jetzt medizinisch noch nicht viel darüber gearbeitet haben. Eines nur steht fest: Die Krankheit ist absolut tödlich und in erschreckendem Maße ansteckend.«

Er sprach jetzt mit fieberhafter Erregung, seine Hände zuckten und sprangen, als er mich abwehrte.

»Ansteckend durch Berührung, Watson – das ist es: durch Berührung! Bleiben Sie mir vom Leib, und Sie sind nicht gefährdet.«

»Beim Himmel, Holmes, glauben Sie denn, dass eine solche Sicherheitserwägung mich auch nur einen Augenblick zurückhalten könnte? Nicht einmal, wenn der Patient ein Fremder wäre. Glauben Sie, das könnte mich abhalten, meine ärztliche Pflicht gegen einen so alten Freund zu erfüllen?«

Abermals trat ich an sein Bett, aber er trieb mich mit einem Blick voll wilden Ärgers zurück.

»Wenn Sie dort stehenbleiben wollen, dann werde ich sprechen. Wenn nicht – da ist die Tür!«

Ich hatte eine so große Hochachtung vor den außerordentlichen Fähigkeiten meines Freundes, dass ich mich seinen Wünschen stets gefügt habe, auch dann, wenn sie mir völlig unbegreiflich waren. Aber jetzt waren alle meine medizinischen Instinkte wach geworden. Mochte er unter anderen Umständen mir befehlen – ich befand mich jetzt als Arzt in einem Krankenzimmer.

»Holmes«, sagte ich, »ich darf Sie nicht ernst nehmen. Ein kranker Mann ist bloß ein Kind, und so muss ich Sie behandeln. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich werde Sie untersuchen und dem Befund gemäß ärztlich behandeln.«

Er sah mich mit geradezu giftigen Augen an.

»Wenn ich einen Doktor haben soll, einerlei ob ich mag oder nicht, dann möchte ich wenigstens einen haben, der mein Vertrauen verdient«, sagte er.

»Also ich verdiene Ihr Vertrauen nicht?«

»Als Freund restlos. Aber Tatsachen sind Tatsachen, Watson, und alles in allem sind Sie nur ein durchschnittlicher praktischer Arzt von mittelmäßiger Begabung und mit sehr begrenzter Erfahrung. Es ist schmerzlich, Ihnen so etwas sagen zu müssen, aber Sie lassen mir ja keine andere Wahl.«

Das war bitter.

»Solche Worte sind Ihrer unwürdig, Holmes. Sie zeigen mir aber mit aller Deutlichkeit Ihren wahren Nervenzustand. Jedoch, wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, so werde ich Ihnen meine Dienste nicht aufdrängen. Ich will gehen und Sir Jasper Meek oder Penrose Fisher oder einen der besten Ärzte Londons holen. Sie müssen ärztliche Hilfe haben, und dabei bleibe ich. Wenn Sie glauben, ich würde hier stehen bleiben und zuschauen, wie Sie sterben, ohne dass ich Ihnen helfe oder fremde ärztliche Hilfe bringe, dann haben Sie meine Freundschaft unterschätzt!«

»Sie meinen es ja gut, Watson«, sagte der kranke Mann mit einem Seufzer. »Soll ich Ihnen Ihre Unwissenheit nachweisen? Was wissen Sie denn vom Tapanuli-Fieber? Was wissen Sie denn von der schwarzen Formosa-Eiterung?«

»Ich habe weder vom einen noch vom anderen gehört.«

»Es gibt noch so manche unerforschte Krankheiten, so viele seltsame, pathologische Möglichkeiten im fernen Osten, Watson.«

Er setzte nach beinahe jedem Wort aus, um Atem zu holen. »Ich habe so viel gelernt bei meinen kürzlichen Untersuchungen auf medizinisch-kriminellem Gebiet. Bei diesen Forschungen habe ich mir die Krankheit zugezogen. Sie sind machtlos dagegen.«

»Sie mögen recht haben. Zufällig aber weiß ich, dass Dr. Airstree, die größte lebende Autorität für tropische Krankheiten, augenblicklich in London weilt. Alle Ihre Einwände nützen nichts, Holmes, ich gehe jetzt, den berühmten Arzt zu holen.«

Nie erlitt ich solch einen Schock! In einem Augenblick, mit einem wahren Tigersprung, war mir der sterbende Mann zuvorgekommen. Ich hörte das scharfe Schnappen eines Schlosses. Im nächsten Augenblick war er zu seinem Bett zurückgetaumelt; dort lag er erschöpft und schwer atmend nach diesem einen fürchterlichen Energieausbruch.

»Sie werden mir den Schlüssel nicht mit Gewalt abnehmen, Watson. Nun habe ich Sie, Freundchen. Sie haben zu mir kommen wollen, und nun sollen Sie hier bleiben, solange es mir gefällt, aber ich werde Sie unterhalten.« Er sagte das alles in abgerissenen Worten mit schrecklichen Atemkämpfen in den Pausen. »Sie meinen es von Herzen gut mit mir. Das weiß ich natürlich sehr wohl. Sie sollen auch Ihren Willen haben, nur lassen Sie mir erst Zeit, wieder zu Kräften zu kommen. Nicht jetzt, Watson, nicht jetzt. Es ist vier Uhr. Um sechs Uhr können Sie gehen.«

»Das ist ja Wahnsinn, Holmes.«

»Nur noch zwei Stunden, Watson, ich verspreche Ihnen, um sechs Uhr dürfen Sie gehen. Willigen Sie ein, so lange zu warten?«

»Ich habe ja keine andere Wahl.«

»Gut, dass Sie es einsehen, Watson. Danke, danke, ich kann mir das Bettzeug allein zurechtrichten. Bleiben Sie mir bitte ja vom Leib! So, Watson, nun habe ich noch eine weitere Bedingung zu stellen. Sie werden nicht den Arzt heranziehen, den Sie genannt haben, sondern den Mann, den ich mir wähle.«

»Ganz wie Sie wollen.«

»Die ersten vier vernünftigen Worte, die Sie heute hier gesprochen haben. Dort drüben finden Sie einige Bücher, ah, ich bin etwas matt; ich frage mich, was wohl eine Batterie fühlen mag, wenn sie ihre Elektrizität in einen Nichtleiter ausströmt. Um sechs Uhr, Watson, nehmen wir unsere Unterhaltung wieder auf.«

Aber es war bestimmt, dass wir sie lange vor dieser Zeit wieder aufnehmen sollten und unter Umständen, die mir einen zweiten Schock gaben, der an Heftigkeit dem ersten, als er mir vor die Tür sprang, kaum nachstand. Ich hatte einige Minuten dagestanden, die Augen auf die stumme Gestalt in dem Bett gerichtet. Das Gesicht war beinahe ganz verhüllt von der Bettdecke, er schien zu schlafen. Ich fühlte mich unfähig, etwas zu lesen und ging daher im Zimmer auf und ab und besah mir die Bilder der berühmten Verbrecher, mit denen die Wände vollbehängt waren. Schließlich trat ich in meiner Unrast an den Kaminsims. Tabaksbeutel, Pfeifen, Injektionsspritzen, Federmesser, Revolverpatronen und dergleichen lagen dort umher. In der Mitte stand eine kleine schwarz-weiße Elfenbeindose mit Schraubdeckel. Es war ein nettes kleines Ding, und ich hatte meine Hand ausgestreckt, um es näher zu betrachten, als – –

Es war der fürchterlichste Schrei, den ich je gehört habe – so durchdringend, dass man ihn gewiss am Ende der Straße hören konnte. Es lief mir kalt über die Haut, und das Haar stand mir zu Berge. Als ich mich umwandte, sah ich ein verzerrtes Gesicht und wahnsinnige Augen. Ich stand völlig gelähmt da mit der kleinen Dose in meiner Hand.

»Stellen Sie es weg! Augenblicklich weg damit, Watson – augenblicklich sage ich!« Sein Kopf sank auf das Kissen zurück, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich die Dose wieder auf den Kaminsims stellte.

»Es macht mich wild, wenn man meine Sachen anfasst, Watson. Sie wissen doch, dass ich das hasse. Sie quälen mich hier mehr als erträglich ist. Sie, ein Arzt – Sie haben das Zeug, um einen Patienten ins Irrenhaus zu treiben. Setzen Sie sich irgendwo hin, Mensch, und lassen Sie mir meine Ruhe!«

Der Zwischenfall machte einen höchst unangenehmen Eindruck auf mich. Die heftige, unbegründete Erregung, gefolgt von diesen brutalen Worten, so ganz abseits von seiner üblichen Freundlichkeit, zeigte mir, wie schwer sein Geist bereits zerrüttet war. Von allen Zerstörungen ist die eines vormals stolzen Geistes die ergreifendste. Ich saß in stummer Ergebenheit auf meinem Stuhl und wartete, bis es sechs Uhr schlug. Auch Holmes schien die Zeit genau verfolgt zu haben, denn kaum war es sechs Uhr, als er mit derselben fieberhaften Lebhaftigkeit wie zuvor begann:

»Nun, Watson, haben Sie Kleingeld in der Tasche?«

»Ja.«

»Silber darunter?«

»Ein paar Stücke.«

»Wie viele halbe Kronen?«

»Ich habe fünf.«

»Ah, das ist zu wenig! Zu wenig! Das trifft sich sehr unglücklich, Watson! Immerhin, Sie können sie ja einmal in Ihre Uhrentasche stecken. Und den ganzen Rest Ihres Geldes in die linke Hosentasche. Ich danke Ihnen. Das wird Ihnen das richtige Gleichgewicht geben.«

Das war vollendeter Wahnsinn. Ein Schauer durchlief ihn, und er stieß einen Laut aus, halb Husten, halb Seufzer.

»Zünden Sie jetzt bitte das Gas an, Watson, aber ich mache Sie dafür verantwortlich, dass die Flamme höchstens halb angedreht brennt. Ich habe mein Gründe und flehe Sie an, genau aufzupassen. Danke schön, so, so ist es gut, ausgezeichnet. Nein, nicht nötig, die Vorhänge herunterzulassen. Nun bitte legen Sie mir einige Briefe und Papiere auf diesen Tisch, sodass ich sie zur Hand habe. Danke schön. Nun einiges von dem Zeugs da auf dem Kaminsims. Ausgezeichnet, Watson! Dort muss eine Zuckerzange liegen. Bitte ergreifen Sie mit der Zange die Elfenbeindose. Stellen Sie sie hier zwischen die Papiere auf den Tisch. Gut! Jetzt können Sie gehen und Mr Culverton Smith, Lower Burke Street Nr. 13 holen.«

Die Wahrheit zu sagen, war mein Wunsch, einen Arzt zu holen, nicht mehr so lebhaft, denn mein armer Freund delirierte offenbar so stark, dass es gefährlich schien, ihn allein zu lassen. Indessen war er jetzt ebenso darauf versessen, den genannten Smith zu konsultieren, als er vorhin hartnäckig alle ärztliche Hilfe abgelehnt hatte.

»Den Namen habe ich nie gehört«, sagte ich.

»Wahrscheinlich nicht, mein guter Watson. Es wird Sie überraschen, dass der Mann, der auf der ganzen Welt am meisten von dieser Krankheit versteht, nicht ein Mediziner ist, sondern ein Pflanzer. Mr Culverton Smith ist ein bekannter Pflanzer von Sumatra und zur Zeit in London. Eine Epidemie dieser Krankheit auf seiner Pflanzung, die weitab von jeder ärztlichen Hilfe gelegen ist, gab ihm Anlass, sie selbst zu studieren, und dabei kam er auf einige sehr weitreichende Entdeckungen. Er ist ein sehr methodischer Mann, und ich wollte nicht, dass Sie vor sechs Uhr zu ihm gingen, da ich wusste, dass Sie ihn zu Hause nicht anträfen. Wenn Sie ihn überreden könnten, hierher zu kommen, und mir die Vorteile seiner einzigartigen Erfahrungen mit dieser Krankheit, deren Erforschung sein liebstes Steckenpferd ist, zukommen zu lassen, so zweifle ich nicht daran, dass ich noch zu retten wäre.«

Ich gebe hier als ein zusammenhängendes Ganzes wieder, was Holmes mir sagte, und unterlasse den Versuch zu schildern, wie seine Worte durch Atemnot, Husten und das wilde Zucken seiner Hände unterbrochen wurden, die seinen schmerzhaften Zustand verrieten. Sein Aussehen war während der wenigen Stunden, die ich mit ihm zusammen war, noch schlechter geworden. Die hektische Röte war ausgesprochener, die Augen lagen noch tiefer in ihren Höhlungen und funkelten noch fiebriger, und kalter Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner blassen Stirn. Er hatte sich jedoch die ruhige Sicherheit seiner Sprache bewahrt. Ich wusste, bis zum letzten Atemzug würde er der Herr und Meister bleiben.

»Sie werden ihm genau schildern, in welchem Zustand Sie mich verlassen haben«, sagte er. »Sie werden ihm Ihren Eindruck von mir wiedergeben – ein sterbender Mann – ein sterbender Mann in Delirien. In der Tat, ich kann mir nicht erklären, weshalb der ganze Boden des Ozeans nicht eine einzige kompakte Masse von Austern ist, so rasch vermehren sich diese Schalentiere. Ah, ich rede irre! Sonderbar, wie das Gehirn das Gehirn kontrolliert! – – Von was wollte ich eben sprechen, Watson?«

»Meine Anweisungen für Culverton Smith.«

»Ach ja, ich entsinne mich. Mein Leben hängt davon ab. Sie müssen ihm zureden, Watson. Wir haben keine Liebe zueinander, im Gegenteil. Sein Neffe, Watson – ich hatte Smith im Verdacht eines Verbrechens und ließ es ihn merken. Der Junge ist scheußlich gestorben. Er hat einen Hass auf mich. Aber Sie werden ihn besänftigen, Watson. Bitten Sie ihn, flehen Sie ihn an, schaffen Sie ihn mir mit allen Mitteln hierher. Er kann mich retten – nur er allein!«

»Ich werde ihn in einer Droschke herfahren, und wenn ich ihn mit Gewalt entführen müsste.«

»Nein, bitte nichts dergleichen. Sie werden ihn überreden herzukommen, und dann werden Sie ihm vorauseilen zu mir. Erfinden Sie irgendeine Ausrede, um nicht mit ihm zusammen herzukommen. Vergessen Sie das nicht, Watson. Sie dürfen hier nicht versagen. Sie haben sich noch immer bewährt als Freund. Ohne Zweifel gibt es natürliche Gegner, die das Oberhandnehmen der Schalentiere verhindern. Sie und ich Watson, wir haben unsere Pflicht getan. Soll trotzdem die Welt von Austern überflutet werden? Nein, nein, grässlich! Nun gehen Sie und berichten Mr Smith getreulich, wie es hier steht.«

Ich verließ ihn, erfüllt von dem Eindruck dieses großartigen Intellekts, der jetzt kindisch vor sich hin redete. Er hatte mir den Schlüssel gegeben und ich kam auf den guten Gedanken ihn einzustecken, damit er sich nicht etwa einschlösse. Draußen fand ich Mrs Hudson zitternd und weinend. Als ich die Treppe hinunterging, hörte ich Holmes’ hohe dünne Stimme unmelodisch singen. Unten auf der Straße, als ich eine Droschke herbeipfiff, kam ein Mann zu mir durch den Nebel.

»Wie geht es Mr Holmes?«, fragte er.

Es war ein alter Bekannter, Inspektor Morton von Scotland Yard, in Zivilkleidung.

»Es geht ihm sehr schlecht«, antwortete ich.

Er sah mich auf eine sehr eigentümliche Art an. Es schien mir fast, als leuchte das Gesicht vor Schadenfreude auf.

»Ich hatte etwas davon gehört«, sagte er.

Die Droschke fuhr heran, und ich verließ ihn.

Lower Burke Street erwies sich als eine Zeile feiner Häuser in der ansprechenden Gegend zwischen Notting Hill und Kensington. Das gesuchte Haus, vor dem der Kutscher mich absetzte, war von ernstem, aber nicht unschönem Aussehen, mit altmodischem eisernen Gitterwerk, einer schweren Doppeltür und blankgeputztem Messing. Auf mein Klingeln erschien ein feierlicher Diener.

»Jawohl, Mr Smith ist zu Hause.« Er las meine Karte. »Herr Doktor Watson! Ich bitte, sich einen Augenblick zu gedulden, ich werde Sie anmelden.«

Mein bescheidener Name und Titel schienen auf Mr Culverton Smith keinen Eindruck zu machen. Durch die halboffene Tür vernahm ich eine hohe, ärgerliche, durchdringende Stimme.

»Wer ist das? Was will er? Mein Gott, Staples, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich zu meinen Studierzeiten nicht gestört sein will!«

Ich hörte den Diener ein paar besänftigende Entschuldigungen sprechen.

»Schon gut, aber ich empfange jetzt niemand. Ich kann meine Arbeit nicht einfach im Stich lassen. Ich bin nicht zu Hause. Sagen Sie ihm das. Er soll morgen früh wieder kommen, wenn er mich wirklich so dringend sprechen muss.«

Wieder hörte ich die leise Stimme des Dieners.

»Alles schön und gut, aber ich lasse mich nicht in meiner Arbeit stören. Sagen Sie ihm das! Er kann ja morgen früh kommen oder meinetwegen lieber wegbleiben.«

Ich dachte an Holmes, wie er in seinem Bett nach Atem rang und wahrscheinlich die Minuten zählte, bis die erhoffte Hilfe erscheine. Hier musste alle zeremonielle Höflichkeit weichen. Sein Leben hing von meinem Erfolg ab. Ehe mir noch der Diener den ablehnenden Bescheid seines Herrn überbracht hatte, war ich an ihm vorbei in das Zimmer getreten.

Mit einem ärgerlichen Ausruf erhob sich ein Mann von einem Stuhl neben dem Kaminfeuer. Ich sah ein großes gelbes Gesicht, grob geschnitten, mit starkem Doppelkinn und zwei drohend blickenden grauen Augen, die unter buschigen, gelben Brauen hervor Blitze nach mir schossen. Auf dem kahlen Schädel saß, beinahe kokett zur Seite geschoben, eine kleine Samtmütze. Dieser Schädel musste ein ungewöhnlich großes Gehirn bergen, und doch, als ich die ganze Gestalt ins Auge fasste, erschien mir der Körper des Mannes klein und schwächlich, mit vorgebeugten Schultern, wie bei jemand, der als Kind an Rachitis gelitten hat.

»Was soll das?«, schrie er mit hoher Stimme. »Was erlauben Sie sich, hier einzudringen? Habe ich Ihnen nicht sagen lassen, ich sei morgen früh für Sie zu sprechen?«

»Es tut mir leid, aber die Sache duldet keinen Aufschub. Mein Freund Sherlock Holmes ...«

Die Erwähnung dieses Namens war von außerordentlicher Wirkung auf diesen kleinen Mann. Der Ärger verschwand sogleich aus seinem Blick. Sein Gesicht verriet gespannte Neugier.

»Sie kommen von Sherlock Holmes?«, fragte er.

»Ich habe ihn soeben erst verlassen.«

»Was macht Mr Holmes, wie geht es ihm?«

»Es geht verzweifelt schlecht. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«

Der Mann bot mir einen Stuhl an, und wir setzten uns. Bei dieser Gelegenheit sah ich einen Augenblick lang sein Gesicht in dem Spiegel über dem Kaminsims. Ein boshaftes, gemeines Lächeln schien sich darüber zu breiten. Aber ich überredete mich, es müsse ein nervöses Zucken gewesen sein, das ich zufällig gewahrte, denn im nächsten Augenblick wandte er sich mir zu mit vollendeter Liebenswürdigkeit in seiner Miene.

»Es tut mir sehr leid, das zu hören«, sagte er. »Ich kenne Mr Holmes lediglich durch einige geschäftliche Beziehungen, die wir miteinander hatten, aber ich schätze seine Talente und seinen Charakter überaus hoch. Er ist ein Liebhaber auf dem Gebiet der Verbrechen, wie ich auf dem der Infektionen. Was für ihn der schwere Junge, ist für mich der Bazillus. Das da sind meine Zuchthäuser«, fuhr er fort, indem er auf eine Reihe von Gläsern und Röhrchen wies, die auf einem kleinen Tische standen.

»Unter diesen Gelatinekulturen sind einige mit den schlimmsten Übeltätern der Welt, die jetzt hier ihre Zeit absitzen.«

»Eben wegen Ihrer besonderen Kenntnisse wünschte Mr Holmes, Sie zu sehen. Er hat eine hohe Meinung von Ihnen und glaubt, dass Sie der einzige Mensch in London sind, der ihm helfen kann.«

Der kleine Mann sprang auf, so heftig, dass das Samtkäppchen ihm übers Ohr rutschte und zu Boden fiel.

»Wieso?«, fragte er. »Wieso kommt Mr Holmes auf den Gedanken, dass ich ihm helfen könnte?«

»Wegen Ihrer Erfahrung mit tropischen Krankheiten, besonders denen des fernen Ostens.«

»Aber was berechtigt ihn zu der Annahme, dass die Krankheit, die er sich zugezogen hat, in mein Spezialfach schlägt?«

»Weil er beruflich in letzter Zeit mit chinesischen Seeleuten in den Docks zu tun hatte.«

Mr Culverton Smith lächelte wohlgefällig und hob sein Samtkäppchen wieder auf.

»Oh, ich verstehe, ich verstehe«, sagte er. »Ich glaube aber, seine Krankheit ist nicht so schlimm, wie Sie annehmen. Wie lange ist Ihr Freund schon krank?«

»Seit drei Tagen.«

»Hat er Fieberdelirien?«

»Ja, zwischendurch.«

»Tja, tja, das klingt doch bedenklich. Es wäre unmenschlich, wenn ich nicht zu ihm eilte. Ich kann Störungen bei meiner Arbeit nicht vertragen, Herr Doktor, aber hier mache ich selbstverständlich gern eine Ausnahme. Ich komme sogleich mit.«

Ich erinnerte mich an Holmes’ strenge Weisung.

»Ich habe noch eine andere Verabredung«, erwiderte ich.

»Schön, dann gehe ich eben allein. Die Adresse des Mr Holmes ist mir bekannt. Sie können sich bestimmt darauf verlassen, dass ich in längstens einer halben Stunde an seinem Krankenlager stehen werde.«

Mit einem bedrückten Herzen trat ich wieder bei meinem Freund ein. So wie ich ihn verlassen hatte, konnte das Schlimmste während meiner Abwesenheit eingetreten sein. Zu meiner ungeheuren Erleichterung aber fand ich, dass sein Zustand sich in der Zwischenzeit sehr gebessert hatte. Sein Aussehen freilich war so geisterhaft wie vorher, aber er war völlig klar im Kopf und sprach mit zwar schwacher Stimme, aber mit größerer Bestimmtheit und Lebhaftigkeit als selbst in seinen gesunden Tagen.

»Nun, Watson, haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ja, er kommt.«

»Ausgezeichnet, Watson! Ausgezeichnet! Sie sind doch der beste Freund.«

»Er wollte mit mir herkommen.«

»Das würde alles vereitelt haben. Das durfte unter keinen Umständen geschehen. Hat er Sie gefragt, was mir fehlt?«

»Ich sprach ihm von der Krankheit und von den Chinesen in den Docks.«

»Gut! Watson, Sie haben alles für mich getan, was ein guter Freund für mich tun konnte. Sie können jetzt von der Bühne abtreten.«

»Ich muss doch warten, bis er kommt und seine Ansicht hören, Holmes.«

»Natürlich müssen Sie, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass er seine Meinung viel offener aussprechen wird, wenn er glaubt, mit mir allein zu sein, und dass dies für Sie wesentlich aufschlussreicher sein wird. Da hinter dem Kopfende meines Bettes wird gerade Platz genug für Sie sein, Watson.«

»Aber Holmes!«

»Ich fürchte nur, Ihnen bleibt keine andere Wahl. Das Zimmer bietet sonst keine Gelegenheit, sich zu verstecken, und das ist auch sehr gut so, denn er wird dann umso weniger Verdacht schöpfen. Hier hinter dem Bett, das wird gerade noch gehen.« Plötzlich richtete er sich auf mit vorgebeugtem Kopf. »Ich höre schon die Droschke. Schnell, Watson, wenn Sie meines ewigen Dankes sicher sein wollen! Und rühren Sie sich nicht, was auch geschehen mag – rühren Sie sich unter gar keinen Umständen. Verstanden? Aber merken Sie sich genau jedes Wort, das gesprochen wird.« Dann sank er wieder todmatt in seine Kissen zurück, und seinen im Befehlston gesprochenen Worten folgte das sinnlose Gemurmel eines im Fieber liegenden Sterbenden.

Von meinem Versteck aus, in das ich so plötzlich genötigt worden war, hörte ich Schritte auf der Treppe, dann das Öffnen und Schließen der Zimmertür. Zu meiner Überraschung folgte eine lange dauernde Stille, die nur von den schweren, röchelnden, unregelmäßigen Atemzügen des Kranken unterbrochen wurde. Ich stellte mir vor, dass Mr Smith neben dem Bett stand und den kranken Dulder betrachtete. Endlich wurde diese unheimliche Stille unterbrochen.

»Holmes!«, rief er. »Holmes!«

Der Kranke rührte sich offenbar nicht.

»Hallo, können Sie mich hören, Holmes?«, rief er von Neuem, in dem scharfen Ton jemandes, der einen Schlafenden aufwecken will. Zugleich vernahm ich ein Geräusch, als schüttele er den Kranken heftig an der Schulter.

»Sind Sie das, Mr Smith?«, flüsterte Holmes. »Ich durfte ja kaum hoffen, dass Sie zu mir kämen.«

Der andere lachte.

»Allerdings! Und dennoch, wie Sie sehen, bin ich sofort gekommen. Feurige Kohlen, Holmes – feurige Kohlen!«

»Es ist sehr gütig von Ihnen – das ist edel gehandelt. Ich schätze Ihre besonderen Kenntnisse von gewissen Krankheiten.«

Mr Smith lachte wieder.

»Ja, das tun Sie. Zum Glück sind Sie der einzige in London, der das tut. Wissen Sie, was Ihnen fehlt?«

»Dasselbe«, antwortete Holmes.

»Aha, Sie erkennen die Symptome wieder?«

»Nur zu gut!«

»Tja, Holmes, es überraschte mich nicht, wenn es wirklich ›dasselbe‹ wäre. Es steht schlimm mit Ihnen, wenn es wirklich so ist. Der arme Victor war binnen vier Tagen tot – ein kräftiger, gesunder junger Mensch. Wie Sie ganz richtig damals sagten, war es auffallend, dass er sich eine so entlegene ostasiatische Krankheit im Herzen Londons zuzog. Ausgerechnet die Krankheit, deren Erforschung mich so lange beschäftigte. Das ist ein merkwürdiger Zufall, Holmes. Es war in der Tat meisterhaft von Ihnen, dass Sie darauf kamen, aber sehr unfreundlich, dass Sie da von Ursache und Wirkung sprachen.«

»Ich weiß, dass Sie es getan haben!«

»Oh, Sie wissen es, so? Aber beweisen konnten Sie es doch nicht. Was halten Sie eigentlich von sich selbst, wenn Sie erst solche Gerüchte ausstreuen und dann bei mir um Hilfe winseln, sobald Sie in Not sind? Was ist das für ein Spiel, he?«

Ich hörte das stoßweise Röcheln und Luftholen des Kranken. »Das Wasser«, bat er.

»Sie sind Ihrem Ende schon recht nahe, Holmes, aber ich möchte nicht, dass Sie sterben, ehe ich nicht noch ein Wort mit Ihnen gesprochen habe. Deshalb gebe ich Ihnen das Wasser. Da, verschütten Sie es nicht. So ist’s recht! Können Sie verstehen, was ich sage?«

Holmes stöhnte.

»Tun Sie für mich, was Sie können. Lassen Sie Vergangenes vergangen sein«, flüsterte er fast tonlos. »Ich will mich an nichts mehr erinnern – ich schwöre es. Machen Sie mich gesund, und ich will’s vergessen.«

»Was vergessen?«

»Victor Savages Tod meine ich. Sie haben eben so gut wie eingestanden, dass Sie es getan haben. Ich will’s vergessen.«

»Sie mögen es vergessen oder nicht, ganz wie es Ihnen beliebt. Sie sehe ich nicht mehr auf der Zeugenbank! Kein Gericht, außer dem Nachlassgericht, wird sich mehr mit Ihnen beschäftigen, das versichere ich Ihnen. Es ist mir ganz gleichgültig, ob Sie wissen, wie mein Neffe starb. Auch bin ich nicht hergekommen, um über ihn zu reden, sondern über Sie.«

»Ja, ja.«

»Der Mensch, den Sie zu mir um Hilfe schickten – wie heißt er doch? – sagte, Sie hätten sich die Infektion in den Docks bei den chinesischen Seeleuten geholt.«

»Ich wüsste keine andere Möglichkeit.«

»Sie sind so stolz auf Ihren überlegenen Verstand, Holmes. Sie halten sich für so klug, nicht wahr? Aber diesmal sind Sie an einen Klügeren geraten. Jetzt denken Sie einmal nach, Holmes. Können Sie sich keine andere Möglichkeit denken, wie Sie zu der Krankheit kommen konnten?«

»Ich kann nicht nachdenken. Mein Kopf ist so müde. Um Himmels willen, helfen Sie mir!«

»Ja, ich will Ihnen helfen. Nämlich zu verstehen, weshalb Sie krank sind. Das sollen Sie noch erfahren, ehe Sie sterben.«

»Geben Sie mir etwas, um diese Schmerzen zu mildern!«

»Schmerzen haben Sie? Stimmt! Die Kulis fingen auch allemal an zu wimmern, wenn es gegen das Ende ging. Es ist so ein Krampf da drinnen in der Brust, nicht?«

»Ja, ja, wie ein Krampf. Oh!«

»Also passen Sie auf! Können Sie sich nicht ein ungewöhnliches Vorkommnis denken, vor drei Tagen etwa, kurz bevor Sie krank wurden?«

»Nein, nein, nichts.«

»Denken Sie gut nach!«

»Ich bin zu krank zum Denken.«

»Nun, so will ich Ihnen helfen. Kam da nicht etwas mit der Post?«

»Mit der Post?«

»Ja, eine Dose zum Beispiel.«

»Oh, ich kann nicht mehr …«

Holmes murmelte noch wenige zusammenhanglose Worte, dann war es still. Er schien in Ohnmacht gesunken. Nach einer kleinen Weile rief Mr Smith: »Holmes, Holmes!«, und es hörte sich wieder so an, als schüttele er den Sterbenden. Ich musste mit aller Gewalt an mich halten, um nicht aus meinem Versteck hervor und dem Rohling an den Hals zu springen.

»Sie müssen mich hören!«, schrie er. »Erinnern Sie sich an die Dose? Eine Elfenbeindose? Sie kam am Donnerstag. Sie haben Sie aufgemacht, entsinnen Sie sich?«

»Ja, ja – aufgemacht. Da war eine Sprungfeder drin. Ein Scherz …«

»Alles andere als ein Scherz! Verlassen Sie sich darauf. Sie Narr, Sie wollten es ja nicht anders. Nun haben Sie es. Wer hat Ihnen befohlen, meine Wege zu kreuzen? Hätten Sie mich in Ruhe gelassen, dann hätte ich Ihnen nichts getan.«

»Ich erinnere mich«, stöhnte Holmes. »Die Feder, sie hat mich in den Finger gestochen. Die Dose – da steht sie auf dem Tisch!«

»Da ist sie ja; wahrhaftig, meine Dose. Ich werde sie mitnehmen, Sie wäre Ihr einziges Beweisstück. Aber Sie kennen jetzt die Wahrheit, Holmes, und Sie sterben mit dem Wissen, dass ich Sie töte. Sie wussten zu viel vom Schicksal Victor Savages, also müssen Sie es jetzt mit ihm teilen. Sie sind Ihrem Ende sehr nahe, Holmes. Ich will hier Platz nehmen und vollends zusehen, wie Sie sterben.«

Ich hörte einen Stuhl rücken. Dann nach einer Weile ein leises Flüstern von Holmes.

»Was soll ich tun?«, fragte Smith. »Das Gas aufdrehen? Aha, Sie sehen schon die Schatten sich herniedersenken. Ja, ich will Licht machen, damit ich Sie besser sehen kann.« Er schritt durch das Zimmer, und plötzlich wurde es hell. »Kann ich Ihnen irgend sonst noch einen kleinen Dienst erweisen, Holmes?«

»Eine Zigarette und ein Streichholz.«

Ich hätte hinter dem Bett beinahe aufgeschrien vor Freude und vor Staunen: Holmes sprach mit seiner gewöhnlichen Stimme. Vielleicht etwas leiser, aber es war die alte, mir so gut bekannte Stimme wieder. Eine lange Pause trat ein und ich fühlte, dass Culverton Smith in stummem Staunen dastand und auf meinen Freund hernieder sah.

»Was soll das bedeuten?«, hörte ich ihn endlich fragen, mit trockener, harter Stimme.

»Die beste Methode, eine Rolle zu spielen«, sagte Holmes, »ist die, die Rolle zu leben. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich seit drei Tagen weder Speise noch Trank angerührt habe, bis Sie mir vorhin das Glas Wasser gereicht haben. Das war gütig von Ihnen. Aber den Tabak vermisste ich am meisten. Ah, da sind ja wahrhaftig Zigaretten.« Ich hörte wie ein Zündholz angestrichen wurde. »Jetzt ist mir schon viel besser. Hallo – hallo! Höre ich nicht den Schritt eines Freundes?«

Draußen wurden in der Tat Schritte vernehmbar, die Tür ging auf, und herein trat Inspektor Morton.

»Es hat alles geklappt, und das hier ist Ihr Mann«, sprach Holmes.

Der Beamte erfüllte die vom Gesetz verlangte Förmlichkeit. »Ich verhafte Sie, Culverton Smith«, sagte er, »unter Anklage des Mordes an einem gewissen Victor Savage.«

»Und Sie können hinzufügen des versuchten Mordes an einem gewissen Sherlock Holmes«, setzte mein Freund hinzu. »Um mir krankem Mann die Mühe zu ersparen, hatte Mr Smith die Liebenswürdigkeit, selbst das verabredete Zeichen zu geben und das Gas voll aufzudrehen. Ihr Gefangener hat übrigens in der rechten Tasche seines Überziehers eine kleine Dose, die Sie ihm besser abnehmen. Danke Ihnen. Seien Sie vorsichtig mit dem Ding, da sitzt der Teufel drin. Stellen Sie’s dort auf den Tisch. Das ist ein wichtiges Beweisstück, Inspektor.«

Ich hörte plötzlich Lärm und Durcheinander, dann das scharfe Klicken von Stahl und einen Schmerzensschrei.

»Sie tun sich nur unnötig weh«, sagte der Inspektor. »Am besten für Sie, wenn Sie ganz ruhig bleiben und hier keine Scherereien machen.«

»Das ist eine nette Falle«, schrie Smith voll Wut. »Das wird Sie vors Gericht bringen, Holmes, und nicht mich. Er hat mich bitten lassen, hierher zu kommen, um ihn zu heilen. Er tat mir leid und ich kam sofort. Jetzt wird er wahrscheinlich behaupten, ich hätte hier Dinge gesagt, die seinen irrsinnigen Verdacht bestätigen. Sie mögen lügen, so viel Sie wollen, Holmes – mein Wort wiegt genau so schwer wie das Ihrige!«

»Donnerwetter!«, rief Holmes. »Den armen Teufel habe ich ja ganz vergessen. Watson, kommen Sie hervor, ich bitte tausend Mal um Entschuldigung. Dass ich Sie so ganz vergessen konnte! Mr Smith brauche ich Ihnen nicht erst vorzustellen, da Sie ihn ja erst vor kurzem selber kennenlernten. Haben Sie eine Droschke unten, Inspektor? Sobald ich mich angezogen habe, möchte ich Ihnen folgen, denn ich kann Ihnen noch einiges Wichtige sagen, wenn wir auf Ihrer Station sind.«

Während Holmes sich ankleidete, reichte ich ihm Biskuits mit Rotwein. »Nie im Leben habe ich so etwas nötiger gehabt«, sagte er und aß gierig. »Aber Sie wissen ja, ich bin keine Regelmäßigkeit gewohnt, und so eine Hungerkur bedeutet für mich weniger als für die meisten anderen. Es war besonders wichtig, dass ich Mrs Hudson meinen kranken Zustand überzeugend vortäuschte, denn die sollte Ihnen davon erzählen und Sie wiederum ihm. Sie dürfen nicht verletzt sein, Watson. Unter Ihren vielen Fähigkeiten fehlt die Kunst der Verstellung völlig, und wenn Sie an meine Krankheit nicht geglaubt hätten, dann wäre es Ihnen nie gelungen, Mr Smith hierher zu locken. Davon aber hing alles ab. Mir war sein rachsüchtiger Charakter bekannt, und dass es ihm eine Befriedigung sein würde, zu beobachten, wie ich an seiner Bazilleninfektion sterbe.«

»Aber Ihr geisterhaftes Aussehen, Holmes! Man kann Delirium vortäuschen, aber doch nicht …«

»Wissen Sie, drei Tage fasten, das heißt also nahezu verschmachten, verschönert niemanden. Im Übrigen habe ich ja einiges schon mit dem Schwamm abgewaschen. Mit Vaseline auf die Stirn geschmiert, Belladonna in die Augen geträufelt, Schminke auf den Backen und Wachs an den Lippenrändern kann man einen ganz netten Eindruck erzielen. Mit der Kunst der Simulation habe ich mich viel beschäftigt und schreibe vielleicht noch einmal eine Monografie darüber. Ein paar unsinnige gelegentliche Worte über halbe Kronen, Austern oder sonst etwas Verrücktes täuschen selbst dem Arzt Delirium vor.«

»Aber weshalb wollten Sie nicht, dass ich Ihnen nahe käme, wo doch keine Ansteckung zu fürchten war?«

»Können Sie das fragen, Watson? Glauben Sie, ich hätte so wenig Achtung vor Ihren medizinischen Kenntnissen? Ihnen wäre es doch sofort aufgefallen, dass ein Sterbender keine normale Temperatur und keinen normalen Puls haben kann. So schwach ich auch war, Sie wollten mich doch untersuchen, und beides hätten Sie zu Ihrer Überraschung festgestellt. Auf vier Schritte Entfernung konnte ich Sie täuschen. Auf die Nähe aber nicht. Und wer hätte mir dann meinen Smith herbeigeholt? – Nein, Watson, ich würde die Dose lieber stehen lassen. Unter dem Deckel an der Seite sehen Sie ein kleines Loch. Wenn Sie den Deckel abschrauben, fährt da eine Nadelspitze heraus. Auf solch eine Art muss er seinen Neffen umgebracht haben, der zwischen ihm und seiner Erbschaft stand. Ich bin aber berufsmäßig misstrauisch, und als die Dose mit der Post ankam, roch ich Lunte. Der Trick ist nicht neu genug. Aber nun kam mir sofort der Gedanke, dass, wenn ich mich so stellte, als sei sein Anschlag gelungen, ich ihn fangen könne und er ein Geständnis von sich gebe. Es hat wunderbar geklappt, Watson. Aber bitte, geben Sie mir noch einmal die Biskuits her! Ich habe ja drei Tage Essen gut!«