Im Frühling des Jahres 1894 war ganz London in Aufregung. Besonders die vornehme Welt war durch die Ermordung von Ronald Adair tief erschüttert. Dieser junge Baron hatte unter höchst eigentümlichen Umständen und auf ganz unerklärliche Weise das Leben verloren. Das Publikum hat von diesem Verbrechen seinerzeit nur wenig Näheres erfahren, weil die polizeilichen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt hatten, und überdies das meiste im Interesse der weiteren Verfolgung des an und für sich schon außerordentlich schwierigen Falles geheim gehalten werden musste. Erst jetzt nach Verlauf von zehn Jahren bin ich in der Lage, die fehlenden Glieder der Kette sowie den Schluss der Untersuchung bekannt zu geben. Aber trotz dieser langen Zeit empfinde ich noch ein Schaudern, wenn ich an das Verbrechen und seine tragische Aufdeckung denke, fühle aber auch von Neuem jene Freude und jene Bewunderung, die mich damals erfüllte, als es endlich gesühnt war. Die Öffentlichkeit möge mir’s zu gut halten, dass ich ihr nicht gleich alles, was ich wusste, mitgeteilt habe, nachdem sie bereits meinen früheren Erzählungen über das Tun und Denken eines merkwürdigen Mannes ein lebhaftes Interesse geschenkt hatte. Ich würde es sicherlich nicht verabsäumt haben, denn ich hielt es für meine vornehmste Pflicht; aber eine Bitte aus dem eigenen Mund eben dieses Mannes verhinderte mich daran, und erst vor ein paar Monaten bin ich von meinem Versprechen entbunden worden.
Wie man sich leicht denken kann, hatte ich infolge meiner intimen Freundschaft mit Sherlock Holmes an dem Verbrechen ein hervorragendes Interesse, und habe, weil er selbst nicht mehr da war, die verschiedenen Fragen, die daran geknüpft wurden, genau verfolgt und geprüft. Zu meiner Beruhigung habe ich sogar seine eigenen Methoden zur Aufklärung angewandt, freilich mit nur geringem Erfolge. Als ich las, dass in dem wegen der Ermordung des Ronald Adair eingeleiteten Verfahren aufgrund der Voruntersuchung die Anklage wegen vorsätzlichen Mordes gegen Unbekannt erhoben worden war, kam es mir wieder deutlicher als je zuvor zum Bewusstsein, was die Gesellschaft an Sherlock Holmes verloren hatte. In dieser dunkeln Angelegenheit gab es Punkte klarzustellen, die gerade etwas für ihn gewesen wären, und die Anstrengungen der Polizei würden durch die Beobachtungen, die Gewandtheit und den Scharfsinn dieses ersten Detektivs Europas wesentlich ergänzt und in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein. Jeden Tag, wenn ich meine Runde machte, überlegte ich mir den Fall von Neuem, ohne jedoch zu einer ausreichenden und vollkommen befriedigenden Erklärung gelangen zu können.
Auf die Gefahr hin, einigen Lesern eine bekannte Geschichte zu erzählen, will ich hier doch die Tatsachen rekapitulieren, soweit sie am Schluss der Vorverhandlung bekannt waren:
Ronald Adair war der zweite Sohn des Grafen Maynooth, des damaligen Gouverneurs in einer australischen Kolonie. Adairs Mutter war von Australien nach England gekommen, um sich hier einer Augenoperation zu unterziehen; sie bewohnte mit ihrem Sohn Adair und ihrer Tochter Hilda das Haus Park Street 427 in London. Der junge Mann verkehrte in der besten Gesellschaft und hatte, soviel man wusste, keine Feinde und auch keine besonderen Laster. Er war mit einem Miss Edith Woodley aus Carstairs verlobt gewesen; dieses Verhältnis war einige Monate vor seinem Tod mit beiderseitiger Einwilligung gelöst worden, und nichts hatte darauf hingedeutet, dass dadurch ein tieferes Gefühl verletzt worden wäre. Im Übrigen spielte sich das Leben des jungen Herrn in einem vornehmen kleinen Kreis ab, denn er war von ruhiger Natur und kein Freund von Extravaganzen. Trotzdem wurde dieser friedliche junge Edelmann in der Nacht des 30. März 1894 zwischen zehn und elf Uhr zwanzig Minuten auf eine höchst merkwürdige Weise und gänzlich unerwartet vom Tod ereilt.
Ronald Adair spielte gerne Karten, aber nie so hoch, dass ihn Verluste geschmerzt hätten. Er war Mitglied des Baldwin-, des Cavendish- und des Bagatelle-Kartenklubs. Nach dem Abendessen hatte er an jenem Tag nachgewiesenermaßen in dem letztgenannten Klub eine Partie Whist gespielt. Er hatte auch bereits am Nachmittag dort gespielt. Nach Aussage seiner Mitspieler – des Mr Murray, des Barons Hardy und des Obersten Moran – hatte es sich ebenfalls um Whist gehandelt, und waren die Karten ziemlich gleichmäßig gefallen. Adair konnte höchstens fünf Pfund verloren haben. Er besaß ein beträchtliches Vermögen, sodass ihn ein derartiger Verlust nicht weiter rühren konnte. Er hatte fast jeden Tag in dem einen oder anderen Klub gespielt, aber er war ein vorsichtiger Spieler und gewann gewöhnlich. Es wurde durch Zeugen festgestellt, dass er einige Wochen vorher an einem einzigen Abend in Gemeinschaft mit dem Obersten Moran tatsächlich gegen 420 Pfund von Godfrey Milner und Lord Balmoral gewonnen hatte. Diese Angaben, die im Laufe der Untersuchung über sein Vorleben gemacht wurden, mögen genügen.
Am Abend des Verbrechens kehrte er Punkt zehn Uhr aus dem Klub zurück. Seine Mutter und Schwester waren zu Besuch bei einer Verwandten. Das Dienstmädchen hat unter Eid ausgesagt, dass sie ihn in das Vorderzimmer im zweiten Stock, wo er sich gewöhnlich aufhielt, hat eintreten hören. Sie hatte dort Feuer angemacht und, weil es rauchte, die Fenster geöffnet. Kein Laut war aus dem Zimmer an ihr Ohr gedrungen. Als um elf Uhr zwanzig Minuten die Gräfin mit ihrer Tochter zurückkehrte, wollte sie ihrem Sohn Gute Nacht sagen. Sie fand jedoch die Tür seines Zimmers von innen verschlossen, und bekam keine Antwort auf ihr Rufen und Klopfen. Sie holte Hilfe und ließ die Tür aufbrechen. Der unglückliche junge Mann lag in der Nähe des Tisches auf dem Boden. Sein Kopf war von einer Revolverkugel zerschmettert, aber in dem ganzen Raum war keine Waffe zu sehen. Auf dem Tisch lagen zwei Zehnpfundscheine und siebzehn Pfund zehn Schilling in Gold und Silber; das Geld war in kleine Häufchen von verschiedenen Beträgen abgezählt. Daneben befand sich ein Blatt Papier, worauf einige seiner Klubfreunde gezeichnet waren. Unter jedem Bild stand der Name des Betreffenden; daraus wurde geschlossen, dass er vor seinem Ende die Verluste und Gewinne beim Kartenspiel hatte regeln wollen.
Die genauere Prüfung aller obwaltenden Umstände ließ die Sache nur immer rätselhafter erscheinen. In erster Linie war kein Grund einzusehen, warum der junge Mann von innen abgeriegelt haben sollte. Zwar war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass es der Mörder getan hatte, und dann durch das Fenster entflohen war. Doch war dieses mindestens zwanzig Fuß über dem Boden, und das Beet mit blühenden Blumen unter dem Fenster zeigte keinerlei Fußspuren; die Blüten, wie der Erdboden selbst waren vollkommen unversehrt. Auch der schmale Rasenstreifen zwischen dem Haus und der Straße wies keine Fährte auf. Demnach musste der junge Herr selbst die Tür abgeschlossen haben. Wie hatte er aber den Tod gefunden? Kein Mensch konnte durch das Fenster ein- oder ausgestiegen sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, es habe jemand durch das Fenster geschossen, so musste es wahrhaftig mit merkwürdigen Dingen zugegangen sein, dass eine Revolverkugel so sicher getroffen hatte. Außerdem ist die Park Street sehr belebt, und kaum hundert Meter vom Haus befindet sich ein Droschkenhalteplatz, aber kein Mensch hatte einen Schuss gehört.
Und doch war die Leiche mit der Schusswunde ein untrügliches Zeichen, dass geschossen worden war, und zwar war die Verwundung derart, dass der. Tod augenblicklich eingetreten sein musste. – So lagen die Verhältnisse; sie wurden dadurch noch verwickelter, dass jeder ersichtliche Beweggrund zur Tat fehlte, denn, wie ich erwähnt habe, war der junge Adair ein Mann, der keinen Feind hatte, und außerdem war noch nicht einmal der Versuch gemacht worden, Geld oder Wertgegenstände im Zimmer zu entwenden.
Ich ließ mir den Tatbestand häufiger durch den Kopf gehen und bemühte mich immer wieder, eine Erklärung zu finden, unter welche man alle diese verschiedenen Tatsachen zusammenreimen, und von der aus man einen Ausgangspunkt finden könnte, was nach dem Ausspruch meines armen Freundes die Vorbedingung jeder weiteren Nachforschung bilden musste. Ich machte jedoch, offen gestanden, nur sehr geringe Fortschritte in der Sache. Eines Abends wanderte ich durch die Park Street und befand mich gegen sechs Uhr an der Ecke der Oxford Street. Vor dem Haus, das ich mir ansehen wollte, war eine große Menschenmenge versammelt und richtete ihre Blicke auf ein bestimmtes Fenster desselben. Ein schlanker, hagerer Mann mit blauer Brille, in dem ich stark einen Geheimpolizisten vermutete, gab seine Ansicht über den Vorfall zum Besten, während die Übrigen um ihn herumstanden und seinen Ausführungen lauschten. Ich drängte mich möglichst nahe an den Sprecher heran, aber seine Ausführungen erschienen mir so unsinnig, dass ich bald verstimmt von dannen ging. Dabei stieß ich einen ältlichen Mann an, der hinter mir gestanden hatte, und eine Anzahl Bücher, die er unter dem Arm trug, fielen zu Boden. Ich half sie ihm schnell aufheben, erinnere mich aber trotzdem noch genau eines seltsamen Titels auf einem derselben: ›Der Ursprung der Baum-Verehrung‹. Ich schloss daraus, dass der Mann irgendein armer Bücherfreund wäre, der entweder gewerbsmäßig oder aus Liebhaberei alte Druckwerke sammelte. Ich stammelte eine Entschuldigung; die Bücher, die ich unglücklicherweise so übel behandelt hatte, waren aber offenbar in den Augen ihres Eigentümers unschätzbare Wertobjekte, denn er knurrte nur ein paar unverständliche Worte und drehte mir verächtlich den Rücken zu; und ich sah seinen Buckel und den weißen Backenbart in der Menge verschwinden.
Meine Wahrnehmungen in der Park Street 427 waren wenig dazu angetan, in das dunkle Problem, das mich beschäftigte, Licht zu bringen. Das Haus war durch eine niedrige Mauer mit einem Zaun von der Straße getrennt; beide zusammen konnten etwa fünf Fuß hoch sein. Es fiel also nicht besonders schwer, darüber hinweg in den Garten zu steigen, aber das Fenster war vollkommen unerreichbar: es führte weder eine Dachrinne noch sonst etwas hinauf, woran auch der gewandteste Kletterer hätte emporklimmen können. Ratloser als je zuvor, lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich hatte kaum fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer gesessen, als das Dienstmädchen hereintrat und meldete, dass mich jemand zu sprechen wünsche. Zu meinem Erstaunen war es kein anderer als mein merkwürdiger alter Büchersammler. Er hatte ein scharf geschnittenes, hageres Gesicht, von weißem Haar umrahmt, unter dem rechten Arm trug er seine kostbaren Bände, mindestens ein Dutzend an der Zahl.
»Sie werden sich wundern, mich hier zu sehen, mein Herr«, sagte er mit eigentümlicher, krächzender Stimme.
Ich gab das ohne Weiteres zu.
»Nun«, fuhr er fort, »als ich hinter Ihnen her humpelte und Sie in dieses Haus gehen sah, dachte ich als pflichtschuldiger Mann, Sie wollen gleich mal diesen freundlichen Herrn aufsuchen und ihm sagen, dass, wenn Sie vorhin ein bisschen schroff gewesen sind, es nicht so gemeint war, und ihm für seine Liebenswürdigkeit, dass er die Bücher wieder aufgehoben hat, Ihren Dank abstatten.«
»Sie machen zu viel Aufhebens von dieser Kleinigkeit«, antwortete ich ihm. »Darf ich vielleicht fragen, woher Sie mich kennen?«
»Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, dass ich Ihr Nachbar bin, mein kleiner Bücherladen liegt an der Ecke der Cathedral Street, und es würde mir eine große Ehre sein, wenn Sie mich mal besuchten. Vielleicht sind Sie auch ein Liebhaber interessanter Bücher. Ich habe die ›Britischen Vögel‹, den ›Catullus‹ und den ›Heiligen Krieg‹, Werke, von denen jedes einzelne ein kostbarer Schatz ist. Mit fünf solchen Bänden würden Sie jenes leere Fach dort in Ihrem Bücherschrank gerade ausfüllen können. Es sieht so nicht hübsch aus, nicht wahr?«
Ich drehte mich nach dem Bücherspind um. Als ich mich wieder zurückwandte, stand am Schreibtisch mir gegenüber mit lächelnder Miene Sherlock Holmes. Ich sprang auf, sah ihm ein paar Sekunden verwundert ins Gesicht, und bin dann allem Anschein nach zum ersten und letzten Mal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen. Ich weiß nur noch so viel, dass mein Auge umnebelt wurde, und ich beim Erwachen meinen Kragen aufgeknöpft fand, und den brennenden Nachgeschmack von Branntwein auf den Lippen spürte. Holmes war über meinen Stuhl gebeugt und hielt das Fläschchen noch in der Hand.
»Mein lieber Watson«, erklang die wohlbekannte Stimme, »ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie so nervenschwach geworden sind.«
Ich ergriff seine Hand.
»Holmes!«, rief ich. »Sind Sie’s wirklich? Ist’s möglich, dass Sie noch leben? Ist’s möglich, dass Sie aus jenem fürchterlichen Abgrund herausgeklettert sind?«*
»Einen Augenblick«, sagte er. »Fühlen Sie sich auch tatsächlich kräftig genug, um meiner Erzählung folgen zu können? Ich habe Sie durch mein überflüssiges dramatisches Auftreten ernstlich erschreckt.«
»Ich bin wieder ganz auf dem Damm, aber wahrhaftig, Holmes, ich kann kaum meinen Augen trauen. Weiß Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie – Sie in aller Welt – in meinem Studierzimmer stehen sollen!« Ich erfasste wiederum den Ärmel seines Rockes und fühlte den mageren sehnigen Arm hindurch. »Wirklich, Sie sind kein Geist«, sagte ich. »Lieber Junge, ich freue mich über alle Maßen, Sie wiederzusehen. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, wie Sie aus dem schrecklichen Abgrund lebend herausgekommen sind.«
Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich mit der ihm eigenen Gemütsruhe eine Zigarre an. Den langen Gehrock des Buchhändlers hatte er anbehalten, dagegen die übrige Kostümierung, das weiße Haar, den Bart und auch die Bücher auf den Tisch gelegt. Er sah noch hagerer und scharfsinniger aus als ehedem, aber sein Adlergesicht war so leichenblass, als ob er in der letzten Zeit eine Krankheit durchgemacht hätte.
»Ich bin froh, dass ich mich wieder ordentlich ausstrecken kann«, begann er dann. »Für einen großen Mann ist es kein Vergnügen, wenn er stundenlang seine Körperlänge um einen Fuß verkürzen muss. Im Übrigen, mein Lieber, müssen Sie mir zuerst sagen, ob Sie bei meiner Sache heute Nacht mitwirken wollen; es handelt sich um eine harte und gefährliche Arbeit. Es würde überhaupt am besten sein, wenn ich Ihnen erst nach getaner Arbeit alles auseinandersetzte.«
»Ich bin äußerst gespannt und möchte es lieber jetzt gleich erfahren.«
»Sie wollen also heute Nacht mitkommen?«
»Wann und wohin Sie wollen.«
»Sie sind wahrhaftig noch der Alte. Ehe wir gehen müssen, können wir einen kleinen Imbiss nehmen. Also, was den Abgrund betrifft, war es nicht allzu schwer, herauszukommen, aus dem einfachen Grund, weil ich gar nie drin war.«
»Sie waren nie drin?«
»Nein, Watson, ich war niemals drin. Mein Schreiben an Sie beruhte zwar vollständig auf Wahrheit. Ich zweifelte selbst nicht im Geringsten daran, dass ich bald aufgehoben sein würde, als ich in einiger Entfernung die verdächtige Gestalt des ehemaligen Professors Moriarty auftauchen sah. Ich las in seinen grauen Augen einen unabänderlichen Entschluss. Ich wechselte ein paar Worte mit ihm und erhielt die gütige Erlaubnis, Ihnen jene kurze Notiz zukommen zu lassen, die Sie später gefunden haben. Ich legte sie samt Zigarettentasche und Spazierstock auf den schmalen Pfad und wanderte weiter, während mir Moriarty immer auf den Fersen folgte. Als ich am Ende des engen und steilen Weges angelangt war, blieb ich stehen und leistete ihm Widerstand. Da er keine Waffe bei sich hatte, stürzte er einfach auf mich los und umschlang mich mit seinen langen Armen. Er war sich bewusst, was für ihn auf dem Spiel stand, und versuchte mit aller Gewalt, an mir Rache zu nehmen. Wir gerieten zusammen an den Rand des Wasserfalls. Ich besitze jedoch einige Kenntnis von dem Varitsu, dem japanischen Ringen, welche mir schon häufiger zustattengekommen ist. Ich riss mich los und versetzte ihm einen Stoß, sodass er einen Augenblick taumelte und mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelte; er verlor aber trotz aller Anstrengungen das Gleichgewicht und stürzte unter einem entsetzlichen Aufschrei hintenüber. Ich sah, wie er in die Tiefe fiel, an einem Felsenvorsprung aufschlug und unten ins Wasser plumpste.«
Staunend hörte ich Holmes’ Schilderung, er selbst rauchte gemächlich seine Zigarre dabei.
»Aber zum Teufel!«, warf ich ein. »Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, dass zwei Fußspuren hinführten, aber keine zurück.«
»Das ging so zu: Im selben Moment, als der Professor verschwand, kam mir meine eigene Lage klar zum Bewusstsein. Sie war nicht ungünstig. Einerseits wusste ich allerdings, dass nicht Moriarty allein mir den Tod geschworen hatte; es blieben wenigstens noch drei andere, deren Rachebedürfnis nach dem Tod ihres Anführers sicher nicht abnehmen würde; lauter gefährliche Kunden, von denen mich der eine oder der andere gewiss einmal erwischen würde. Andererseits unterlag es für mich keinem Zweifel, dass sie freier und offener auftreten würden, wenn mich alle Welt für tot hielt. Sobald sich dann eine günstige Gelegenheit bieten würde, sie unschädlich zu machen, wollte ich wieder auftauchen und der Menschheit zeigen, dass ich doch noch am Leben wäre. Dies alles hatte ich, glaube ich, eher überdacht, als der Professor auf dem Grund des Reichenbachfalles angekommen war; so schnell arbeitete damals mein Gehirn.
Ich stand auf und prüfte die Felswand hinter mir. In Ihrem malerischen Bericht, den ich einige Monate danach mit großem Interesse gelesen habe, geben Sie an, dass sie ganz glatt sei. Das stimmt nicht genau. Sie hat ein paar vorspringende Stellen, wo die Gesteinsschichten sich voneinander absetzen, und worauf man mit dem Fuß haften kann. Sie ist aber so hoch, dass mir ein Emporklettern bis zur Spitze der Klippe unmöglich schien. Aber ich durfte auch nicht auf dem feuchten Pfad hinansteigen, denn ich würde Fußspuren darauf zurückgelassen haben. Ich hätte zwar die Schuhe verstellen können, wie ich das in ähnlichen Fällen öfter getan habe, aber das Vorhandensein dreier verschiedener Fußstapfen würde die Annahme einer absichtlichen Irreführung zu nahe gelegt haben. So musste ich mich denn doch für das Kletterkunststück entschließen. Es war keine beneidenswerte Tätigkeit, mein lieber Watson. Ich leide wahrhaftig nicht an Einbildungen, aber ich gebe Ihnen mein Wort, ich glaubte, aus dem Abgrund die Stimme des Professors zu vernehmen. Unter mir toste der Wasserfall. Jeder Fehltritt konnte verhängnisvoll werden. Mehr als einmal, wenn die Grasbüschel in meiner Hand abrissen, oder wenn meine Füße auf den schlüpfrigen Felsrändern ausglitten, hielt ich mich für verloren. Ich arbeitete mich jedoch allmählich in die Höhe, und gelangte endlich auf einen mehrere Fuß breiten, mit Moos bewachsenen Vorsprung, wo ich mich bequem verbergen konnte. Dort lag ich ganz behaglich ausgestreckt, lieber Watson, als ihr herbeikamt, um die näheren Umstände meines Todes festzustellen.
Nachdem ihr endlich die unvermeidlichen, aber sehr irrigen Schlüsse gezogen hattet, begabt ihr euch ins Hotel zurück, während ich in meinem Versteck blieb. Ich hatte mir eingebildet, am Ende meiner Fährnisse angekommen zu sein, aber ein gänzlich unerwartetes Ereignis machte mir klar, dass mir noch mancherlei Überraschungen bevorstanden. Ein riesiger Felsblock kam plötzlich von oben herunter, sauste an mir vorüber und fiel donnernd hinab in die Tiefe. Im ersten Augenblick wähnte ich, es wäre ein Zufall, aber im nächsten erkannte ich bereits den wahren Sachverhalt. Als ich aufblickte, gewahrte ich nämlich das Gesicht eines Mannes, und ein zweiter Stein traf gerade meine Lagerstätte, kaum einen Fuß von meinem Kopf entfernt. Ich wusste nun, woran ich war. Moriarty hatte Helfershelfer gehabt, von denen einer – ich hatte auf einen Blick erkannt, was für ein gefährlicher Bursche es war – Wache gestanden hatte, während der Professor den Angriff ausgeführt hatte. Aus einer gewissen Entfernung, ohne dass ich ihn hatte sehen können, war er Zeuge vom Tod seines Freundes und von meiner Rettung gewesen. Er hatte gewartet, bis ihr weg wäret, Watson, und war dann auf die Felswand geklettert, um womöglich das zu vollbringen, was seinem Gefährten nicht gelungen war.
Es blieb mir nicht viel Zeit zum Besinnen, mein Lieber. Ich sah das grimmige Gesicht wieder über die Klippe lugen und merkte daraus, dass bald noch mehr Steinblöcke folgen würden. Ich kroch rückwärts die steile Wand hinunter. Ich glaube kaum, dass ich mit kühler Überlegung die Rückreise angetreten habe, denn sie war tausendmal schwieriger, als das Hinaufklettern. Doch hatte ich keine Muße, lange über die Gefahr nachzudenken, ein neuer Stein rollte an mir vorbei, als ich an der Kante des Vorsprungs hing. In der Mitte des Weges rutschte ich aus und kam durch ein gnädiges Geschick, wenn auch zerschunden und blutend, glücklich unten auf dem Pfad an. Ich machte mich gleich auf die Beine, marschierte in der Nacht noch zehn Meilen weit durch das Gebirge und befand mich eine Woche später, in dem sicheren Bewusstsein, dass kein Mensch in der Welt wisse, was aus mir geworden sei, in Florenz.
Ich hatte nur einen einzigen Vertrauten – meinen Bruder Mycroft. Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, lieber Watson, aber es war unbedingt notwendig, dass ich für tot gehalten wurde, und Sie würden keine so überzeugende Schilderung meines unglücklichen Endes geschrieben haben, wenn Sie nicht selbst daran geglaubt hätten. Verschiedene Male in den letzten drei Jahren war ich im Begriff, Ihnen Nachricht zukommen zu lassen, aber immer wieder hielt mich die Furcht davon ab, Ihre Zuneigung zu mir könnte Sie zu einer Unvorsichtigkeit verleiten und mein Geheimnis an den Tag bringen. Aus diesem Grund drehte ich mich auch heute Abend um, als Sie die Bücher aufhoben, denn jedes Zeichen der Überraschung und Erregung Ihrerseits hätte die Aufmerksamkeit auf meine Person gelenkt, und sehr unerwünschte und nie wiedergutzumachende Folgen haben können. Mycroft musste ich mich anvertrauen, um die nötigen Geldmittel zu erhalten. Die Ereignisse in London nahmen nicht den gewünschten Verlauf, denn von der Moriartyschen Bande befanden sich noch zwei Mitglieder, und gerade meine erbittertsten Feinde, auf freiem Fuß. Ich bereiste daher zwei Jahre lang Tibet, besuchte Lhasa und hielt mich mehrere Tage beim Lama auf. Sie haben gewiss die aufsehenerregenden Forschungen eines Norwegers namens Sigerson gelesen, aber wohl nie geahnt, dass Sie damit Nachrichten von Ihrem Freund erhielten. Danach wanderte ich durch Persien, machte einen Abstecher nach Mekka und stattete in Khartoum dem Kalifen einen kurzen, aber interessanten Besuch ab, dessen Ergebnisse ich im ›Foreign Office‹ veröffentlicht habe. Nach meiner Rückkehr nach Frankreich verbrachte ich einige Monate im Süden dieses Landes, in Montpellier, wo ich in einem chemischen Laboratorium dem Studium der Steinkohlenteerverbindungen oblag. Nachdem ich meine Untersuchungen zu einem befriedigenden Abschluss gebracht und erfahren hatte, dass nur noch einer meiner Feinde in London sei, wollte ich zurückkommen. Das mysteriöse Verbrechen in der Park Street hat meine Rückkehr noch beschleunigt. Es interessierte mich nicht nur an sich, sondern schien mir auch eine günstige Gelegenheit zur Ausführung meines Vorhabens zu sein. Ich fuhr also schleunigst nach London, begab mich in die Baker Street, versetzte Mrs Hudson in heftige Krämpfe und fand, dass Mycroft meine Zimmer und meine Sachen genau in derselben Ordnung gelassen hatte, wie ich sie verlassen. So saß ich denn, mein lieber Watson, heute Nachmittag um zwei Uhr in meinem alten Lehnstuhl, in meinem alten Zimmer, und hatte weiter keinen Wunsch, als meinen alten Freund Watson in dem anderen Stuhl zu sehen, den er so oft geziert hatte.«
Das war die merkwürdige Erzählung, die ich an jenem April-Abend zu hören bekam – eine Erzählung, die ich nie geglaubt haben würde, wenn ich nicht die lange, hagere Gestalt und das scharfe, lebhafte Gesicht vor mir gesehen hätte, das ich nie wiederzuschauen gemeint hatte. Auf irgendeine Weise musste mein Freund auch von meinem eigenen Missgeschick gehört haben. Sein Mitleid zeigte sich mehr in seinem Benehmen als in Worten. »Arbeit ist das beste Mittel gegen Kummer und Verdruss«, sagte er nur, »und ich habe für heute Nacht ein Stück Arbeit, das allein, wenn wir’s glücklich vollenden, für einen Mann das Leben wertvoll macht.« Meine Bitte um näheren Aufschluss darüber war vergeblich. »Bis morgen werden Sie genug erfahren«, antwortete er. »Jetzt haben wir uns noch über die letzten drei Jahre zu unterhalten. Dieser Gesprächsstoff wird bis halb zehn genügen und dann wird’s Zeit, dass wir zu unserem vielverheißenden Abenteuer zum leeren Haus aufbrechen.«
Es war tatsächlich wieder wie in den alten Zeiten, als ich um die angegebene Zeit neben ihm in der Droschke saß, den Revolver in der Tasche und gespannt auf die kommenden Dinge. Holmes war ernst und schweigsam. Im Schein der Straßenlaternen sah ich, wie er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinandergepresst hatte. Ich wusste nicht, was für Wild wir in den dunkeln Revieren des Londoner Verbrecherviertels jagen wollten, aber an dem Gesicht dieses ausgezeichneten Jägers erkannte ich wohl, dass es sich um eine sehr gefährliche Art handeln müsse, und das gelegentliche Lächeln auf seinem sonst unbeweglichen, finsteren Antlitz war wenig glückverheißend für unsere Feinde.
Ich glaubte, wir würden zur Baker Street fahren, aber an der Ecke des Cavendish Place ließ Holmes halten. Ich bemerkte, wie er sich beim Aussteigen nach allen Seiten umschaute, und auch ferner an jeder Straßenecke vergewisserte, dass ihm niemand folgte. Wir schritten durch die dunkelsten Straßen und Gassen. Holmes hatte eine erstaunliche Ortskenntnis, und er führte mich mit größter Sicherheit und in eiligem Tempo durch ein wahres Labyrinth von Remisen, Ställen und Lagerräumen, von deren Existenz ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte. Endlich gelangten wir durch eine enge Gasse, die von alten düsteren Gebäuden eingeschlossen war, in die Manchester- und in die Blandford Street. Hier bog er rasch in einen schmalen Gang ein, ging durch ein großes hölzernes Tor über einen öden Hof und schloss dann mit einem Schlüssel die hintere Tür eines Hauses auf. Wir traten zusammen ein, und hinter uns schloss er wieder zu.
Obwohl es stockdunkel war, merkte ich doch gleich, dass das Haus leer war. Der Fußboden knarrte, und an der Wand fühlte ich mit meiner tastenden Hand herabhängende Tapetenfetzen. Holmes fasste mich mit seinen kalten dünnen Fingern bei der Hand und führte mich in dem langen Gang weiter, bis ich den trüben Lichtschimmer von einem Fenster über einer Tür gewahrte. In dieser Ecke wandte er sich nach rechts, und wir kamen in einen großen leeren Raum. Es war ganz dunkel darin, nur in der Mitte war ein matter Lichtschein, der von der Straße her kam. Die Laterne war aber so weit entfernt und das Fenster so verstaubt und schmutzig, dass wir mit knapper Not gerade erkennen konnten, wo wir standen. Mein Gefährte klopfte mich leise auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr:
»Wissen Sie, wo wir sind, Watson?«
»Das ist sicher die Baker Street«, antwortete ich, während ich durch das matte Fenster blickte.
»Allerdings. Wir sind im Camden House, unserer alten Wohnung gegenüber.«
»Aber was wollen wir hier?«
»Wir haben von hier eine ausgezeichnete Aussicht auf jenen malerischen Pfeiler dort drüben. Kommen Sie bitte etwas näher ans Fenster, lieber Watson, nehmen Sie sich aber in Acht, dass Sie nicht gesehen werden, und gucken Sie mal nach unserem alten Heim hinüber – dem Ausgangspunkt von so manchem unserer kleinen Erlebnisse. Ich will sehen, ob ich Sie nach dreijähriger Abwesenheit noch überraschen kann.«
Ich schlich mich vor und sah zu dem wohlbekannten Fenster. Ein Ausruf der Verwunderung und des Erstaunens entfuhr meinen Lippen. Die Rolljalousien waren heruntergelassen, das Zimmer war hell erleuchtet und auf dem Fenstervorhang war der Schatten eines Mannes auf einem Stuhl in scharfen Umrissen deutlich wahrnehmbar. Man konnte den eckigen Kopf, die breiten Schultern und das scharfgeschnittene Gesicht genau erkennen. Das Bild sah wie eine große schwarze Silhouette aus der Zeit unserer Großeltern aus. Es war ein getreues Konterfei von Holmes. Ich war dermaßen erstaunt, dass ich meine Hand ausstreckte, um mich zu überzeugen, ob er selbst wirklich noch neben mir stände. Er barst bald vor verhaltenem Lachen.
»Gut so?«, fragte er.
»Bei Gott!«, rief ich aus. »Wunderbar!«
»Ich hoffe, dass ich in der Zwischenzeit meine Erfindungskraft nicht eingebüßt habe«, sagte er in jenem Ton der Freude und des Stolzes, den der Künstler beim Anblick seiner eigenen Schöpfung empfindet. »Es sieht mir tatsächlich ähnlich, nicht wahr?«
»Ich hätte geschworen, Sie wären’s.«
»Das Verdienst der Ausführung gebührt Mr Oskar Meunier in Grenoble, der ein paar Tage auf die Anfertigung des Modells verwandt hat. Es ist eine Wachsbüste. Die Aufstellung und alles Übrige habe ich heute Nachmittag während meines Aufenthaltes in der Baker Street selbst besorgt.«
»Aber wozu das alles?«
»Aus sehr gewichtigen Gründen, lieber Watson, weil ich gewisse Leute glauben machen will, ich sei zu Hause, während ich in Wirklichkeit anderswo bin.«
»Sie denken also, die Zimmer werden beobachtet?«
»Ich weiß, dass sie beobachtet werden.«
»Von wem?«
»Von meinen alten Feinden, Watson, von der reizenden Gesellschaft, deren Vorstand im Reichenbachfall ruht. Sie müssen bedenken, dass ihnen, und nur ihnen allein, bekannt ist, dass ich noch lebe. Sie haben vermutet, dass ich früher oder später doch wieder in meine Wohnung zurückkehren würde, sie daher fortwährend beobachten lassen und meine Ankunft heute früh erfahren.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich ihre Wache wiedererkannte, als ich zum Fenster hinaussah. Es ist ein ungefährlicher Mensch namens Parker, ein armer Drehorgelspieler. Ich schere mich den Teufel um ihn, kümmere mich aber umso mehr um seinen gefährlichen Auftraggeber, den Busenfreund Moriartys, den Mann, der die Steine geschleudert hat, den schlauesten und verwegensten Verbrecher Londons. Dieser Bursche ist heute Nacht hinter mir, Watson, und hat keine Ahnung, dass wir hinter ihm sind.«
Auf diese Weise erfuhr ich allmählich, was mein Freund vorhatte. Von diesem stillen Platz aus sollte den Aufpassern aufgepasst und sollten die Verfolger verfolgt werden. Jener Schatten drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Lautlos standen wir in der Dunkelheit und beobachteten die Vorübergehenden. Holmes rührte und regte sich nicht, aber er war zweifellos auf seiner Hut und richtete ein wachsames Auge auf alle Passanten. Es war kaltes, stürmisches Wetter, der Wind pfiff durch die lange Straße. Die meisten Leute trugen Überzieher und hatten den Kragen in die Höhe geschlagen. Ein paar Mal hatte ich den Eindruck, als ob dieselbe Person wiederholt vorbeikäme, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die vor dem Sturm im Torweg eines ein paar Häuser weiter oben liegenden Gebäudes Zuflucht zu suchen schienen. Ich machte meinen Freund darauf aufmerksam. Er zeigte jedoch nur einen gewissen Unwillen und blickte unausgesetzt auf die Straße hinaus. Er stampfte zuweilen mit den Füßen auf den Boden und trommelte mit den Händen an die Wand, ein Zeichen, dass er ungehalten war, weil seine Voraussetzungen nicht so ganz in der gehofften Weise eintrafen. Als die Straße allmählich leer geworden war, ging er unruhig auf und ab. Ich wollte gerade eine Bemerkung machen, als mein Blick zufällig auf das bekannte Fenster hinüberfiel und ich eine fast ebenso große Überraschung sah wie vorher.
»Der Schatten hat sich bewegt!«, rief ich ihm zu. In der Tat war uns nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugekehrt.
»Natürlich hat er sich bewegt«, antwortete Holmes. »Halten Sie mich für einen solchen Stümper, Watson, dass ich eine offenkundige Vogelscheuche aufstelle und damit die geriebensten Verbrecher Europas täuschen will? Wir sind seit zwei Stunden hier und Mrs Hudson hat die Figur alle Viertelstunde etwas gedreht, also in der ganzen Zeit vielleicht achtmal. Sie macht es selbstverständlich so, dass ihr eigener Schatten nicht gesehen werden kann. »Ha!«, stieß er aus und hielt dann den Atem an. In dem trüben Licht sah ich, wie er den Kopf in die Höhe richtete und sich in der stärksten Spannung befand. Die Straße war jedoch vollkommen menschenleer. Jene beiden Männer mochten sich noch in dem Torweg verborgen halten, ich konnte sie jedenfalls nicht mehr sehen. Alles war ruhig und dunkel. Nur der Fenstervorhang mit dem schwarzen Schatten in der Mitte war noch erleuchtet. In dem tiefen Schweigen vernahm ich wieder Laute von Holmes, aus denen ich seine furchtbare, unterdrückte Erregung hörte. Im nächsten Augenblick zog er mich in die finsterste Ecke des Zimmers und hielt mir warnend die Hand auf den Mund. Ich fühlte, wie seine Finger zitterten. Ich hatte meinen Freund niemals in einer solchen Aufregung gesehen, und doch konnte ich auf der Straße durchaus nichts Verdächtiges entdecken.
Aber auf einmal merkte ich, was er mit seinen schärferen Sinnen wohl schon früher gehört hatte. Ein schwaches, unheimliches Geräusch drang an mein Ohr, freilich nicht von der Baker Street, sondern von der Hofseite des Hauses her, in dem wir uns verborgen hielten. Eine Tür wurde auf- und wieder zugemacht. Kurz darauf wurden leise Schritte hörbar – Schritte, die man nicht hören sollte, die aber in den leeren Räumen doch stark widerhallten. Holmes drückte sich an die dunkle Wand, und ich tat dasselbe, indem ich meinen Revolver in die Hand nahm. In der Tür gewahrte ich die undeutlichen Umrisse eines Mannes. Er stand einen Moment still, dann kroch er vorwärts. Die schwarze Gestalt war kaum drei Meter von uns entfernt; ich war schussbereit. Da wurde mir plötzlich klar, dass sie keine Ahnung von unserer Anwesenheit hatte. Sie schlich dicht an uns vorbei; hinüber zum Fenster. Sie öffnete es leise, etwa einen halben Fuß weit. Das Licht von der Straße wurde nun nicht mehr durch die schmutzigen Scheiben abgeschwächt, es fiel jetzt direkt auf das Gesicht des Mannes. Er schien sich in der furchtbarsten Aufregung zu befinden. Seine Augen funkelten, seine Gesichtszüge zeigten krampfhafte Zuckungen. Er war nicht mehr jung, hatte eine schmale vorspringende Nase, eine glatte, hohe Stirn und einen starken graumelierten Schnurrbart. Sein Gesicht war hager, von wilden Furchen durchzogen und von bräunlicher Farbe. In der Hand hatte er ein stockähnliches Instrument. Als er es auf den Boden legte, gab es aber einen metallischen Klang. Dann zog er etwas aus der Überziehertasche. Er hantierte längere Zeit daran herum, endlich gab es einen lauten Knacks, als wenn eine Feder oder ein Schloss einspringt. Er kniete noch immer auf dem Fußboden und mühte sich mit aller Kraft an irgendeinem Hebel oder dergleichen ab, bis man wieder ein ähnliches, aber stärkeres Einschnappen hörte, wie vorher. Nun richtete er sich auf, und ich sah, dass das Werkzeug in seiner Hand eine besondere Art Schießgewehr vorstellte. Er öffnete es hinten, steckte etwas hinein und ließ den Bolzen wieder einschlagen. Dann kauerte er sich nieder, legte den Lauf auf die Fensterbrüstung und nahm, indem sein mächtiger Schnurrbart auf den Schaft herunterhing, mit blitzenden Augen das Visier. Er atmete tief auf, als er angelegt hatte. Einen Augenblick war er mäuschenstill und zuckte mit keiner Wimper. Endlich drückte er ab. Ein eigentümliches ›Ptsch‹ und der charakteristische Ton beim Aufschlagen eines Geschosses! Im selben Moment sprang ihm Holmes in den Nacken und warf ihn flach auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten. Doch mit übermenschlicher Kraft arbeitete sich der Schurke herum und erwischte Holmes an der Kehle. Da schlug ich ihn mit dem Revolvergriff auf den Schädel, warf mich auf ihn und hielt ihn fest. Mein Gefährte ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Gleich wurden Schritte auf dem Pflaster draußen hörbar, und zwei Schutzleute und ein Geheimpolizist stürzten durch den Vordereingang ins Zimmer.
»Sind Sie’s, Mr Lestrade?«, sagte Holmes.
»Jawohl, Mr Holmes. Ich habe diese Arbeit selbst übernommen. Es ist gut, dass Sie wieder in London sind.«
»Ich glaube wohl, dass Ihnen ein bisschen Mithilfe nicht unwillkommen sein wird. Drei unaufgeklärte Morde in einem Jahr ist des Guten etwas zu viel, Lestrade. Aber in der Moleseyschen Sache sind Sie geschickter zu Werke gegangen als sonst – ich meine, die haben Sie wirklich gut gemacht.«
Wir waren alle auf den Beinen. Unser Gefangener befand sich wutschnaubend zwischen zwei handfesten Polizisten. Auf der Straße hatten sich natürlich einige Gaffer versammelt. Holmes schloss das Fenster und ließ die Rolladen herunter. Lestrade zündete zwei Kerzen an, und die Schutzleute machten ihre verhängten Laternen frei. Endlich konnte ich mir unseren Mann genauer bei Licht betrachten.
Ich sah ein sehr männliches, aber auch sehr bösartiges Gesicht. Die Stirn war diejenige des Philosophen, die Kiefer verrieten den Genussmenschen; dieser Mann war mit großen Anlagen ausgestattet, zum Guten wie zum Bösen. Die trotzigen blauen Augen mit den hündischen Brauen und Wimpern, die starke gebogene Nase und die drohende tiefgefurchte Stirn zeigten den geborenen Verbrecher an. Er nahm von niemandem Notiz, sondern starrte unausgesetzt auf Holmes. Hass und Bewunderung lagen in seinem Ausdruck. »Sie Teufelskerl! Sie ganz geriebener Teufel!«, knirschte er immer wieder zwischen den Zähnen.
»Ja, ja, Herr Oberst«, sagte Holmes, während er seinen Kragen in Ordnung brachte, »der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Ich glaube, seitdem Sie mir am Reichenbachfall jene Aufmerksamkeit erwiesen, habe ich nicht wieder das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.«
Der Oberst stierte meinen Freund noch immer mit hasserfüllten Blicken an. »Sie verfluchter, ganz verfluchter Teufel!« war alles, was er herausbringen konnte.
»Ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht«, sagte Holmes. »Dies, meine Herren, ist der Oberst Sebastian Moran, ehemaliger Offizier Ihrer Majestät im britischen Heer in Indien und der beste Schütze, den es je dort gegeben hat. Ich glaube, die Behauptung ist nicht übertrieben, Herr Oberst, dass Sie als Tigerjäger unerreicht waren.«
Der wütende Graubart erwiderte kein Wort, sondern blickte meinen Gefährten noch immer unverwandt an. Mit den leuchtenden Augen und dem sich sträubenden Schnurrbart sah er selbst wie ein Tiger aus.
»Es wundert mich eigentlich«, fuhr Holmes fort, »dass ein so alter Schikari auf meinen einfachen Trick hineingefallen ist. Er musste Ihnen doch bekannt sein. Sie haben doch schon selbst, mit einem Zicklein als Köder und das Gewehr in der Hand, unter einem Baum gelegen und auf den Tiger gelauert? Nun, dieses leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie haben wohl auch Reservegewehre mitgenommen für den Fall, dass mehrere Tiger kommen, oder, was kaum anzunehmen war, dass Sie fehlschießen sollten? Diese hier«, er zeigte auf die Umstehenden, »sind meine Reservegewehre. Passt der Vergleich nicht sehr schön?«
Oberst Moran tat einen Satz nach vorne, auf Holmes zu, und knurrte wie ein wildes Tier, aber die Polizisten rissen ihn wieder zurück. Sein wütendes Gesicht war schrecklich anzusehen, es war ganz verzerrt.
»Ich gebe allerdings zu, dass Sie mir eine kleine Überraschung bereitet haben«, sagte Holmes weiter. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie selbst auch dieses Haus und dieses Fenster zu Ihrer Operation ausersehen hätten. Ich hatte geglaubt, Sie würden von der Straße aus vorgehen. Deshalb ließ ich meinen Freund Lestrade mit seinen Leuten dort Wache halten. Aber von dieser Kleinigkeit abgesehen, ist alles meinen Erwartungen entsprechend eingetroffen.«
Jetzt wandte sich der Oberst an den offiziellen Detektiv.
»Sie mögen mich nun zu recht oder unrecht verhaftet haben«, sagte er, »jedenfalls habe ich keine Lust, mir die Sticheleien dieses Menschen länger gefallen zu lassen. Ich befinde mich in der Gewalt der Justiz und kann verlangen, dass die Dinge ihren gesetzlichen Verlauf nehmen.«
»Dagegen lässt sich nichts einwenden«, antwortete Lestrade. »Haben Sie noch etwas zu sagen, Mr Holmes, ehe wir aufbrechen?«
Holmes hatte die mächtige Windbüchse vom Boden aufgehoben und prüfte ihren Mechanismus.
»Eine wunderbare und eigenartige Waffe«, sagte er, »schießt geräuschlos und hat eine furchtbare Durchschlagskraft. Ich habe Herder, den blinden deutschen Mechaniker, der sie auf Bestellung des seligen Professors Moriarty konstruiert hat, persönlich gekannt. Ihre Existenz war mir schon jahrelang kein Geheimnis mehr, aber ich hatte noch nie die Gelegenheit, sie in die Hand zu bekommen. Ich empfehle sie Ihrer besonderen Beachtung, Mr Lestrade, und die zugehörigen Kugeln ebenfalls.«
»Sie können sich darauf verlassen, Mr Holmes, dass wir beiden unsere Aufmerksamkeit schenken werden«, erwiderte Lestrade, als wir alle zusammen zur Tür gingen. »Noch etwas?«
»Ich möchte Sie noch fragen, was Sie als Grund zur Festnahme angeben wollen?«
»Was? Nun selbstverständlich den Mordanschlag auf Sherlock Holmes.«
»Ach nein, Lestrade. Ich möchte mit meiner Person ganz aus dem Spiel bleiben. Ihnen, und Ihnen ganz allein, soll das Verdienst der denkwürdigen Verhaftung zugeschrieben werden, die Sie eben ausgeführt haben. Jawohl, Mr Lestrade, ich gratuliere Ihnen! Mit Ihrer gewohnten glücklichen Mischung von Schlauheit und Kühnheit haben Sie ihn gefangen.«
»Ihn gefangen! Wen gefangen, Mr Holmes?«
»Den Mann, den die ganze Polizei vergeblich gesucht hat – den Oberst Sebastian Moran, der den Baron Ronald Adair im zweiten Stock des Hauses Park Street 427 am 30. des vergangenen Monats durch das offene Fenster mit einer Büchsenkugel erschossen hat. Um dieses Verbrechen handelt es sich, Mr Lestrade. Und nun, mein lieber Watson, können wir uns in meinem Arbeitszimmer bei einer Zigarre noch ein Plauderstündchen gönnen.«
Unsere alten Räumlichkeiten waren dank der Aufsicht Mycrofts und der Fürsorglichkeit von Mrs Hudson vollkommen unverändert geblieben. Beim Eintreten fiel mir zwar die ungewohnte Ordnung auf, aber es stand noch alles an seinem alten Platz. Die chemische Ecke mit dem Tisch aus Tannenholz und den Säureflecken war noch vorhanden. Das Regal mit den Büchern, worin sich viele Aufzeichnungen befanden, die wohl viele unserer Mitbürger gerne in Flammen hätten aufgehen sehen, stand noch auf dem alten Fleck. Die Pläne und Karten, den Geigenkasten und den Pfeifenhalter – ja selbst den persischen Pantoffel mit dem Tabak – alles sah ich wieder, als ich mich umschaute. Neu im Zimmer war nur die merkwürdige Figur, die eine so bedeutende Rolle bei unserem nächtlichen Abenteuer gespielt hatte. Es war eine Nachbildung meines Freundes aus Wachs, so wunderbar ausgeführt, dass sie ihm täuschend ähnlich sah. Sie stand auf einem Tischchen und war mit einem alten Arbeitsrock von Holmes so angetan, dass die Täuschung von der Straße aus vollkommen sein musste.
Mrs Hudson war uns freudestrahlend entgegengeeilt, als wir eingetreten waren.
»Ich hoffe, Sie haben keine Vorsichtsmaßregel außer Acht gelassen, Mrs Hudson?«, fragte Holmes.
»Ich bin auf den Knien hingerutscht, genau wie Sie mir befohlen hatten, Mr Holmes.«
»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht. Haben Sie gesehen, wo die Kugel hingeflogen ist?«
»Jawohl. Ich fürchte, sie hat die schöne Büste verdorben; sie ist nämlich gerade durch den Kopf gegangen und an der Wand abgeprallt. Ich hab sie vom Teppich aufgehoben. Hier ist sie.«
Holmes reichte sie mir hin. »Eine richtige Revolverkugel, wie Sie sehen. In dieser Sache steckt eine feine Überlegung, Watson, denn kein Mensch konnte glauben, dass ein solches Ding aus einer Büchse kommt. Ich danke Ihnen schön, Mrs Hudson, für Ihre freundliche Mitwirkung. Und nun setzen Sie sich wieder auf Ihren alten Stuhl, Watson, ich muss Ihnen noch manches erzählen.«
Er hatte den langen Schoßrock ausgezogen und war in seinem mausgrauen Schlafrock wieder der alte Holmes von ehedem.
»Des alten Schikaris Nerven sind noch gut und ruhig«, sagte er lachend, als er den zerschmetterten Schädel seiner Büste in Augenschein nahm.
»Gerade mitten durchs Gehirn. Er war der beste Schütze in Indien, und er wird auch in London schwerlich seinesgleichen haben. Ist er Ihnen dem Namen nach bekannt?«
»Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Ei, ei, das ist merkwürdig! Aber, wenn ich nicht irre, hatten Sie ja auch den Namen des Professors Moriarty, eines der feinsten Köpfe des Jahrhunderts, vorher nicht gehört. Sie können mir mal das Buch mit den Biografien herreichen.«
Er blätterte gemächlich, während er in seinen Stuhl zurückgelehnt lag und riesige Rauchwolken aus der Zigarre von sich blies.
»Ich habe eine niedliche Sammlung von Namen, die mit ›M‹ anfangen«, sagte er endlich. »Da ist Moriarty selbst, ein Mann, über den man ein ganzes Buch schreiben könnte, ferner Morgan, der Giftmischer, dann kommt Merridew schrecklichen Angedenkens und mein Freund Mathews vom Wartesaal in Charing Cross und hier endlich Mr Moran.« Er gab mir das Buch, und ich las:
»Moran, Sebastian, Oberst a. D. Früherer Offizier beim ersten Pionierregiment in Bengalore. Im Jahre 1840 in London geboren, als Sohn des Abgeordneten und ehemaligen britischen Gesandten in Persien, August Moran. Besuchte die Hochschulen in Eton und Oxford. Machte die Feldzüge in Jowaki und Afghanistan mit und stand in Charasiab, Scherpur und Kabul. Verfasser von: ›Hochjagden im westlichen Himalaja‹, 1881; ›Drei Monate im Dschungel‹, 1884. Adresse: Conduit Street. Mitglied des Anglo-indischen, des Tankerville- und des Bagatellespielklubs.«
Am Rande hatte Holmes selbst bemerkt: »Der zweitgefährlichste Mann in London.«
»Sonderbar!«, sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Der Mann hat eine sehr achtbare Soldatenlaufbahn hinter sich.«
»Das ist richtig«, versetzte Holmes. »Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war er anständig. Er hatte stets eiserne Nerven. Man erzählt jetzt noch die Geschichte, wie er in Indien in einem Graben sich an einen Tiger heranschlich, der einen Menschen verzehrte, und ihm die Beute abjagte. Es gibt Wesen, Watson, die sich bis zu einem bestimmten Punkt normal entwickeln und sich dann mit einem Mal vollkommen verändern. Man kann das öfter beobachten. Meiner Ansicht nach spiegelt sich in der Entwicklung jedes Einzelwesens diejenige der ganzen Vorfahrenkette wider, und ein plötzlicher Umschlag zum Guten oder zum Bösen stellt den Ausfluss aus der Reihe seiner Ahnen dar. Das Individuum wiederholt gewissermaßen die Geschichte seiner Familie.«
»Diese Theorie erscheint mir etwas fantastisch.«
»Nun, ich will nicht näher darauf eingehen, wie ihm aber auch sei, Oberst Moran geriet allmählich auf Abwege. Wenn es auch nicht zum öffentlichen Skandal gekommen ist, in Indien wurde ihm der Boden doch zu heiß unter den Füßen, er konnte sich nicht mehr länger dort halten. Er kam also nach London und erfreute sich auch hier nicht lange eines guten Rufes. Damals nahm sich Professor Moriarty seiner an, er war eine Zeit lang seine rechte Hand. Moriarty unterstützte ihn reichlich mit Geldmitteln und verwandte ihn nur ein oder zwei Mal bei ganz großen Sachen, die kein gewöhnlicher Verbrecher hätte durchführen können. Können Sie sich vielleicht noch auf den Tod der Mrs Stewart in Lander im Jahre 1887 besinnen? Ich bin fest überzeugt, dass Moran der Hauptbeteiligte dabei war, wenn ihm auch nichts nachgewiesen werden konnte. Auch als die Moriartysche Bande ergriffen wurde, verstand er sich so geschickt aus der Schlinge zu ziehen, dass wir ihm nichts ans Zeug flicken konnten. Erinnern Sie sich noch, wie ich dazumal, als ich in Ihrer Wohnung war, aus Furcht vor der Windbüchse die Fensterladen schloss? Sie hielten mich sicher für krankhaft erregt und übermäßig ängstlich. Ich wusste jedoch wohl, was ich tat, denn ich kannte die Existenz dieses eigentümlichen Gewehrs und wusste auch, dass einer der besten Schützen dahinter stand. Als wir in die Schweiz gingen, folgte er uns mit Moriarty, und es war kein anderer als er, der mich am Reichenbachfall fünf Minuten lang bombardierte.
Sie können sich vorstellen, dass ich während meines Aufenthaltes in Frankreich die Zeitungen sehr aufmerksam studierte, um ihn bei irgendeiner Gelegenheit fassen zu können. So lange er sich auf freiem Fuß befand, würde ich in London keinen Augenblick meines Lebens sicher gewesen sein. Tag und Nacht hätte ich keine Ruhe gehabt, und früher oder später wäre ich ihm doch zum Opfer gefallen. Was hätte ich dagegen tun können? Ich konnte ihn nicht erschießen, wollte ich mich nicht selbst in Ungelegenheiten bringen. Mich an die Behörde zu wenden, hätte keinen Zweck gehabt, denn auf bloßen Verdacht hin darf sie nicht einschreiten. Ich war also vollständig machtlos. Ich verfolgte daher die Kriminalnachrichten, weil ich überzeugt war, ihn doch einmal erwischen zu können. Da kam die Meldung von der Ermordung des jungen Adair. Meine Stunde war endlich gekommen! Nach dem, was ich wusste, war es da nicht sicher, dass Moran der Mörder sein musste? Er hatte mit dem jungen Mann Karten gespielt, er war ihm vom Klub nach Hause gefolgt und hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Das unterlag für mich keinem Zweifel. Die Kugeln allein werden zu seiner Überführung genügen. Ich kehrte rasch zurück. Seine Wache sah mich und setzte ihn selbstverständlich sofort von meiner Anwesenheit in Kenntnis. Er musste meine schleunige Rückkehr unbedingt mit seinem Verbrechen in Zusammenhang bringen und darüber stark beunruhigt sein. Es war mir daher klar, dass er sofort mich aus dem Weg zu schaffen versuchen, und zu diesem Zweck sein Mordgewehr mitbringen würde. Ich hinterließ ihm am Fenster ein ausgezeichnetes Ziel. Ich unterrichtete die Polizei – Sie werden, nebenbei bemerkt, ihre Anwesenheit in jenem Torweg gewiss nicht vermutet haben – und nahm jenen Beobachtungsposten ein, der mir dazu besonders geeignet erschien; freilich ließ ich mir nicht träumen, dass er denselben Fleck zu seinem Angriff wählen würde. Ist Ihnen die Sache nun klar, mein Lieber?«
»Nicht ganz«, antwortete ich.
»Sie haben mir nicht erklärt, warum er den jungen Ronald Adair getötet hat.«
»Ach so! Damit kommen wir auf das Gebiet, wo auch ein streng logisch denkender Mensch irren kann. Darüber mag sich jeder aufgrund der Tatsachen seine eigene Meinung bilden, und dabei gilt die eine so viel wie die andere.«
»Haben Sie sich Ihre schon gebildet?«
»Mir erscheint es nicht allzu schwer, ein Motiv zu finden. Es ist nachgewiesen, dass Moran und Adair nicht unbedeutende Summen im Spiel umgesetzt haben. Nun hat Moran zweifellos falsch gespielt – davon war ich schon lange überzeugt. Ich glaube, dass Adair am Tag der Ermordung den Betrug entdeckt und ihm höchstwahrscheinlich die vertrauliche Mitteilung gemacht hatte, dass er seine Ausschließung aus dem Klub veranlassen würde, wenn er nicht freiwillig austräte und vom Kartenspiel wegbliebe. Es ist kaum anzunehmen, dass ein junger Mann wie Adair sofort einen riesigen Skandal machen und einen bekannten und viel älteren Herrn in dieser Weise bloßstellen wollte. Meine Vermutung hat insofern viel für sich. Die Ausstoßung aus dem Klub bedeutete aber für Moran, der von den Erträgnissen des falschen Spielens lebte, zugleich den materiellen Ruin. Aus diesem Grund ermordete er Adair, als dieser gerade ausrechnete, wie viel Geld er selbst zurückzahlen müsste, um an dem Falschspiel seines Partners keinen Anteil zu haben. Er verschloss die Tür, um von den Damen nicht überrascht und gefragt zu werden, was alle die Namen und Geldhäufchen bedeuten sollten. Leuchtet es Ihnen ein?«
»Ich zweifle nicht, dass Sie das Richtige getroffen haben.«
»Bei der Verhandlung wird sich herausstellen, ob ich recht habe oder nicht. Im Übrigen, es mag damit werden wie’s will, Oberst Moran wird uns nicht mehr beunruhigen, die berühmte Büchse, System Herder, wird das Kriminalmuseum zieren, und Mr Sherlock Holmes kann sich wieder frei und ungestört dem Studium jener interessanten kleinen Probleme widmen, an denen im Londoner Leben wahrhaftig kein Mangel ist.«
* Vgl. »Das letzte Problem«.