Sherlock Holmes, der für gewöhnlich morgens sehr spät aufstand, wenn er nicht – was allerdings nicht selten vorkam – die ganze Nacht aufgewesen war ... Sherlock Holmes saß am Frühstückstisch. Ich stand auf dem Kaminteppich und nahm den Stock zur Hand, den unser Besucher gestern Abend zurückgelassen hatte. Es war ein schönes, dickes Stück Holz mit rundem Knauf – ein sogenannter Polizistenknüppel. Unmittelbar unter dem Knopf befand sich ein fast zollbreiter silberner Reif mit einer Inschrift:
James Mortimer, M. R. C. S.
von seinen Freunden vom C. C. H.
1884.
Es war so recht ein altmodischer Hausdoktorstock – würdig, derb, vertrauenerweckend.
»Nun, Watson, was machen Sie daraus?«
Holmes saß mit dem Rücken gegen mich, ich hatte nichts getan, woraus er auf meine Beschäftigung hätte schließen können.
»Woher wussten Sie, was ich machte? Ich glaube wahrhaftig, Sie haben ein paar Augen im Hinterkopf.«
»Wenn auch das nicht, so habe ich doch eine blitzblanke, silberplattierte Kaffeekanne vor mir«, antwortete er. »Aber sagen Sie mir, Watson, was machen Sie aus unseres Besuchers Stock? Da er uns unglücklicherweise nicht angetroffen hat und wir keine Ahnung haben, was er von uns will, erhält dieses zufällig hiergebliebene Andenken eine gewisse Bedeutung. Lassen Sie hören, wie Sie sich nach dem Spazierstock den Mann vorstellen.«
»Ich denke«, sagte ich, nach besten Kräften mich der Methode bedienend, die mein Freund bei seinen Forschungen anzuwenden pflegte, »Dr. Mortimer ist ein älterer Arzt mit guter Praxis. Er ist ein angesehener Mann, da seine Bekannten ihm ein solches Zeichen ihrer Wertschätzung geben.«
»Gut!«, sagte Holmes. »Ausgezeichnet!«
»Ferner dürfte die Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass er ein Landarzt ist, der einen guten Teil seiner Krankenbesuche zu Fuß macht.«
»Warum?«
»Weil sein Stock, obwohl er ursprünglich sehr schön war, so mitgenommen ist, dass ich mir kaum vorstellen kann, ein städtischer Arzt habe ihn gebraucht. Die starke eiserne Zwinge ist sehr abgenutzt, es ist also klar, dass der Stock tüchtige Märsche mitgemacht hat.«
»Vollkommen vernünftig gedacht!«, bemerkte Holmes.
»Und weiter – da sind ›die Freunde vom C. C. H.‹ Ich möchte annehmen, es handelt sich da um irgendeinen ›Hetzjagdverein‹, dessen Mitgliedern er vielleicht ärztlichen Beistand geleistet hat, wofür sie ihm dann ein kleines Andenken bescherten.«
»Wirklich, Watson, Sie übertreffen sich selbst«, sagte Holmes, seinen Stuhl zurückschiebend und sich eine Zigarette anzündend. »Ich fühle mich verpflichtet, zu sagen, dass Sie bei den Berichten, in denen Sie meine bescheidenen Leistungen so freundlich geschildert haben, Ihre eigenen Fähigkeiten weit unterschätzt haben. Sie sind vielleicht nicht selber ein großes Licht, aber Sie bringen anderen Erleuchtung. Es gibt Leute, die, ohne selbst Genies zu sein, eine bemerkenswerte Gabe besitzen, das Genie anderer anzuregen. Ich gestehe, mein lieber Junge, ich stehe sehr tief in Ihrer Schuld.«
So großes Lob hatte er noch nie vorher ausgesprochen, und ich muss gestehen, seine Worte machten mir ein inniges Vergnügen, denn ich hatte mich oftmals ein bisschen darüber geärgert, dass er gegen meine Bewunderung und meine Versuche, die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Leistungen zu lenken, sich so gleichgültig zeigte. Auch machte es mich nicht wenig stolz, sein System in einer Weise mir zu eigen gemacht zu haben, dass er mir zu der Anwendung desselben seinen Beifall aussprach. Holmes nahm mir nun den Stock aus der Hand und prüfte ihn ein paar Minuten lang mit bloßen Augen. Dann legte er mit einem Ausdruck großen Interesses die Zigarette weg, trat mit dem Stock ans Fenster und untersuchte ihn noch einmal mittels einer Lupe.
»Interessant, wenngleich sehr einfach«, sagt er, als er sich wieder in seine Lieblingssofaecke setzte. »Sicherlich gibt der Stock ein oder zwei Andeutungen. Er liefert uns den Ausgangspunkt für mehrere Schlussfolgerungen.«
»Ist mir irgendetwas entgangen?«, fragte ich, ein wenig mich in die Brust werfend. »Ich denke doch, ich habe nichts von Bedeutung übersehen?«
»Ich fürchte, mein lieber Watson, Ihre Folgerungen waren größtenteils falsch. Wenn ich sagte, Sie regen mich an, meinte ich damit – um offen zu sein –, dass ich durch Ihre Trugschlüsse gelegentlich auf die Wahrheit gebracht wurde. Indessen sind Sie in diesem Fall doch nicht gänzlich auf dem Holzweg. Der Mann ist ganz gewiss ein Landarzt. Und er geht viel zu Fuß.«
»Also hatte ich recht!«
»Insoweit, ja.«
»Aber das war doch alles!«
»Nein, nein, mein lieber Watson, nicht alles – durchaus nicht alles. Ich möchte zum Beispiel annehmen, dass ein Doktor ein Geschenk wohl eher von einem Hospital als von einem Hetzjagdverein erhält, und dass, wenn vor dem H. des ›Hospital‹ die Anfangsbuchstaben ›C. C.‹ stehen, sich ganz ungezwungen die Auslegung ›Charing-Cross‹ darbietet.«
»Sie könnten recht haben.«
»Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Und wenn wir davon ausgehen wollen, haben wir eine frische Grundlage, worauf wir eine Vorstellung von unserem unbekannten Besucher uns aufbauen können.«
»Nun, also angenommen, ›C. C. H.‹ bedeute ›Charing-Cross-Hospital‹, was können wir für weitere Schlüsse aus diesem Umstand ziehen?«
»Können Sie nicht selber darauf kommen? Sie kennen meine Methoden. Wenden Sie sie an!«
»Mir fällt bloß die sehr einfache Schlussfolgerung ein, dass der Mann in der Stadt praktiziert hat, bevor er aufs Land zog.«
»Ich denke, wir dürfen uns in unseren Schlüssen ruhig ein bisschen weiter wagen. Betrachten Sie mal den Fall vom folgenden Standpunkt aus: Bei was für einer Gelegenheit wird ein solches Geschenk höchstwahrscheinlich gemacht worden sein? Wann werden seine Freunde zusammengetreten sein, um ihm diese Gabe zu stiften? Offenbar in dem Augenblick, als Dr. Mortimer das Hospital verließ, um sich eine eigene Praxis zu gründen. Wir wissen, ein Geschenk ist gemacht worden. Wir glauben, der Mann ist vom Hospital aufs Land gezogen. Gehen wir denn also in unseren Mutmaßungen zu weit, wenn wir sagen, das Geschenk wurde ihm gelegentlich seines Fortganges dargebracht?«
»Das klingt allerdings wahrscheinlich.«
»Nun wird es Ihnen klar sein, dass er nicht dem ärztlichen ›Stab‹ des Krankenhauses angehört haben kann, denn eine derartige Stellung bekommt nur ein Arzt, der bereits eine gute Londoner Praxis hat, und ein solcher würde nicht aufs Land ziehen. Wer war er also? Wenn er zum Hospital und doch nicht zum Stab desselben gehörte, kann er nur Assistent gewesen sein – wenig mehr als ein älterer Kandidat der Medizin. Sein Fortgang fand vor fünf Jahren statt – das Datum steht auf dem Stock. So geht also Ihr ernster Familiendoktor reiferen Alters in Luft auf, mein lieber Watson, und heraus kommt ein junger Bursche unter dreißig Jahren, liebenswürdig, ohne Ehrgeiz, zerstreut – und Besitzer eines von ihm sehr geliebten Hundes, von welchem ich so ganz im Allgemeinen nur sagen möchte, dass er größer als ein Dackel und kleiner als eine Dogge ist.«
Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich auf seinem Sofa zurücklehnte und kleine Rauchringe in die Luft blies.
»Gegen Ihre letzte Versicherung vermag ich nichts einzuwenden«, sagte ich, »aber zum mindesten ist es nicht schwierig, ein paar Angaben über des Mannes Alter und bisherige Berufstätigkeit zu erlangen.« Ich nahm von dem Bücherbrettchen, worauf meine medizinischen Werke standen, den Medizinalkalender herunter und schlug den Namen auf. Es waren mehrere Mortimers aufgeführt, aber was wir von unserem Besucher bereits wussten, passte nur auf einen Einzigen von diesen. Ich las die betreffende Stelle vor:
»Mortimer, James, M. R. C. S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devonshire. Von 1882 bis 1884 Assistent am Charing-Cross-Hospital. Erhielt den ›Jackson-Preis für vergleichende Pathologie‹ für seine Abhandlung: ›Ist Krankheit ein Atavismus?‹ Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen pathologischen Gesellschaft. Verfasste: ›Einfälle über Atavismus‹ (Lancet, 1882), ›Machen wir Fortschritte?‹ (Journal of Psychology, März 1883). Gemeindearzt für Grimpen, Torsley und High Narrow.«
»Von dem Hetzjagdverein steht nichts darin, Watson«, sagte Holmes mit einem boshaften Lächeln, »aber ein Landarzt ist er, wie Sie sehr scharfsinnig geschlossen haben. Mir scheint, meine Annahmen finden sich völlig bestätigt. Nun zum Charakter unseres Mannes! Ich sagte, wenn ich mich nicht irre, er sei liebenswürdig, ohne Ehrgeiz und zerstreut. Meine Erfahrung lehrt mich, dass auf dieser Welt nur ein liebenswürdiger Mensch solche Freundschaftsgaben empfängt, dass nur einer ohne Ehrgeiz London verlässt, um aufs Land zu gehen, und dass nur ein Zerstreuter statt einer Visitenkarte seinen Spazierstock zurücklässt, nachdem er eine Viertelstunde im Wartezimmer gesessen hat.«
»Und der Hund?«
»Hat die Gewohnheit gehabt, seinem Herrn den Stock nachzutragen. Da der Stock schwer ist, hat der Hund ihn fest an der Mitte gepackt, und die Eindrücke seiner Zähne sind sehr deutlich sichtbar. Die Kinnlade des Hundes ist, nach dem Abstand der Zahnspuren zu schließen, zu breit für einen Teckel und nicht breit genug für eine Dogge. Vielleicht war es – ja, beim Zeus! – es ist ein brauner Jagdhund!«
Holmes war während des Sprechens aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen. Dann war er in der Fensternische stehen geblieben. In dem Klang seiner Stimme lag eine solche Überzeugung, dass ich überrascht aufblickte.
»Aber, werter Freund, wie können Sie bloß so etwas mit solcher Bestimmtheit behaupten?«
»Aus dem sehr einfachen Grund, weil ich den Hund selber auf der Straßentreppe sehe, und da klingelt auch schon sein Herr. Bitte bleiben Sie hier, Watson. Er ist ein Kollege von Ihnen, und Ihre Gegenwart kann mir vielleicht von Nutzen sein. Nun, Watson, kommt der dramatische Schicksalsaugenblick – Sie hören einen Schritt auf der Treppe – er tritt in Ihr Leben hinein, und Sie wissen nicht, bringt er Ihnen Gutes oder Böses. Was will Dr. James Mortimer, der Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Spezialisten des Verbrechens? ... Herein!«
Die äußere Erscheinung unseres Besuchers war eine Überraschung für mich, denn ich hatte den Typus eines Landarztes erwartet. Es war ein sehr großer, dünner Mann mit einer großen schnabelförmigen Nase, die zwischen zwei scharfen, dicht zusammenstehenden grauen Augen hervorsprang. Diese Augen sah man durch die Gläser einer goldenen Brille funkeln. Die Kleidung war im Schnitt seinem Stand entsprechend, jedoch ziemlich abgetragen; der Gehrock hatte blanke Nähte und die Hosen waren unten ausgefranst. Trotz seiner Jugend hielt er den langen Rücken bereits gekrümmt; beim Gehen streckte er mit einem wohlwollenden Ausdruck den Kopf vor. Beim Eintreten fiel sein Blick auf den Stock, den Holmes noch in der Hand hielt, und er lief mit einem freudigen Ausruf auf ihn zu.
»Ich bin wirklich so froh!«, sagte er. »Ich wusste nicht genau, ob ich ihn hier oder auf der Schiffsagentur vergessen hatte. Nicht um alles in der Welt möchte ich diesen Stock verlieren!«
»Ein Geschenk, wie ich sehe!«, bemerkte Holmes.
»Ja.«
»Vom Charing-Cross-Hospital?«
»Von ein paar Freunden dort bei Gelegenheit meiner Heirat.«
»Ach herrje, das ist schade!«, rief Holmes kopfschüttelnd.
Dr. Mortimer blinzelte in gelindem Erstaunen Holmes durch die Brillengläser hindurch an.
»Warum ist das schade?«
»Ach, Sie haben nur unsere kleinen Mutmaßungen ein bisschen in Unordnung gebracht. Bei Ihrer Heirat, sagten Sie?«
»Jawohl. Ich heiratete und ging deshalb vom Hospital weg und gab damit alle Hoffnungen auf eine bequeme Praxis auf. Ich musste mir aber meinen eigenen Haushalt einrichten.«
»Ei sieh, da sind wir im Großen und Ganzen ja doch nicht so sehr auf dem Holzweg!«, sagte Holmes. »Und nun, Herr Doktor James Mortimer ...«
»Kein Doktor, mein lieber Herr – ein bescheidener praktischer Arzt nur!«
»Und augenscheinlich ein Mann von scharfem Geist.«
»Ein Lehrling auf dem Gebiet der Wissenschaft, Mr Holmes, ein Anfänger, der am Strand des großen unbekannten Weltmeeres Muscheln aufliest! Ich vermute, dass ich mit Mr Sherlock Holmes spreche und nicht mit ...«
»Nein – der Herr hier ist mein Freund Dr. Watson.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Doktor. Ich habe Ihren Namen in Verbindung mit dem Ihres Freundes erwähnen hören. Sie interessieren mich außerordentlich, Mr Holmes. Ich hatte an Ihnen kaum einen solchen dolichocephalen Schädel und eine derartig ausgeprägte supraorbitale Stirnentwicklung erwartet. Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mal mit dem Finger über Ihre Scheitelnaht fahre? Ein Gipsmodell Ihres Schädels, werter Herr, würde, solange das Original nicht zu haben ist, eine Zierde jedes anthropologischen Museums bilden. Ich beabsichtige nichts Unziemliches zu sagen, aber ich gestehe: Mich gelüstet’s nach Ihrem Schädel.«
Sherlock Holmes lud mit einer Handbewegung unseren sonderbaren Besucher ein, sich’s in einem Stuhl bequem zu machen. Dann sagte er:
»Sie sind, wie ich bemerke, ein Enthusiast in Ihren Gedankengängen wie ich in den meinigen. Ich sehe an Ihren Fingerspitzen, dass Sie sich Ihre Zigaretten selber drehen. Zünden Sie sich ohne Bedenken eine an.«
Der Mann holte Tabak und Papier aus der Tasche und rollte mit überraschender Geschicklichkeit eine Zigarette. Seine langen zuckenden Finger waren so beweglich und unruhig wie die Fühler eines Insekts.
Holmes saß schweigend da, aber ich sah an den kurzen, scharfen Blicken, womit er ab und zu unseren eigentümlichen Gesellschafter beobachtete, dass er sich für denselben sehr interessierte.
»Ich nehme an, Mr Mortimer«, sagte er endlich, »dass Sie nicht lediglich in der Absicht, meinen Schädel zu befühlen, mir die Ehre erwiesen haben, gestern Abend und wieder heute früh hier vorzusprechen?«
»Nein, Mr Holmes, nein – ich bin jedoch glücklich, dass ich gleichzeitig auch dazu Gelegenheit gehabt habe. Ich kam zu Ihnen, Mr Holmes, weil ich mir eingestehe, dass ich selbst ein unpraktischer Mann bin, und weil ich mich plötzlich einem sehr ernsthaften und außerordentlichen Problem gegenüber befinde. Und in Anbetracht, dass Sie, wie ich anerkenne, die zweithöchste europäische Autorität in ...«
»Wirklich, Herr Doktor? Darf ich mich erkundigen, wer die Ehre hat, die erste zu sein?«, fragte Holmes in etwas kurzem Ton.
»Auf einen streng wissenschaftlich denkenden Gelehrten muss Monsieur Bertillons Methode einen außerordentlich starken Reiz ausüben.«
»Täten Sie dann vielleicht nicht besser, diesen um Rat zu fragen?«
»Ich sagte, werter Herr: für den streng wissenschaftlich Denkenden. Aber in der praktischen Betätigung Ihrer Kunst stehen Sie allein da, das ist allgemein anerkannt. Ich denke doch, ich habe nicht etwa unabsichtlich ...«
»Kaum der Rede wert!«, antwortete Holmes. »Ich denke, Herr Doktor Mortimer, Sie täten gut, wenn Sie ohne weitere Umschweife mir klar und deutlich vortrügen, welcher Art das Problem ist, zu dessen Lösung Sie meinen Beistand zu erhalten wünschen.«
»Ich habe in meiner Tasche ein Manuskript!«, sagte Doktor James Mortimer.
»Ich bemerkte es, als Sie das Zimmer betraten«, antwortete Holmes.
»Es ist eine alte Handschrift.«
»Aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts – falls nicht etwa eine Fälschung vorliegt.«
»Wie können Sie das so bestimmt sagen?«
»Sie haben mich die ganze Zeit über ein paar Zollbreit davon sehen lassen, sodass ich es prüfen konnte. Das wäre ein armseliger Sachverständiger, der nicht auf ein Jahrzehnt oder so das Datum eines Dokuments bestimmen könnte. Vielleicht haben Sie meine Abhandlung über diesen Gegenstand gelesen. Ich schätze, dass das Manuskript um das Jahr 1730 geschrieben ist.«
»Die genaue Jahreszahl ist 1742.«
Dr. Mortimer zog das Manuskript aus der Brusttasche hervor und fuhr fort:
»Dieses Familienpapier wurde mir von Sir Charles Baskerville anvertraut, dessen plötzlicher, tragischer Tod vor etwa drei Monaten in der Grafschaft Devon so großes Aufsehen machte. Ich darf wohl sagen, dass ich nicht nur sein ärztlicher Berater, sondern auch sein persönlicher Freund war. Er war ein starkgeistiger Mann, schlau, weltklug und so wenig zu Einbildungen geneigt wie ich selber. Trotzdem nahm er es mit diesem Schriftstück sehr ernst, und er war innerlich auf genau so einen Tod vorbereitet, wie er ihn schließlich erlitt.«
Holmes streckte die Hand nach dem Manuskript aus und breitete es auf seinem Knie aus.
»Sie werden bemerken, Watson, dass der Buchstabe s abwechselnd lang oder kurz geschrieben ist. Das ist eines von mehreren Anzeichen, die es mir ermöglichten, die Entstehungszeit zu bestimmen.«
Ich betrachtete über seine Schulter hinweg das vergilbte Papier und die verblasste Schrift. Am Kopfende stand geschrieben: »Baskerville Hall« und unten in großen kritzeligen Zahlen: »1742«.
»Es scheint so eine Art von Erzählung zu sein.«
»Ja, es ist die Erzählung einer Sage, die in der Familie Baskerville im Schwunge ist.«
»Aber ich verstehe Sie doch recht – Sie wünschen mich doch in einer etwas moderneren Angelegenheit des wirklichen Lebens um Rat zu fragen?«
»In einer höchst modernen! Und in einer sehr dringlichen Angelegenheit, die binnen vierundzwanzig Stunden zur Entscheidung gebracht werden muss. Aber das Manuskript ist nur kurz und steht in innigem Zusammenhang mit der Geschichte. Mit Ihrer Erlaubnis will ich’s Ihnen vorlesen.«
Holmes lehnte sich in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände und schloss die Augen mit der Miene eines Mannes, der sich in sein Schicksal ergibt. Dr. Mortimer hielt das Manuskript so, dass er gutes Licht hatte, und las mit lauter piepsiger Stimme die nachstehende Geschichte aus alter Zeit: »Von dem Ursprung des Hetzrüden der Baskervilles hat man gar vielerlei erzählt, aber da ich in gerader Linie von Hugo Baskerville abstamme und da ich die Geschichte von meinem Vater habe, der sie von dem seinigen überliefert erhielt, habe ich sie hier niedergeschrieben und bin des festen Glaubens, sie hat sich so zugetragen, wie ich nunmehr berichten will. Und ich bitte Euch, meine Söhne, Ihr wollet glauben, dass eben dieselbige Gerechtigkeit, so die Sünde bestrafet, wohl auch in überreicher Gnade sie vergeben möge, und dass kein Fluch so schwer sei, er könne nicht durch Gebet und Reue gesühnt werden. Entnehmet also aus dieser Geschichte die Lehre, dass ihr Euch nicht fürchtet, die Verbrechen der Vergangenheit möchten für Euch schlimme Früchte zeitigen, sondern dass Ihr vielmehr inskünftig wollet recht bedachtsam sein, auf dass die verruchten Leidenschaften, die unserer Familie so schweren Harm zugefüget, nicht abermals zu unserem Schaden mögen entfesselt werden.
Wisset also, dass zu den Zeiten der großen Revolution – deren Geschichte, wie der gelehrte Lord Clarendon sie beschrieben, ich Euch recht angelegentlich zum Lesen empfehle – dieses Herrenhaus Baskerville bewohnt wurde von Mr Hugo desselbigen Namens; und es kann nicht verschwiegen werden, dass er ein sehr wilder, verruchter und gottloser Mann war. Dieses hätten nun wohl seine Nachbarn ihm verzeihen mögen, sintemalen in hiesiger Gegend Heilige niemals haben gedeihen wollen; aber es war an seiner Wildheit ein gewisser mutwilliger und grausamer Humor, und dadurch wurde sein Name im ganzen Westen bekannt. Nun begab es sich, dass dieser Hugo zu der Tochter eines Landmanns, der an der Grenze der Baskervilleschen Güter seinen Bauernhof hatte, in Liebe entbrannte – wenn man eine so finstere Leidenschaft wie die seinige mit einem so leuchtenden Wort bezeichnen darf. Aber die junge Maid, die züchtig und von gutem Ruf war, wich ihm stets aus, denn sie fürchtete seinen bösen Namen.
Es begab sich aber, dass am Michaelistag dieser Hugo nebst fünf oder sechs von den verruchten Genossen seiner Schwelgereien sich in das Bauernhaus schlich und das Mädchen entführte; ihr Vater aber und ihre Brüder waren nicht zu Hause, wie er sehr wohl wusste.
Und sie brachten sie ins Schloss, und die Jungfrau wurde in ein Zimmer im obersten Stockwerk eingeschlossen; Hugo aber und seine Freunde saßen nieder zu einem langen Zechgelage, wie sie allnächtlich zu tun pflegten. Da mochten wohl der armen Dirne da oben die Sinne schwinden, als sie das Singen und Toben und fürchterliche Fluchen hörte, das von unten heraufscholl – denn man sagt, solche Worte, wie Hugo Baskerville sie im Weinrausch äußerte, die brächten den Mann, der sie spräche, sicherlich in die Hölle.
Und zuletzt tat sie in der Verzweiflung ihrer Angst etwas, wovor wohl der tapferste und gewandteste Mann möchte zurückgeschaudert sein; denn mit Hilfe des Efeugerankes, das die Mauer bedeckte – und noch bedeckt – klomm sie von der Höhe dicht unter dem Dach hinunter zum festen Boden, und dann rannte sie nach Hause quer über das Moor. Der Weg aber von dem Schloss bis zu ihres Vaters Hof war drei Stunden weit.
Und es begab sich, dass kurze Zeit darauf Hugo seine Gäste verließ, um seiner Gefangenen Speise und Trank zu bringen – und vielleicht wollte er noch Schlimmeres –, und dass er den Käfig leer und den Vogel entflohen fand. Da war es gleich, als käme der Teufel über ihn, denn er lief die Treppen hinunter in den Speisesaal und sprang auf den großen Tisch, dass Flaschen und Teller herunterfielen, und schrie laut vor der ganzen Gesellschaft, er wolle noch in selbiger Nacht Leib und Seele den bösen Mächten zu eigen geben, wenn er nur die Dirne wieder einholte. Entsetzt starrten die Zechbrüder auf den rasenden Mann, einer aber, der noch verruchter oder vielleicht auch nur trunkener war als die anderen, rief, sie sollten die Hunde auf sie hetzen. Und Hugo lief aus dem Haus und rief seinen Stallknechten zu, sie sollten seine Stute satteln und die Hunde aus dem Zwinger lassen; er zeigte diesen ein Halstuch des Mädchens, und mit lautem Gekläff ging es im Mondschein über das Moor.
Eine Zeit lang waren die Zechkumpane ganz starr vor Verblüffung; sie vermochten die Vorgänge, die sich mit solcher Schnelligkeit abgespielt hatten, nicht zu begreifen. Aber allmählich dämmerte ihnen in ihren umnebelten Schädeln eine Ahnung auf, was wohl auf dem Moor sich begeben würde. Und es erhob sich ein gewaltiger Lärm, die einen riefen nach ihren Pistolen, andere nach ihren Pferden, noch wieder andere schrien, es sollten neue Weinflaschen gebracht werden. Endlich jedoch wurden sie etwas vernünftiger, und die ganze Gesellschaft, dreizehn an der Zahl, stieg zu Pferde und ritt Mr Hugo nach. Der Mond schien klar über ihren Häuptern, und sie sprengten in schnellem Lauf den Weg entlang, den das Mädchen genommen haben musste, um ihr Haus zu erreichen.
Sie waren eine oder zwei Meilen geritten, als sie einem jener Hirten begegneten, die nachts ihre Schafe über das Moor treiben; und sie riefen ihm zu, ob er den Reiter mit den Hunden gesehen hätte. Und der Mann, so berichtet die Überlieferung, war so von Furcht gelähmt, dass er kaum sprechen konnte; schließlich aber sagte er, er habe wirklich die unglückliche Jungfrau gesehen, und die Hunde seien ihr auf der Spur gewesen. ›Aber ich habe noch mehr gesehen als das!‹, sagte er. ›Denn Hugo Baskerville ritt an mir vorüber auf seiner schwarzen Stute, und hinter ihm rannte stumm solch ein Höllenhund, wie Gott ihn niemals mir auf die Fersen hetzen wolle!‹ Die trunkenen Herren aber fluchten auf den Schäfer und ritten weiter. Bald jedoch ging es ihnen kalt über die Haut, denn es galoppierte etwas über das Moor herüber, und die schwarze Stute raste, mit weißem Schaum bedeckt, mit schleifendem Zügel und leerem Sattel an ihnen vorüber. Da drängten die Zechbrüder sich eng aneinander, denn eine große Angst kam über sie; trotzdem ritten sie noch weiter, obwohl jeder von ihnen, wäre er allein gewesen, herzlich gern sein Pferd würde herumgeworfen haben. Langsam weiterreitend, trafen sie schließlich die Hunde. Diese lagen, obwohl berühmt wegen ihres edlen Geblüts und ihrer Tapferkeit, winselnd zu einem Klumpen zusammengedrängt am Eingang einer tiefen Schlucht; einige von ihnen schlichen sich gar zur Seite, die anderen starrten mit gesträubten Haaren und stieren Augen in das schmale Tal hinein, das vor ihnen lag.
Die Gesellschaft hatte Halt gemacht; die Herren waren, wie Ihr Euch denken könnt, jetzt nüchterner als beim Fortreiten. Die meisten wollten durchaus nicht weiter, aber drei von ihnen, die Kühnsten – oder auch die Betrunkensten – ritten in die Schlucht hinein. Diese öffnete sich allmählich zu einem breiten Raum, wo zwei große Steine standen; sie stehen auch jetzo noch dorten und sind von Menschen gesetzt worden, deren Gedenken seit langen Zeiten verschollen ist. Der Mond schien hell auf den freien Platz, und in der Mitte lag das Mädchen auf der Stelle, wo sie vor Angst und Ermattung tot hingesunken war. Doch nicht der Anblick ihres Leichnams, auch nicht der Anblick des Leichnams von Hugo Baskerville war es, was diesen drei gottlosen Wüstlingen das Haar emporsträubte. Aber über Hugo, dessen Kehle zerfleischend, stand ein grausiges Wesen, eine große schwarze Bestie von der Gestalt eines Hundes, nur viel größer als ein Hund, den je eines Sterblichen Auge erschaut hat. Und vor ihren entsetzten Augen riss das Tier dem Hugo Baskerville die Kehle auf, dann sah es mit triefenden Lefzen und glühenden Augen auf die Reiter; diese aber stießen ein gellendes Geschrei aus und sprengten, als gälte es das Leben, fortwährend schreiend über das Moor zurück. Einer, so erzählt man, starb noch in selbiger Nacht von dem Anblick, die anderen zwei aber waren gebrochene Männer für den Rest ihrer Tage.
Dieses ist, meine Söhne, die Geschichte von der Herkunft des Hundes, der, wie man sagt, seitdem unsere Familie so grimmig verfolgt hat. Ich habe sie aber niedergeschrieben, weil etwas Bekanntes offenbar weniger Grauen einflößt als etwas, was nur mit Winken und Andeutungen einem zugetragen wird. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass mancher von unserer Familie eines unseligen Todes gestorben ist, dass viele plötzlich geheimnisvoll und auf eine blutige Art verschieden sind. Und doch mögen wir uns der unendlichen Güte der Vorsehung ruhig anheimgeben; sie wird niemals die Unschuldigen bestrafen über das dritte oder vierte Glied hinaus, wie die Drohung in der Heiligen Schrift lautet.
Dieser Vorsehung, meine Söhne, empfehle ich Euch hiermit, und ich rate Euch, vorsichtig zu sein und dem Moor fern zu bleiben in jenen finsteren Stunden, da die bösen Mächte ihr Spiel treiben.
Dies schrieb Hugo Baskerville für seine Söhne Rodger und John. Und sie sollen ihrer Schwester Elisabeth nichts davon sagen.«
Dr. Mortimer war mit dem Vorlesen der seltsamen Geschichte fertig; er schob seine Brille auf die Stirn hinauf und warf einen erwartungsvollen Blick auf Sherlock Holmes. Dieser gähnte, warf das Stümpfchen seiner Zigarette ins Feuer und sagte:
»Nun?«
»Finden Sie die Geschichte nicht interessant?«
»O ja, für einen Sammler von Märchen.«
Dr. Mortimer zog ein zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche und sagte:
»Nun, Mr Holmes, so wollen wir Ihnen jetzt etwas Moderneres vorlegen. Dies hier ist die ›Devon Country Chronicle‹ vom 14. Mai dieses Jahres. Sie enthält einen kurzen Bericht über den etliche Tage vorher eingetretenen Tod Sir Charles Baskervilles.«
Mein Freund beugte sich ein wenig vor, und seine Züge nahmen einen Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit an. Unser Besucher schob seine Brille zurecht und begann:
»Der soeben erfolgte plötzliche Tod Sir Charles Baskervilles, von dem als vermutlichen Kandidaten der liberalen Partei für Mitteldevon bei der nächsten Wahl die Rede war, ist ein trauriges Ereignis für die ganze Grafschaft. Wenngleich Sir Charles erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Baskerville Hall bewohnte, hatten ihm doch sein liebenswürdiger Charakter und seine außerordentliche Freigebigkeit die Zuneigung und Achtung aller gewonnen, die mit ihm in Berührung kamen. In unseren Tagen reicher Emporkömmlinge freut man sich, wenn es einmal dem Sprössling einer altansässigen Familie gelungen ist, aus eigener Kraft ein Vermögen zu erwerben und damit den verblichenen Glanz seines durch böse Zeitläufte gegangenen Geschlechtes wieder aufzufrischen. Wie wohl allgemein bekannt ist, gewann Sir Charles große Summen durch Spekulationen in Südafrika. Er war weise genug, nicht so lange zu warten, bis das Glück sich gegen ihn kehrte, sondern machte seinen Gewinn zu Geld und kehrte damit nach England zurück. Es sind erst zwei Jahre vergangen, seit er wieder Baskerville Hall bezog, und die von ihm geplanten großen Neubauten und Verbesserungen bildeten bekanntlich das allgemeine Gespräch in der ganzen Gegend; nun sind sie durch seinen Tod unterbrochen worden! Da er selbst keine Kinder hatte, war es sein offen ausgesprochener Wunsch, die ganze Gegend solle von dem ihm beschieden gewesenen Glück Vorteil haben. Gar mancher wird daher ganz persönliche Veranlassung haben, den vorzeitigen Tod des Wohltäters zu beweinen. Von seinen hochherzigen Schenkungen zu milden Zwecken ist in unseren Spalten oft die Rede gewesen.
Die Umstände, unter denen der Tod erfolgt ist, sind freilich durch die Untersuchung nicht gänzlich aufgeklärt worden, doch ist immerhin genug festgestellt, um gewissen Gerüchten entgegenzutreten, die durch den Aberglauben der Bevölkerung in Umlauf gesetzt sind. Nicht der geringste Grund spricht für ein Verbrechen oder lässt darauf schließen, dass übernatürliche Mächte im Spiel sein könnten. Sir Charles war Witwer und galt für einen Mann von etwas sonderbarer Geistesanlage. Trotz seines beträchtlichen Reichtums war er einfach in seinen Lebensgewohnheiten, und die im Haus selbst wohnende Dienerschaft von Baskerville Hall bestand nur aus dem Ehepaar Barrymore. Ihre Aussage, die durch das Zeugnis mehrerer Freunde des Verstorbenen bestätigt wird, lautet dahin, dass Sir Charles schon seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen sei und besonders an einer Herzkrankheit gelitten habe, die sich in plötzlichen Veränderungen der Gesichtsfarbe, in Atemnot und in Anfällen von Gemütsverstimmung kundgegeben. Dr. Mortimer, der Freund und ärztliche Berater des Verschiedenen, hat sein Zeugnis in demselben Sinne abgelegt.
Die Tatsachen des Falles sind einfach. Sir Charles Baskerville hatte die Gewohnheit, jede Nacht vor dem Zubettgehen noch einen Gang in der berühmten Taxusallee von Baskerville Hall zu machen. Dies geht aus dem Zeugnis der Barrymores hervor. Am 4. Mai hatte Sir Charles die Absicht ausgesprochen, am nächsten Tag nach London zu fahren, und hatte Barrymore beauftragt, sein Gepäck zurechtzumachen. Am Abend ging er wie immer aus, um seiner Gewohnheit gemäß auf seinem nächtlichen Spaziergang eine Zigarre zu rauchen. Er kam nicht wieder zurück. Um zwölf Uhr fand Barrymore die Haustür noch offen, wurde unruhig und ging mit einer brennenden Laterne auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte tagsüber geregnet, und Sir Charles’ Fußspuren waren leicht die Taxusallee hinunterzuverfolgen. Auf halbem Weg befindet sich eine Pforte, die zum Moor hinausführt. Aus gewissen Anzeichen lässt sich schließen, dass Sir Charles dort eine Zeit lang gestanden hatte. Dann hatte er seinen Weg den Gang hinunter fortgesetzt, und an dem äußersten Ende dieses Ganges wurde seine Leiche aufgefunden. Noch unaufgeklärt ist der von Barrymore bezeugte Umstand, dass die Fußspuren von der Heckenpforte an sich änderten, und dass er augenscheinlich von dieser Stelle an auf den Fußspitzen weitergegangen war. Ein Zigeunerpferdehändler namens Murphy war um jene Stunde nicht weit davon auf dem Moor, jedoch in etwas angetrunkenem Zustand, wie er selber angibt. Er erklärt, er habe mehrere Schreie gehört, könne aber nicht sagen, aus welcher Richtung diese gekommen seien. Zeichen von Gewalt waren an Sir Charles’ Leiche nicht zu entdecken; allerdings waren nach Aussage des Arztes seine Gesichtszüge auf fast unglaubliche Weise verzerrt – Doktor Mortimer wollte anfangs gar nicht glauben, dass es sein Freund und Patient war, der da als Leiche vor ihm lag – indessen ist dies ein Symptom, das man an Toten, die an Herzschlag gestorben sind, nicht selten beobachtet. Diese Erklärung wurde bestätigt durch den Sektionsbefund, der eine weit vorgeschrittene, langjährige Entartung des Herzens ergab. Der Wahrspruch der zur Leichenschau berufenen Geschworenen lautete daher in Übereinstimmung mit der Meinung des Arztes. Dies ist gut so; denn selbstverständlich ist es von allergrößter Wichtigkeit, dass auch Sir Charles’ Erbe sich auf Baskerville Hall niederlässt und die so traurig unterbrochene nutzbringende Arbeit wieder aufnimmt. Hätte der prosaische Befund der Leichenschau nicht die von Ohr zu Ohr geflüsterten romantischen Geschichten endgültig zum Schweigen gebracht, so möchte es wohl schwer gehalten haben, einen neuen Bewohner nach Baskerville Hall zu bringen. Wie wir vernehmen, ist der nächste Verwandte Mr Henry Baskerville – falls er noch am Leben ist –, der Sohn von Sir Charles’ jüngerem Bruder. Der junge Herr befand sich nach den letzten Nachrichten, die von ihm eingingen, in Amerika; es sind bereits Nachforschungen nach ihm angestellt, um ihn von der ihm zugefallenen Erbschaft in Kenntnis zu setzen.«
Doktor Mortimer faltete seine Zeitung zusammen und steckte sie wieder in die Tasche.
»Dies, Mr Holmes, sind die öffentlich feststehenden Tatsachen mit Bezug auf den Tod Sir Charles Baskervilles.«
»Ich muss Ihnen meinen Dank aussprechen«, sagte Sherlock Holmes, »dass Sie meine Aufmerksamkeit auf einen Fall gelenkt haben, der sicherlich manche interessante Züge darbietet. Mir waren seinerzeit bereits einige darauf bezügliche Zeitungsartikel aufgefallen, aber gerade damals beschäftigte mich ganz außerordentlich der kleine Fall mit den vatikanischen Kameen, und in meinem Eifer, dem Papst gefällig zu sein, verlor ich die Fühlung mit verschiedenen interessanten englischen Fällen. Sie sagten doch, dieser Artikel enthalte alle öffentlich feststehenden Tatsachen?«
»Ja.«
»Dann lassen Sie mich wissen, welches die geheimen Tatsachen sind.«
Damit lehnte Holmes sich zurück, faltete wieder seine Hände und nahm die unbeweglichen Gesichtszüge an, die bei ihm ein Zeichen waren, dass er seine ganze Urteilskraft anspannte. Dr. Mortimer war augenscheinlich von einer starken Erregung ergriffen; endlich sagte er:
»Ich will es tun; aber ich sage Ihnen damit etwas, was ich bisher keinem Menschen anvertraut habe. Ich habe es vor den Geschworenen der Leichenschau verschwiegen – das tat ich, weil ein Mann der Wissenschaft davor zurückscheut, den Anschein zu erwecken, als ob er einen Volksaberglauben unterstützen wolle. Ferner hatte ich den Grund, dass, wie auch die Zeitung bemerkt, Baskerville Hall ganz gewiss keine neuen Bewohner erhalten würde, wenn der ohnehin schon grausige Ruf, worin das Haus steht, noch verschlimmert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich ein Recht zu haben, nicht alles zu sagen, was ich wusste; denn irgendein Nutzen war dabei nicht zu erreichen. Aber Ihnen gegenüber habe ich keine Ursache, nicht vollständig offen zu sein.
Das Moor ist sehr dünn bevölkert; die Nachbarn sind daher sehr aufeinander angewiesen. So verkehrte ich denn auch sehr viel mit Sir Charles Baskerville. Mit Ausnahme von Mr Frankland auf Lafter Hall und einem Naturforscher Mr Stapleton gibt es auf Meilen im Umkreis keine wissenschaftlich gebildeten Männer. Sir Charles suchte die Zurückgezogenheit; aber seine Krankheit brachte uns zusammen, und da wir gemeinsame wissenschaftliche Interessen hatten, wurde unser Verkehr ein dauernder. Er hatte viele wissenschaftliche Kenntnisse aus Südafrika mitgebracht, und manchen köstlichen Abend verlebten wir zusammen in Gesprächen über die anatomischen Eigentümlichkeiten der Buschmänner und der Hottentotten.
In den letzten Monaten bestärkte sich immer mehr meine Überzeugung, dass Sir Charles’ Nerven bis zum Zerreißen angespannt waren. Er nahm es mit der Sage, die ich Ihnen vorlas, außerordentlich ernst; dies ging so weit, dass er unter keinen Umständen nachts das Moor betrat, obwohl es zu seinem eigenen Grund und Boden gehörte. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, Mr Holmes, aber er war allen Ernstes überzeugt, dass ein grausiges Verhängnis über seinem Geschlecht schwebte, und allerdings klang, was er von seinen Vorfahren zu erzählen wusste, nicht gerade ermutigend. Der Gedanke, von irgendwelchen bösen Geistern umgeben zu sein, verfolgte ihn beständig, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich nicht auf den nächtlichen Fahrten, die mein Beruf nötig machte, eine seltsame Erscheinung gesehen oder Hundegebell gehört hätte. Diese letztere Frage richtete er mehrmals an mich, und stets zitterte dabei seine Stimme vor Erregung.
Eines Abends – ich erinnere mich des Vorfalls noch sehr gut; es war ungefähr drei Wochen vor dem traurigen Ereignis – fuhr ich bei seinem Haus vor. Er stand zufällig vor seiner Tür. Ich war von meinem Wägelchen abgestiegen und stand vor ihm; plötzlich sah ich, wie seine Augen in furchtbarstem Entsetzen über meine Schulter hinwegstarrten. Ich drehte mich um und konnte gerade noch am Ende des Weges eine Gestalt bemerken, die ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so entsetzlich aufgeregt, dass ich zu der Stelle, wo das Tier gewesen war, hingehen und Umschau halten musste. Es war jedoch verschwunden. Die Erscheinung hatte augenscheinlich einen sehr schlimmen Eindruck auf ihn gemacht. Ich blieb den ganzen Abend bei ihm, und bei dieser Gelegenheit gab er mir, um mir seine Aufregung zu erklären, die geschriebene Erzählung, die ich Ihnen vorhin vorlas. Ich erwähne diesen kleinen Vorfall, weil er durch die darauffolgende Tragödie eine gewisse Bedeutung gewonnen hat; aber damals war ich überzeugt, die Erscheinung werde eine sehr hausbackene Ursache haben, und seine Aufregung sei völlig unbegründet.
Zu der Reise nach London entschloss Sir Charles sich auf mein Anraten. Ich kannte seinen gefährlichen Herzfehler; die beständige Aufregung, worin er lebte, griff offenbar in ernstlicher Weise seine Gesundheit an, mochten es auch reine Hirngespinste sein. Ich dachte, ein paar Monate unter den Zerstreuungen der Großstadt würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Stapleton, der sich ebenfalls große Sorge um Sir Charles’ Gesundheit machte, teilte meine Ansicht. Im letzten Augenblick vor der Reise trat das traurige Ereignis ein.
In der Todesnacht schickte Barrymore, der den Leichnam auffand, den Stallknecht Perkins als reitenden Boten zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch auf war, war es mir möglich, binnen einer Stunde nach Barrymores Entdeckung auf Baskerville Hall einzutreffen. Ich stellte alle bei der Untersuchung vorgebrachten Einzelheiten fest. Ich verfolgte die Fußspuren im Taxusgang, ich sah die Stelle an der Moorpforte, wo er gewartet zu haben schien, ich bemerkte die Veränderung der Fußspuren von jener Stelle an, ich stellte fest, dass auf dem weichen Boden keine anderen Spuren vorhanden waren als die von Barrymore hinterlassenen. Endlich untersuchte ich sorgfältig den Leichnam, der bis zu meiner Ankunft unberührt liegen geblieben war. Sir Charles lag mit dem Gesicht nach unten, die Finger in das Erdreich eingekrallt, und seine Züge waren von irgendeiner ungeheuren Erregung so furchtbar verzerrt, dass ich kaum darauf hätte schwören können, es sei wirklich mein Freund. Ganz bestimmt war keine körperliche Verletzung irgendwelcher Art vorhanden. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore vor der Jury gemacht. Er behauptete, es seien auf dem Boden in der Nähe der Leiche keine Spuren vorhanden gewesen. Er bemerkte allerdings keine. Aber ich sah welche – ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.«
»Fußspuren?«
»Fußspuren.«
»Von einem Mann oder von einer Frau?«
Dr. Mortimer sah uns einen Augenblick lang mit sonderbarem Ausdruck an; dann sagte er leise, fast flüsternd:
»Mr Holmes, es waren die Spuren eines riesengroßen Hundes.«
Ich gestehe, dass bei diesen Worten ein Schauder mich überrieselte; es lag ein eigenartiger Klang in des Doktors Stimme; offenbar war er selber tief ergriffen von seinen Worten. Holmes hatte sich erregt vorgebeugt; seine Augen hatten jenen trockenen Glanz, der stets aus ihnen sprühte, wenn ein Fall ihm besonders naheging.
»Sie sahen es?«
»So deutlich, wie ich Sie vor mir habe.«
»Und Sie sagten nichts?«
»Was für einen Zweck hätte das haben sollen?«
»Wie kam es, dass sonst niemand die Spuren sah?«
»Sie waren einige zwanzig Schritte vom Leichnam entfernt, und kein Mensch dachte an eine solche Möglichkeit. Ich glaube nicht, dass ich selber sie beobachtet hätte, wenn ich nicht die Sage gekannt hätte.«
»Es gibt viele Schäferhunde auf dem Moor?«
»Ganz gewiss, aber die Spuren waren nicht von einem Schäferhund.«
»Sie sagten, sie wären groß gewesen?«
»Ungeheuer.«
»Aber das Tier war nicht an den Leichnam herangekommen?«
»Nein.«
»Wie war die Nacht?«
»Feucht und rau.«
»Aber es regnete nicht?«
»Nein.«
»Wie sieht die Allee aus?«
»Sie besteht aus zwei undurchdringlichen, zwölf Fuß hohen Taxushecken. Der Weg, der die Mitte des Ganges einnimmt, ist etwa acht Fuß breit.«
»Ist etwas zwischen den Hecken und dem Weg?«
»Ja, an jeder Seite ein ungefähr sechs Fuß breiter Grasstreifen.«
»Wenn ich Sie recht verstand, ist die Taxushecke an einer Stelle von einer Pforte durchbrochen?«
»Ja, von der Lattenpforte, die auf das Moor hinausführt.«
»Ist noch eine andere Öffnung vorhanden?«
»Keine.«
»Man muss also, um in die Taxusallee zu gelangen, entweder vom Haus herkommen oder durch die Moorpforte eintreten?«
»Es gibt noch einen Zugang: durch ein Gartenhaus, das am äußersten Ende des Ganges steht.«
»War Sir Charles so weit gekommen?«
»Nein, er lag ungefähr fünfzig Schritt weit davon ab.«
»Nun sagen Sie mir, Herr Doktor – und dies ist wichtig! – waren die Spuren, die Sie sahen, auf dem Weg und nicht auf dem Gras?«
»Auf dem Gras wären Spuren überhaupt nicht zu sehen gewesen.«
»Waren sie auf der Seite des Weges, wo sich die Moorpforte befindet?«
»Ja; sie waren am Rande des Weges, auf derselben Seite wie die Lattenpforte.«
»Sie interessieren mich über alle Maßen. Noch eins: War die Lattenpforte geschlossen?«
»Geschlossen und verriegelt.«
»Wie hoch ist sie?«
»Ungefähr vier Fuß.«
»Dann konnte also, wer wollte, hinübersteigen?«
»Ja.«
»Und was für Spuren bemerkten Sie an der Pforte?«
»Keine besonderen.«
»Grundgütiger Himmel! Haben Sie denn die Stelle nicht untersucht?«
»Ja, ich untersuchte sie selbst.«
»Und Sie fanden nichts?«
»Der Boden war sehr zertreten. Sir Charles hatte offenbar fünf oder zehn Minuten lang da gestanden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil er zweimal die Asche von seiner Zigarre abgestrichen hatte.«
»Ausgezeichnet! Das ist ein Kollege nach unserem Herzen, Watson. Aber die Spuren?«
»Seine eigenen Fußspuren befanden sich überall auf dem kleinen Fleck Erde; andere konnte ich nicht entdecken.«
Sherlock Holmes schlug sich in einer Aufwallung von Ungeduld mit der Hand aufs Knie und rief:
»Wäre ich doch nur dort gewesen! Augenscheinlich liegt ein ganz besonders interessanter Fall vor, aus dem ein wissenschaftlich geschulter Sachverständiger ungeheuer viel hätte machen können. Das Stückchen Erdreich, worauf ich wie auf einem Blatt Papier so viel hätte lesen können, es ist jetzt seit langer Zeit vom Regen durchweicht und von den Holzschuhen neugieriger Bauern bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt. Oh, Dr. Mortimer, Dr. Mortimer! Dass Sie mich nicht hinzugezogen haben! Sie haben vielleicht eine große Verantwortlichkeit auf sich geladen!«
»Ich konnte Sie nicht hinzuziehen, Mr Holmes, ohne meine Entdeckung vor den Augen aller Welt zu enthüllen, und ich habe Ihnen bereits die Gründe angegeben, warum ich das nicht wünsche. Außerdem ... außerdem ...«
»Warum stocken Sie?«
»Es gibt ein Gebiet, auf welchem auch der scharfsichtigste und erfahrenste Detektiv machtlos ist.«
»Sie meinen, es handle sich um etwas Übernatürliches?«
»Das habe ich nicht so bestimmt ausgesprochen.«
»Nein, aber offenbar ist das Ihr Gedanke.«
»Seit jener tragischen Nacht, Mr Holmes, sind mehrere Vorfälle zu meiner Kenntnis gekommen, die sich schwer mit dem ordnungsmäßigen Gang der Natur zusammenreimen lassen.«
»Zum Beispiel?«
»Ehe noch das schreckliche Ereignis eintrat, hatten verschiedene Leute auf dem Moor eine Kreatur gesehen, die der Beschreibung nach dem Baskervilleschen Höllengeist entspricht; es ist ausgeschlossen, dass es sich um ein der menschlichen Wissenschaft bekanntes Tier handelt. Alle stimmen darin überein, es wäre ein riesiges Geschöpf gewesen, eine grausig gespensterhafte Erscheinung. Ich habe die Leute scharf ins Verhör genommen; einer von ihnen war ein hartköpfiger Landmann, der zweite ein Hufschmied, der dritte ein Moorbauer. Alle drei erzählten sie die gleiche Geschichte von der fürchterlichen Erscheinung, die genau so ausgesehen hätte, wie der sagenhafte Höllenhund. Ich kann Sie versichern, es herrscht eine wahre Todesangst in der Gegend, und es muss einer schon ein sehr beherzter Mann sein, um nachts über das Moor zu gehen.«
»Und Sie, ein wissenschaftlich gebildeter Mann, glauben, die Erscheinung gehöre dem Gebiet des Übernatürlichen an?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Holmes zuckte die Achseln und sagte:
»Ich habe bis jetzt meine Nachspürungen auf diese Welt beschränkt. Nach meinen bescheidenen Kräften habe ich das Böse bekämpft; aber mich an den Vater alles Bösen selber heranzuwagen, das wäre vielleicht ein zu ehrgeiziges Unterfangen ... So viel aber müssen Sie doch zugeben, dass die Fußspur etwas Wirkliches ist.«
»Der Höllenhund war auch wirklich, denn er riss einem Menschen die Kehle auf; und doch war er zugleich ein Teufelsgeschöpf.«
»Ich sehe, Sie sind ganz und gar zu den Supernaturalisten übergegangen. Nun sagen Sie mir aber mal eins, Herr Dr. Mortimer: Wenn Sie sich zu solchen Ansichten bekennen, warum sind Sie dann überhaupt zu mir gekommen, um mich um Rat zu fragen? Sie sagen mir, es sei zwecklos, nach der Ursache von Sir Charles’ Tod zu forschen, und bitten mich in demselben Atemzug, es doch zu tun.«
»Ich sagte nicht, dass ich das von Ihnen wünschte.«
»Wie kann ich Ihnen denn sonst helfen?«
»Indem Sie mir Ihren Rat geben, was ich mit Sir Henry Baskerville machen soll; er kommt«, hier sah Dr. Mortimer auf seine Uhr, »genau in eineinviertel Stunden an der Waterloo Station an.«
»Er ist der Erbe?«
»Ja. Nach Sir Charles’ Tod sahen wir uns nach dem jungen Herrn um und erfuhren, dass er sich in Kanada als Landmann niedergelassen hätte. Nach den uns zugegangenen Auskünften ist er in jeder Beziehung ein ausgezeichneter junger Mann. Ich spreche jetzt nicht als Arzt, sondern als Sir Charles’ Testamentsvollstrecker.«
»Sonst ist wohl niemand da, der auf die Erbschaft Anspruch macht?«
»Niemand. Der einzige Verwandte, den wir außer ihm noch ausfindig machen konnten, war Rodger Baskerville, der jüngste der drei Brüder, von denen der arme Sir Charles der älteste war. Der zweite Bruder, der schon in frühem Alter starb, war der Vater unseres jungen Henry. Der dritte, Rodger, war das räudige Schaf der Familie. Er war ein echter Baskerville von der tollen Sorte und zwar, so erzählte man mir, das leibhaftige Konterfei von dem Ahnenbild des alten Hugo. Als der englische Boden ihm zu heiß unter den Füßen wurde, floh er nach Mittelamerika; dort starb er im Jahr 1876 am Gelbfieber. Henry ist der Letzte der Baskervilles. In einer Stunde und fünf Minuten treffe ich ihn an der Waterloo Station. Er hat mir gedrahtet, dass er heute früh in Southampton eintreffe. Nun, Mr Holmes, was soll ich Ihrer Meinung nach mit ihm anfangen?«
»Warum soll er nicht in das Haus seiner Väter ziehen?«
»Das scheint das Natürliche zu sein, nicht wahr? Und doch, bedenken Sie, dass jedem Baskerville, der dorthin geht, ein furchtbares Schicksal beschieden ist. Ich bin überzeugt, wenn Sir Charles mit mir vor seinem Tod hätte sprechen können, er hätte mich davor gewarnt, den Letzten des alten Geschlechtes, den Erben so großen Reichtums, in dieses Haus des Todes zu bringen. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass die Wohlfahrt jenes ganzen armseligen, dürren Landstriches von seiner Anwesenheit abhängt. Alles Gute, das Sir Charles getan, wird verlorene Mühe sein, wenn Baskerville Hall keinen Bewohner hat. Ich fürchte, das natürliche Interesse, das ich selber an der Sache habe, könnte mich beeinflussen, und deshalb trage ich Ihnen den Fall vor und bitte um Ihren Rat.«
Holmes dachte eine kleine Weile nach; dann sagte er:
»In klare Worte gefasst, liegt also die Sache so: Nach Ihrer Meinung ist eine höllische Macht am Werk und macht Dartmoor zu einem unsicheren Aufenthaltsort für einen Baskerville. So denken Sie doch?«
»Jedenfalls möchte ich so weit gehen, zu sagen, dass einige Anzeichen vorhanden sind, es könnte so sein.«
»Ganz recht. Aber so viel ist doch sicher: Wenn Ihre Annahme, dass übernatürliche Kräfte im Spiel seien, richtig ist, könnten diese dem jungen Mann in London ebenso leicht Böses antun wie in Devonshire. Einen Teufel mit örtlich beschränkter Macht, die etwa nur in einem bestimmten Kirchspiel gilt, den kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Sie nehmen die Sache etwas scherzhaft, Mr Holmes; Sie würden das wohl nicht tun, wenn Sie mit diesen Dingen in persönliche Berührung kämen. Wenn ich Sie recht verstand, sprachen Sie also Ihre Meinung dahin aus, der junge Mann werde in Devonshire ebenso sicher sein wie in London. In fünfzig Minuten kommt er. Was würden Sie mir empfehlen?«
»Ich empfehle Ihnen, werter Herr, eine Droschke zu nehmen, Ihren Hund abzurufen, der an meiner Haustür kratzt, und an die Waterloo Station zu fahren, um Sir Henry Baskerville abzuholen.«
»Und dann?«
»Und dann werden Sie ihm durchaus nichts sagen, bis ich mir über die Sache klar geworden bin.«
»Wie lange brauchen Sie, um sich darüber klar zu werden?«
»Vierundzwanzig Stunden. Morgen früh um zehn, Herr Doktor Mortimer, werde ich Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mich hier aufsuchen wollen, und es wird mir in meinen Plänen eine wesentliche Hilfe sein, wenn Sie Sir Henry Baskerville mitbringen.«
»So werde ich’s machen, Mr Holmes.« Er kritzelte die Verabredung auf seine Handstulpe und rannte in seiner sonderbaren, zerstreuten Art aus der Tür. Oben an der Treppe rief Holmes ihn aber zurück.
»Nur noch eine Frage, Herr Doktor. Sie sagen, vor Sir Charles Baskervilles Tod hätten mehrere Leute das Gespenst auf dem Moor gesehen?«
»Ja, drei.«
»Sah jemand es nachher?«
»Ich habe durchaus nichts davon gehört.«
»Danke. Guten Morgen.«
Holmes setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Sein ruhiger Blick voll innerer Befriedigung zeigte an, dass er eine seiner würdige Aufgabe vor sich sah.
»Gehen Sie aus, Watson?«
»Ja, das heißt, wenn ich Ihnen helfen kann ...«
»Nein, mein lieber Junge; erst wenn es zu handeln gilt, wende ich mich an Sie um Hilfe. Na, dieser Fall ist prachtvoll, in mancher Hinsicht geradezu einzig. Wenn Sie bei Bradleys Laden vorbeikommen, wollen Sie ihm bitte sagen, er möchte mir ein Pfund von seinem stärksten Schnitttabak zuschicken? Danke. Es wäre recht gut, wenn Sie’s so einrichten könnten, dass Sie nicht vor Abend zurückkommen. Dann würde es mir viel Vergnügen machen, unsere Ansichten über das höchst interessante Problem von heute früh zu vergleichen.«
Ich wusste, Abgeschlossenheit und Einsamkeit waren meinem Freund sehr notwendig in jenen Stunden schärfster Denkarbeit, in denen er jedes Beweisteilchen nach seinem Wert maß, verschiedene Theorien gegeneinander abwog und sich schlüssig darüber machte, welche wesentlich und welche unbedeutend waren. Ich verbrachte daher den Tag in meinem Klub und kam erst abends zur Baker Street zurück. Es war fast neun Uhr, als ich wieder unser Wohnzimmer betrat.
Als ich die Tür öffnete, war mein erster Gedanke, es sei Feuer ausgebrochen, denn das Zimmer war so voll Qualm, dass kaum das Licht der auf dem Tisch stehenden Lampe hindurchschien. Als ich jedoch im Zimmer war, erkannte ich, dass ich mich geirrt hatte; es war nur der beizende Rauch starken Tabaks, der mir die Kehle zuschnürte, sodass ich husten musste. Durch den Dunst hindurch sah ich in undeutlichen Umrissen die Gestalt von Sherlock Holmes, der mit seiner schwarzen Tonpfeife zwischen den Lippen, mit seinem Schlafrock bekleidet, sich’s in einem Lehnstuhl bequem gemacht hatte. Mehrere Papierrollen lagen um ihn herum.
»Haben Sie sich erkältet, Watson?«, fragte er.
»Nein, ’s ist nur diese vergiftete Luft.«
»Hm, nun da Sie davon sprechen, glaube ich selber, sie ist wirklich ziemlich dick.«
»Dick?! ... Sie ist unerträglich!«
»Dann machen Sie doch das Fenster auf! Sie sind, wie ich bemerke, den ganzen Tag in Ihrem Klub gewesen?«
»Bester Holmes!«
»Habe ich recht?«
»Gewiss, aber wie ...?«
Er lachte über mein verblüfftes Gesicht.
»Sie haben so eine entzückende Unschuld an sich, Watson. Es ist ein wahres Vergnügen für mich, meine schwachen Fähigkeiten ein bisschen an Ihnen zu üben. Ein Herr geht an einem trüben, regnerischen Tag aus. Am Abend, als er zurückkommt, sieht er aus wie aus dem Ei gepellt; Hut und Stiefel sind noch tadellos glänzend. Also ist er den ganzen Tag an einem Ort gewesen. Intime Freunde hat er nicht. Wo kann er also gewesen sein? Ist es nicht selbstverständlich?«
»Allerdings, ziemlich selbstverständlich.«
»Die Welt ist voll von selbstverständlichen Dingen, auf die kein Mensch je achtet. Wo, glauben Sie, bin ich gewesen?«
»Ebenfalls den ganzen Tag zu Hause.«
»Im Gegenteil, ich war in Devonshire.«
»Im Geist?«
»Ganz recht. Mein Leib ist in diesem Lehnstuhl geblieben und hat, wie ich mit Bedauern bemerke, in meiner Abwesenheit zwei große Kannen Kaffee und eine unglaubliche Menge Tabak vertilgt. Als Sie weg waren, ließ ich mir von Stamford die Generalstabskarte von diesem Teil des Moores besorgen, und mein Geist hat den ganzen Tag über jenem Erdenfleck geschwebt. Ich schmeichle mir, ich könnte dort jetzt meinen Weg allein finden.«
»Die Karte ist wohl in großem Maßstab gehalten?«
»In sehr großem!« Er rollte eins von den Blättern auf und breitete es auf seinem Knie aus. »Hier haben Sie die Gegend, um die es sich für uns handelt. Da in der Mitte ist Baskerville Hall.«
»Das mit dem Wald rund herum?«
»Ganz recht. Ich nehme an, dass der Taxusgang, obwohl er nicht unter diesem Namen auf der Karte eingetragen ist, sich in dieser Richtung entlang erstreckt; wie Sie sehen, ist rechts davon das Moor. Dieser kleine Häuserklumpen ist das Dörfchen Grimpen, wo unser Freund Dr. Mortimer sein Hauptquartier hat. In einem Kreis mit einem Radius von fünf Meilen sind, wie Sie sehen, nur ein paar ganz weit verstreute Gebäude vorhanden. Hier ist Laster Hall, wovon in der Geschichte die Rede war. Da ist ein Haus eingezeichnet, das vielleicht der Wohnsitz des Naturforschers ist – Stapleton ist sein Name, wenn ich mich recht erinnere. Dann hier zwei Moorbauernhäuser, High Tor und Foulmir. Dann in einer Entfernung von vierzehn Meilen das große Zuchthaus von Princetown. Zwischen diesen weit verstreuten Punkten und rund um sie herum erstreckt sich das trostlose, unbelebte Moor. Dies also ist der Schauplatz, auf welchem die Tragödie sich abgespielt hat und vielleicht mit unserer Hilfe sich weiter entwickeln wird.«
»Es muss eine schaurige Gegend sein.«
»Ja, sie passt zu einem großen Verbrechen. Wenn je der Teufel den Wunsch hätte, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen ...«
»Sie neigen also selber zu einer übernatürlichen Erklärung?«
»Des Teufels Werkzeuge können wohl von Fleisch und Blut sein, nicht wahr? Wir müssen von zwei Fragen ausgehen: Erstens, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden ist; zweitens, worin bestand das Verbrechen, und wie wurde es vollbracht? Natürlich, wenn Dr. Mortimers Vermutung richtig ist, wenn wir es mit Mächten zu tun haben, die außerhalb der gewöhnlichen Naturgesetze stehen, hat unser Suchen ein Ende. Aber wir haben die Pflicht, alle anderen Hypothesen bis zu Ende zu verfolgen, ehe wir diese eine gelten lassen. Wenn’s Ihnen recht ist, können wir wohl das Fenster wieder schließen. Es ist sonderbar genug, aber ich finde, eine konzentrierte Atmosphäre hilft mit zum Konzentrieren der Gedanken. Ich bin noch nicht so weit, dass ich zum Zweck des Nachdenkens in eine Kiste krieche, aber das wäre allerdings die logische Verwirklichung meiner Überzeugungen ... Haben Sie sich mal den Fall durch den Kopf gehen lassen?«
»Ja, ich habe den Tag über viel daran gedacht. Der Fall ist sehr dazu angetan, einem die Gedanken zu verwirren.«
»Ja, er ist von ganz eigener Art. Er bietet etliche außerordentliche Punkte: die Veränderung der Fußspuren zum Beispiel. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?«
»Mortimer sagte, der Mann sei in jenem Teil der Allee auf den Fußspitzen gegangen.«
»Er sprach nur nach, was ein Dummkopf bei der Untersuchung gesagt hatte. Warum sollte ein Mann auf den Fußspitzen die Allee hinuntergehen?«
»Was war’s also?«
»Er rannte, Watson – rannte voll Verzweiflung, rannte in Todesangst, rannte, bis ihn der Herzschlag traf und er tot auf sein Antlitz fiel.«
»Er rannte – vor was denn?«
»Da liegt unser Problem. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass er vor Angst die Besinnung verloren hatte, schon ehe er zu laufen anfing.«
»Wie können Sie das sagen?«
»Ich setze voraus, dass die Ursache seines Schreckens über das Moor auf ihn zukam. Wenn dies der Fall war – und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür –, so konnte nur ein Mann, der die Besinnung verloren hatte, vom Haus weglaufen, anstatt darauf zu. Wenn man die Aussage des Zigeuners als wahr annehmen darf, rannte er, nach Hilfe schreiend, gerade in diejenige Richtung, wo Hilfe am allerwenigsten zu erwarten war. Und weiter, auf wen wartete er in jener Nacht, und warum wartete er auf ihn in der Taxusallee anstatt in seinem Haus?«
»Sie glauben, er wartete auf jemand?«
»Der Mann war ältlich und kränklich. Es lässt sich wohl begreifen, dass er abends einen Spaziergang zu machen pflegte, aber der Boden war nass und die Nacht rau. Ist es natürlich, dass er fünf oder zehn Minuten lang auf derselben Stelle stand, wie Doktor Mortimer mit mehr Beobachtungsgabe, als ich ihm zugetraut hätte, aus der Zigarrenasche folgerte?«
»Aber er ging doch jeden Abend aus.«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er jeden Abend an der Moorpforte gewartet haben sollte. Im Gegenteil, die Zeugen haben bekundet, dass er das Moor vermied. An jenem Abend wartete er. Es war der Abend vor seiner Abreise nach London. Das Ding nimmt Gestalt an, Watson. Es kommt Zusammenhang hinein. Darf ich Sie bitten, mir meine Geige herüberzureichen? Wir wollen alles weitere Nachdenken über die Angelegenheit bis morgen früh verschieben; dann werden ja Doktor Mortimer und Sir Henry Baskerville uns mit ihrem Besuch zu Hilfe kommen.«
Unser Frühstückstisch war schon zeitig abgeräumt, und Holmes wartete in seinem Schlafrock auf den angekündigten Besuch. Seine Klienten waren pünktlich, denn die Uhr hatte gerade zwölf geschlagen, als Doktor Mortimer mit dem jungen Baronet eintrat. Dieser war ein kleiner, lebhafter, dunkelhaariger Mann von ungefähr dreißig Jahren, sehr stämmig gewachsen, mit buschigen schwarzen Augenbrauen und einem scharfgeschnittenen Gesicht, aus dem Kampflust sprach. Er trug einen graurötlichen Sommeranzug und hatte die wetterbraune Gesichtsfarbe eines Mannes, der sich fast immer im Freien aufgehalten hat; trotzdem lag in seinem festen Blick und in der ruhigen Sicherheit seines Auftretens ein gewisses Etwas, was den Gentleman verriet.
»Dies ist Sir Henry Baskerville«, sagte Dr. Mortimer.
»Ja, da bin ich, Mr Holmes, und das Seltsame dabei ist, dass ich aus eigenem Antrieb Sie aufgesucht haben würde, wenn mein Freund hier mir nicht den Vorschlag gemacht hätte. Ich höre, Sie sind ein berühmter Rätselrater, und mir ist heute Morgen eins aufgegeben worden, zu dessen Lösung ich nicht die Gabe besitze.«
»Bitte nehmen Sie Platz, Sir Henry. Wenn ich Sie recht verstehe, sagen Sie, Sie haben seit Ihrer Ankunft in London ein seltsames Erlebnis gehabt?«
»Nichts von großer Bedeutung, Mr Holmes. Höchstwahrscheinlich nur ein schlechter Spaß. Es handelt sich um diesen Brief – wenn Sie es überhaupt einen Brief nennen wollen; ich bekam ihn heute früh.«
Er legte einen Briefumschlag auf den Tisch, und wir traten alle heran, um ihn uns näher anzusehen. Es war ein Umschlag von geringer Güte und von grauweißer Farbe. Die Adresse ›Sir Henry Baskerville. Northumberland-Hotel‹ war von einer ungelenken Hand geschrieben; der Poststempel lautete ›Charing Cross‹, und die Marke war am Abend vorher abgestempelt.
»Wer wusste, dass Sie ins Northumberland-Hotel gehen wollten?«, fragte Holmes mit einem scharfen Blick auf unseren Besucher.
»Kein Mensch kann das gewusst haben. Wir entschieden uns für dies Hotel erst, nachdem ich Doktor Mortimer getroffen hatte.«
»Aber Doktor Mortimer wohnte ohne Zweifel bereits dort?«
»Nein, ich hatte bei einem Bekannten logiert«, sagte der Doktor. »Nichts konnte einen Menschen auf die Vermutung bringen, dass wir in dieses Hotel zu gehen beabsichtigten.«
»Hm, irgendjemand scheint ein sehr tiefes Interesse an Ihren Handlungen zu nehmen.«
Aus dem Umschlag zog Holmes einen doppelt zusammengelegten halben Bogen Konzeptpapier hervor. Er faltete ihn auseinander und legte ihn flach auf den Tisch. In der Mitte des Blattes stand ein einziger Satz, der durch aufgeklebte gedruckte Wörter gebildet war. Er lautete: »Wenn Sie Wert auf Ihr Leben oder Ihren Verstand legen, bleiben Sie dem Moor fern.«
Nur das Wort »Moor« war mit Tinte geschrieben.
»Nun«, sagte Sir Henry Baskerville, »vielleicht können Sie mir sagen, was zum Kuckuck das bedeutet, und wer der Mensch ist, der sich so eifrig um meine Angelegenheiten bekümmert?«
»Was halten Sie davon, Dr. Mortimer? Sie müssen zugeben, dass es bei diesem Brief sich jedenfalls nicht um etwas Übernatürliches handelt.«
»Nein, das nicht, aber er könnte sehr wohl von jemand herrühren, der davon überzeugt ist, dass die Geschichte übernatürlich ist.«
»Was für ’ne Geschichte?«, fragte Sir Henry in scharfem Ton. »Mir scheint, meine Herren, Sie alle wissen viel mehr von meinen Angelegenheiten als ich selber.«
»Sie sollen in unser Wissen eingeweiht sein, bevor Sie aus diesem Zimmer gehen, Sir Henry«, sagte Holmes. »Das verspreche ich Ihnen. Für den Augenblick wollen wir, mit Ihrer Erlaubnis, unsere Aufmerksamkeit auf dieses sehr interessante Dokument begrenzen. Es muss gestern Abend verfasst und auf die Post gegeben sein. Haben Sie die ›Times‹ von gestern, Watson?«
»Sie liegt da in der Ecke!«
»Darf ich Sie darum bitten – das innere Blatt, wenn Sie so gut sein wollen, mit den Leitartikeln!« Er überflog mit schnellem Blick die Spalten. »Ein famoser Artikel über Freihandel! Erlauben Sie mir, Ihnen einiges daraus vorzulesen:
›Wenn manche Leute sich auch mit der Einbildung schmeicheln, der Wert unseres Handels und unserer Industrie werde durch einen Schutzzoll erhöht, bleiben doch derartige Maßregeln dem Gemeinwesen stets gefährlich. Es handelt sich geradezu um unser wirtschaftliches Leben oder Sterben, und wir hoffen, unseres Volkes gesunder Verstand sieht es ein, dass eine solche Wirtschaftspolitik auf die Dauer sogar in den englischen Wohlstand Bresche legen müsste.‹
»Was meinen Sie dazu, Watson?«, rief Holmes, in hellem Entzücken sich die Hände reibend. »Halten Sie die darin ausgesprochene Ansicht nicht für bewunderungswürdig?«
Dr. Mortimer sah Holmes mit einem ärztlich prüfenden Blick an, und Sir Henry Baskerville richtete ganz verblüfft seine dunklen Augen auf mich und sagte:
»Ich verstehe nicht viel vom Zolltarif und solchem Zeug; aber mir scheint, wir sind in Bezug auf meinen Brief ein bisschen von der Spur abgekommen.«
»Im Gegenteil, ich bin der Meinung, wir sind ganz besonders scharf auf der Spur. Watson hier weiß besser mit meinen Methoden Bescheid als Sie; aber ich fürchte, auch er hat die Bedeutung des Zeitungsartikels nicht ganz begriffen.«
»Nein, ich gestehe, dass ich keinen Zusammenhang entdecken kann.«
»Und doch, mein lieber Watson, ist eine sehr nahe Beziehung vorhanden, denn der Brief ist aus dem Zeitungsartikel herausgeschnitten: ›wenn – Wert – so bleiben – dem – Leben oder – Verstand – auf – legen.‹ Sehen Sie jetzt nicht, woher diese Worte stammen?«
»Donnerwetter, Sie haben recht! Na, das nenne ich aber Fixigkeit!«, rief Sir Henry.
»Wenn überhaupt noch ein Zweifel bestände, würde er durch die Tatsache behoben, dass ›so bleiben‹ und ›Leben oder‹ in einem Stück ausgeschnitten sind.«
»Wahrhaftig, ja, so ist es.«
»Wirklich, Mr Holmes, das geht weit über mein Begriffsvermögen hinaus«, sagte Dr. Mortimer mit einem erstaunten Blick auf meinen Freund. »Ich könnte verstehen, wenn mir jemand sagte, die Wörter seien aus einer Zeitung; aber dass Sie den Namen dieser Zeitung nannten und hinzufügten, die Stelle befände sich im Leitartikel, das ist sicherlich eins der merkwürdigsten Dinge, die mir je begegnet sind. Wie haben Sie das angefangen?«
»Ich vermute, Herr Doktor, Sie könnten auf den ersten Blick den Schädel eines Negers von dem eines Eskimos unterscheiden?«
»Natürlich!«
»Aber wie kommt das?«
»Weil das mein besonderes Steckenpferd ist! Die Unterschiede sind augenfällig. Die Erhöhung über den Augenhöhlungen, der Gesichtswinkel, die Krümmung der Kinnbacken, der ...«
»Nun, dies hier ist mein besonderes Steckenpferd, und die Unterschiede sind ebenfalls augenfällig. Für meine Augen ist zwischen der durchschossenen Borgis eines Leitartikels der ›Times‹ und der unsauberen Schrift eines Halfpenny-Abendblattes ebenso viel Unterschied wie für Sie zwischen einem Neger- und einem Eskimoschädel. Die Unterscheidung der verschiedenen Drucktypen gehört zu den Anfangsgründen für einen wissenschaftlich denkenden Sachverständigen; ich muss jedoch zugeben, dass ich in meiner ganz frühen Jugend einmal den ›Leeds Mercury‹ mit den ›Western Morning News‹ verwechselt habe. Aber ein ›Times‹-Leitartikel ist gar nicht zu verkennen; diese Wörter konnten keiner anderen Zeitung entnommen sein. Da der Brief gestern angefertigt war, sprach eine starke Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir die Wörter in der gestrigen Nummer finden würden.«
»So weit ich Ihnen folgen kann, Mr Holmes«, bemerkte Sir Henry Baskerville, »hat jemand diese Wörter mit einer Schere ...«
»Mit einer Nagelschere ausgeschnitten, ja. Wie Sie sehen können, war es eine Schere mit sehr kurzer Klinge, denn es war für die Wörter: ›so bleiben‹ ein zweimaliges Zuschneiden nötig.«
»Richtig. Es schnitt also jemand den Text des Briefes mit einer kurzklingigen Schere aus, klebte ihn mit Kleister ...«
»Mit Gummi!«, sagte Holmes.
»Mit Gummi auf das Papier. Aber ich möchte wissen, warum dann das Wort ›Moor‹ geschrieben ist?«
»Weil er das Wort nicht gedruckt finden konnte. Die anderen Wörter sind alle einfach und würden sich in jeder Zeitungsnummer finden lassen, aber das Wort ›Moor‹ ist weniger gewöhnlich.«
»Das ist allerdings eine gute Erklärung. Haben Sie sonst etwas aus dem Brief herausgelesen, Mr Holmes?«
»Es sind ein paar Andeutungen darin, obgleich der Absender sich die allergrößte Mühe gegeben hat, alle verräterischen Spuren zu verwischen. Die Adresse ist, wie Sie sehen, mit unbeholfen geformten Buchstaben geschrieben. Aber die ›Times‹ ist ein Blatt, das man kaum je in anderen Händen als in denen sehr gebildeter Leute findet. Wir können daher annehmen, dass der Brief von einem gebildeten Mann verfertigt wurde, der den Anschein erwecken wollte, als gehöre der Absender den ungebildeten Klassen an, und dieses Bemühen, die Handschrift zu verstellen, legt den Schluss nahe, der Schreiber sei Ihnen bekannt oder könnte von Ihnen erkannt werden. Ferner werden Sie bemerken, dass die Wörter nicht in einer geraden Linie aneinander geklebt sind, sondern dass einige von ihnen viel höher stehen als andere. ›Leben oder‹ zum Beispiel steht ganz außerhalb der Reihe. Das kann entweder auf Unachtsamkeit des Ausschneidenden hindeuten, oder es mag davon gekommen sein, dass dieser aufgeregt und in Eile war. Im Großen und Ganzen neige ich mich der letzteren Annahme zu, denn die Anfertigung eines solchen Briefes war offenbar eine wichtige Sache, und es ist unwahrscheinlich, dass der Verfertiger dabei unachtsam gewesen sein soll. War er aber in Eile, leitet dieser Umstand zu der interessanten Frage, warum er in Eile war; denn jeder Brief, der bis zu den frühen Morgenstunden auf die Post gegeben wurde, musste in Sir Henrys Hände kommen, bevor er das Hotel verließ. Fürchtete der Verfertiger eine Unterbrechung – und von wem?«
»Wir kommen jetzt ziemlich weit in das Gebiet der Mutmaßungen hinein!«, sagte Dr. Mortimer.
»Sagen Sie lieber: in das Gebiet, wo wir die verschiedenen Möglichkeiten gegen einander abwägen und uns für die wahrscheinlichste entscheiden. Wir machen eine wissenschaftliche Anwendung von unserer Einbildungskraft; indessen haben wir in diesem Fall immerhin eine tatsächliche Grundlage für unsere Spekulationen. Sie werden freilich ohne Zweifel denken, ich verlege mich aufs Raten, aber ich bin fast ganz sicher, dass diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«
»Wie in aller Welt können Sie das sagen?«
»Wenn Sie den Umschlag sorgfältig prüfen, werden Sie bemerken, dass dem Schreiber die Tinte sowohl wie die Feder Schwierigkeiten gemacht haben. Die Feder hat zweimal in einem einzigen Wort gespritzt, und die Tinte ist beim Schreiben der kurzen Adresse nicht weniger als dreimal ausgegangen, ein Beweis, dass sehr wenig im Tintenfass gewesen sein muss. In einem Privathaus lässt man es selten dahin kommen, dass Feder oder Tintengeschirr sich in solchem Zustand befindet, und dass gar beide zusammen so vorgefunden werden, kommt gewiss kaum jemals vor. Dagegen kennen Sie wohl die Tinte und Federn, die man in Gasthöfen findet; diese sind fast immer abscheulich. Ja, ich sage ohne jedes Bedenken: Könnten wir die Papierkörbe der Gasthöfe in der Nähe von Charing Cross durchsuchen, bis wir die Überreste des zerschnittenen ›Times‹-Artikels fänden, könnten wir die Hand auf die Person legen, die diesen eigenartigen Brief abgeschickt hat ... Hallo, hallo, was ist das?«
Er prüfte den Bogen mit den aufgeklebten Wörtern noch einmal sorgfältig, indem er ihn ganz nahe vor die Augen hielt.
»Nun?«
»Nichts!«, sagte er, das Blatt hinlegend. »Es ist ein gewöhnlicher unbeschriebener halber Bogen; nicht einmal ein Wasserzeichen ist darin. Ich denke, wir haben aus dem sonderbaren Brief so viele Anhaltspunkte gewonnen, wie überhaupt möglich ist ... Und nun, Sir Henry, noch eine Frage: Ist Ihnen sonst irgendetwas Erwähnenswertes begegnet, seitdem Sie in London sind?«
»Nein, wirklich nicht, Mr Holmes. Ich glaube nicht.«
»Sie haben niemand bemerkt, der Sie beobachtet hätte oder Ihnen nachgegangen wäre?«
»Ich scheine ja richtig mitten in einen Hintertreppenroman hineingeraten zu sein«, bemerkte unser Besucher. »Warum, zum Kuckuck, sollte irgendjemand mir nachgehen oder mich beobachten?«
»Auf diesen Punkt kommen wir noch. Sie haben also nichts anderes zu berichten, bevor wir uns mit der Sache selbst beschäftigen?«
»Hm, es kommt darauf an, was nach Ihrer Meinung des Berichtens wert ist.«
»Alles was von dem gewöhnlichen Gang des Alltagslebens abweicht, sollte nach meiner Ansicht erwähnt werden.«
Sir Henry lächelte und sagte:
»Ich kenne bis jetzt noch nicht viel von dem Leben in England, denn ich bin seit meiner frühesten Jugend in den Vereinigten Staaten und in Kanada gewesen. Aber hoffentlich wird es hier nicht als alltäglich angesehen, wenn man einen von seinen Stiefeln verliert.«
»Sie haben einen von Ihren Stiefeln verloren?«
»Mein lieber Herr!«, rief Dr. Mortimer. »Er ist bloß verlegt! Sie werden ihn vorfinden, wenn Sie wieder ins Hotel kommen. Was hat es für einen Zweck, Mr Holmes mit solchen Lappalien zu behelligen?«
»Er wollte ja alles erfahren, was von dem gewöhnlichen Gang des Alltagslebens abwiche!«
»Ganz recht!«, sagte Holmes. »Mag der Vorfall auch noch so albern erscheinen. Also Sie sagen, Sie haben einen von Ihren Stiefeln verloren?«
»Oder ihn verlegt, meinetwegen. Ich stellte sie gestern Abend beide vor meine Tür, und heute Morgen war bloß noch einer da. Aus dem Jungen, der sie zu putzen hatte, war kein gescheites Wort herauszubringen. Am meisten ärgert mich dabei, dass ich die Stiefel erst gestern Abend am Strand gekauft und noch gar nicht mal getragen hatte.«
»Wenn Sie dieselben noch gar nicht angehabt hatten, warum stellten Sie sie dann zum Reinigen vor die Tür?«
»Es waren braune Schuhe, und sie waren noch nicht gefirnisst. Darum stellte ich sie hinaus.«
»Sie gingen also gestern sofort nach Ihrem Eintreffen in London aus und kauften ein Paar Schuhe?«
»Ich machte überhaupt eine ziemliche Menge Einkäufe. Dr. Mortimer begleitete mich dabei. Wissen Sie, da ich mal da hinten in Dingsda den Großgrundbesitzer spielen soll, muss ich mich wohl ein bisschen fein machen, und ich bin vielleicht da im fernen Westen etwas nachlässig in meinem Anzug geworden. Außer anderen Sachen kaufte ich die braunen Schuhe – gab sechs Dollar dafür – und einer davon wird mir gestohlen, ehe ich sie überhaupt nur an den Füßen gehabt habe.«
»Ein einzelner Schuh ist doch ein recht ungeeigneter Gegenstand für einen Dieb«, sagte Sherlock Holmes. »Ich gestehe, ich teile Dr. Mortimers Ansicht und glaube, dass binnen kurzem der verlorene Schuh sich wieder einfinden wird.«
»Und nun, meine Herren«, sagte der Baronet in bestimmtem Ton, »habe ich, wie mir scheint, von dem bisschen, was ich weiß, genug gesprochen. Es ist Zeit, dass Sie Ihr Versprechen erfüllen und mir eine ausführliche Auskunft über all diese rätselhaften Vorgänge geben.«
»Ihr Wunsch ist sehr berechtigt«, antwortete Holmes. »Herr Doktor, ich glaube, Sie könnten nichts Besseres tun, als Ihrem Freund die Geschichte in derselben Weise zu erzählen, wie Sie sie uns vortrugen.«
Auf diese Aufforderung hin zog der gelehrte Herr seine Papiere aus der Tasche und erläuterte auf Grund derselben den ganzen Fall in gleicher Art wie am Morgen vorher. Sir Henry Baskerville hörte mit gespanntester Aufmerksamkeit zu und ließ von Zeit zu Zeit einen Ausruf der Überraschung hören.
»Nun, da scheine ich ja mit dem übrigen Besitz zugleich auch eine Geisterrache geerbt zu haben«, sagte er, als der Doktor mit seiner langen Erzählung fertig war. »Natürlich habe ich von dem Höllenhund schon in der Kinderstube fortwährend erzählen hören. Es ist das Lieblingsmärchen unserer Familie; indessen hab ich es früher niemals ernst genommen. Aber die Geschichte von meines Onkels Tod – wissen Sie, mir wirbelt in meinem Kopf alles durcheinander; ich kann mir noch keine klare Meinung darüber bilden. Sie scheinen sich selber auch noch nicht ganz klar darüber zu sein, ob es ein Fall für die Polizei oder für die Geistlichkeit ist.«
»Ganz recht.«
»Nun kommt dazu noch die Geschichte mit dem Brief, den ich im Hotel erhielt. Ich vermute, er hängt damit zusammen.«
»Es scheint daraus hervorzugehen, dass irgendjemand besser als wir um die Vorgänge auf dem Moor Bescheid weiß«, sagte Dr. Mortimer.
»Und ferner«, bemerkte Holmes, »dass dieser Jemand Ihnen nicht feindlich gesonnen ist, da man Sie vor Gefahr warnt.«
»Vielleicht ist es aber auch möglich, dass sie mich zu ihrem eigenen Vorteil von der Gegend fernzuhalten suchen.«
»Das kann natürlich auch sein. Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Herr Doktor, dass Sie mich vor ein Problem stellen, welches verschiedene interessante Lösungen zulässt. Aber nun haben wir uns zunächst über einen wichtigen Punkt schlüssig zu machen, Sir Henry: Ist es für Sie ratsam oder nicht, dass Sie nach Baskerville Hall gehen?«