Bis zu diesem Punkt meiner Erzählung brauchte ich nur die Berichte abzuschreiben, die ich zu Anfang meines Aufenthaltes auf Baskerville Hall an Sherlock Holmes sandte. Jetzt bin ich jedoch an einer Wendung angelangt, wo diese Methode sich nicht mehr anwenden lässt; ich muss von nun an wieder aus meinen Erinnerungen schöpfen, habe dabei aber als Unterlage die Aufzeichnungen, die ich damals in mein Tagebuch eintrug. Ich gebe zunächst einige Auszüge daraus und komme dann sofort zu jenen Ereignissen, die sich in unauslöschlichen Zügen meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Ich beginne mit dem Morgen, der auf unsere ergebnislose Jagd nach dem Sträfling und auf die anderen seltsamen Erscheinungen in der Mooreinsamkeit folgte.
Den 16. Oktober. Ein trüber, nebeliger Tag mit unaufhörlichem feinen Sprühregen. Das Haus ist in schwere Wolken gehüllt, die sich von Zeit zu Zeit lichten und dann einen Blick auf die öden Wellenlinien der Moorlandschaft eröffnen; auf den Flanken der Hügel sieht man dünne, silberweiße Adern, und die Granitblöcke leuchten in der Ferne auf, wenn ein Lichtschein auf ihr nasses Gestein fällt. Melancholische Stimmung draußen und drinnen. Der Baronet ist nach den Aufregungen der letzten Nacht abgespannt und in düsterer Laune. Mir selber ist das Herz schwer, und ich habe das Gefühl, dass eine Gefahr droht – eine immer gegenwärtige Gefahr, die umso furchtbarer ist, da ich nicht angeben kann, worin sie besteht.
Und habe ich nicht Ursache zu solchen Befürchtungen? Wir blicken jetzt auf eine lange Reihenfolge einzelner Ereignisse zurück, die alle ohne Ausnahme darauf schließen lassen, dass irgendeine unheimliche Macht in unserer Nähe am Werk ist. Da ist zunächst der Tod des vorigen Schlossherrn, ein Ereignis, das so genau mit den Überlieferungen der alten Familiensage übereinstimmt. Dann haben wir die Berichte zahlreicher Landleute, die alle eine grausige Kreatur auf dem Moor gesehen haben. Zweimal hörte ich mit meinen eigenen Ohren jenen Laut, der dem fernen Gebell eines großen Hundes gleicht. Es ist unglaublich, ja unmöglich, dass dieser Laut wirklich dem Gebiet des Übernatürlichen angehört. Einen Gespensterhund, der körperliche Fußspuren zurücklässt und die Luft mit seinem Geheul erfüllt, den gibt es nicht, ganz gewiss nicht! Mag Stapleton sich solchem Aberglauben hingeben und Doktor Mortimer sich ihm anschließen – aber wenn ich überhaupt irgendeine hervorstechende Eigenschaft habe, ist es nüchterner, gesunder Menschenverstand, und nichts wird mich dahin bringen, an so etwas zu glauben! Damit würde ich ja zu dem Niveau der armen Bauersleute herabsteigen, die nicht einmal mit einem gewöhnlichen Geisterhund zufrieden sind, sondern ihn als ein Tier beschreiben, dem höllisches Feuer aus Maul und Augen sprüht. Von solchen Fantastereien würde Holmes nichts wissen wollen, und ich bin hier als sein Vertreter. Aber Tatsachen sind und bleiben Tatsachen, und ich habe zweimal sein Geheul auf dem Moor gehört. Nehmen wir an, es triebe sich wirklich irgendein riesiger Hund auf dem Moor herum – damit ließe sich ja alles erklären. Aber wo könnte ein solcher Hund verborgen liegen, wo bekäme er zu fressen, woher wäre er gekommen, und wie ginge es zu, dass kein Mensch ihn je bei Tag gesehen hat? Ich muss zugeben, dass die natürliche Erklärung fast ebenso viele Schwierigkeiten darbietet wie die andere. Und ganz abgesehen vom Hund – es bleibt die Tatsache bestehen, dass in London irgendeine menschliche Tatkraft im Spiel war; wir hatten den Mann in der Droschke und den Warnungsbrief, der Sir Henry aufforderte, dem Moor fernzubleiben. Dieser Brief zum mindesten existierte tatsächlich, aber er konnte ebenso wohl von einem beschützenden Freund wie von einem Feind ausgehen. Wo war jetzt in diesem Augenblick dieser Freund oder Feind? War er in London geblieben oder war er uns hierher gefolgt? Konnte er – konnte er der Fremde sein, den ich auf dem Moor gesehen hatte?
Allerdings habe ich nur jenen einzigen flüchtigen Blick auf ihn geworfen – und doch, es sind bei diesem Erlebnis verschiedene Umstände vorhanden, deren ich so sicher bin, dass ich darauf schwören kann. Der Fremde gehört nicht zu den Leuten, mit denen ich hier bekannt geworden bin – und ich habe jetzt sämtliche Leute der ganzen Gegend gesehen. Er war der Gestalt nach viel größer als Stapleton, viel schlanker als Frankland. Barrymore hätte es möglicherweise sein können, aber diesen hatten wir im Haus zurückgelassen, und ich bin sicher, dass er uns nicht unbemerkt hätte folgen können. Also verfolgt uns hier ein Fremder auf Schritt und Tritt, gerade wie ein Fremder uns in London ausspionierte. Wir sind ihn die ganze Zeit über nicht losgeworden! Könnte ich meine Hand auf diesen Mann legen, wären wir vielleicht am Ende aller unserer Schwierigkeiten. Zur Erreichung dieses Ziels muss ich jetzt alle meine Kräfte anspannen!
Mein erster Gedanke war, Sir Henry von allen meinen Plänen in Kenntnis zu setzen; ein zweiter und klügerer Gedanke jedoch brachte mich zum Entschluss, auf eigene Faust zu handeln und so wenig wie möglich von meinen Gedanken verlauten zu lassen. Sir Henry ist schweigsam und zerstreut. Seine Nerven haben einen seltsamen Stoß erlitten, seitdem er jenes Geheul auf dem Moor hörte. Ich will nichts sagen, was seine Beängstigungen womöglich noch vermehren könnte, aber ich will meine Vorkehrungen treffen, um meinen Zweck zu erreichen.
Heute Morgen nach dem Frühstück hatten wir eine kleine Szene. Barrymore bat Sir Henry um eine Unterredung, und sie verweilten kurze Zeit unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer. Ich saß im Billardzimmer und hörte mehrere Mal, dass sie ihre Stimmen erhoben; ich konnte mir wohl denken, was den Gegenstand ihres Gespräches bildete. Nach einer Weile öffnete der Baronet die Tür und bat mich, hereinzukommen.
»Barrymore glaubt Grund zu Beschwerden zu haben«, sagte er. »Er meint, es sei unredlich von uns gewesen, auf seinen Schwager Jagd zu machen, nachdem er uns aus freiem Willen das Geheimnis mitgeteilt hätte.«
Der Schlossverwalter stand, sehr bleich, jedoch vollkommen gefasst, vor uns.
»Ich mag vielleicht zu heftig gesprochen haben, Herr«, sagte er, »und wenn dies der Fall sein sollte, bitte ich recht sehr um Vergebung. Ich war eben sehr überrascht, als ich die beiden Herren heute früh zurückkommen hörte und erfuhr, dass sie Selden verfolgt hätten. Der arme Kerl hat gerade genug durchzumachen und es war nicht nötig, dass sich ihm noch jemand auf die Hacken setzte!«
»Wenn Sie zu uns aus freiem Antrieb davon gesprochen hätten, wäre es allerdings was anderes«, antwortete der Baronet. »Sie sprachen aber erst – oder vielmehr Ihre Frau tat es –, als Sie nicht mehr anders konnten.«
»Ich glaubte aber nicht, dass Sie von meiner Mitteilung Gebrauch machen würden, Sir Henry – wirklich, dieser Gedanke lag mir völlig fern!«
»Der Mann ist eine Gefahr für die Menschheit. Überall über das Moor verstreut liegen einsame Wohnungen, und er ist ein Bursche, der vor nichts zurückschrecken würde. Man braucht nur mal einen Augenblick sein Gesicht zu sehen, um das zu wissen. Nun nehmen Sie mal zum Beispiel Mr Stapletons Haus; da ist bloß er allein, der die Bewohner verteidigen könnte. Nein, die ganze Gegend ist unsicher, solange Selden nicht wieder hinter Schloss und Riegel ist!«
»Er bricht in kein Haus ein, Herr! Darauf gebe ich Ihnen mein heiliges Wort. Aber er wird überhaupt keinen Menschen mehr in dieser Gegend belästigen. Ich versichere Ihnen, Sir Henry, in ganz wenigen Tagen werden die nötigen Vorkehrungen getroffen und wird mein Schwager nach Südamerika unterwegs sein. Um des Himmels Willen, Herr, bitte ich Sie, teilen Sie der Polizei nicht mit, dass er noch auf dem Moor ist. Sie haben es aufgegeben, ihn dort zu suchen, und wenn er sich ruhig verhält, kann er’s abwarten, bis sein Schiff abgeht. Wenn Sie ihn angeben, bringen Sie damit unbedingt auch meine Frau und mich in Ungelegenheiten. Ich bitte Sie, Herr, sagen Sie der Polizei nichts davon!«
»Was meinen Sie dazu, Watson?«
Ich zuckte die Achseln und erwiderte:
»Wenn er außer Landes wäre, wäre der ruhige Steuerzahler damit eine Last los!«
»Aber wenn er nun noch jemanden anfällt, ehe er abreist?«
»So einen wahnsinnigen Streich wird er nicht begehen, Herr. Wir haben ihn mit allem versorgt, was er nur braucht. Wenn er ein Verbrechen beginge, würde dadurch ja bekannt werden, dass er hier auf dem Moor versteckt liegt!«
»Da haben Sie recht!«, sagte Sir Henry. »Nun, Barrymore ...«
»Oh, Gott segne Sie, Herr! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Es wäre meiner armen Frau Tod gewesen, hätte man ihren Bruder wieder ergriffen!«
»Ich glaube, Watson, wir machen uns da einer Begünstigung schuldig. Aber nach dem, was ich gehört habe, glaube ich, ich könnte es nicht übers Herz bringen, den Mann anzugeben – und damit basta! – Es ist gut, Barrymore, Sie können gehen.«
Der Mann stammelte noch einige Worte des Dankes und ging. Plötzlich aber blieb er zögernd stehen, kam zurück und sagte:
»Sie sind so freundlich gegen uns gewesen, Herr, dass ich es gern vergelten möchte, so gut ich’s nur kann. Ich weiß etwas, Sir Henry, und hätte es vielleicht früher sagen sollen, aber als ich Kenntnis davon erhielt, war seit Sir Charles’ Leichenschau schon lange Zeit verstrichen. Ich habe bis jetzt zu keiner Menschenseele ein Wort davon verlauten lassen. Es betrifft den Tod meines armen früheren Herrn!«
Der Baronet und ich sprangen beide gleichzeitig von unseren Stühlen auf und riefen:
»Wissen Sie, wie er ums Leben kam?«
»Nein, Herr, davon weiß ich nichts!«
»Was wissen Sie denn?«
»Ich weiß, warum er um jene Stunde an der Pforte war. Er hatte eine Verabredung mit einem Weib.«
»Mit einem Weib? Was?«
»Ja.«
»Und wie hieß sie?«
»Den Namen kann ich Ihnen nicht angeben, wohl aber seine Anfangsbuchstaben. Diese sind L. L.«
»Woher wissen Sie das, Barrymore?«
»Sehen Sie, Sir Henry, Ihr Onkel bekam an jenem Morgen einen Brief. Für gewöhnlich bekam er sehr viele Briefe, denn er war eine hervorragende Persönlichkeit hier in der Gegend, und seine Gutherzigkeit war allgemein bekannt; deshalb wandte sich jeder, der in Verlegenheit war, mit Vorliebe an Sir Charles. Aber an jenem Morgen war nur dieser einzige Brief angekommen; deshalb fiel er mir umso mehr auf. Der Brief war in Coombe Tracey aufgegeben und die Adresse von einer Frauenhand geschrieben.«
»Weiter?«
»Nun, Herr, ich dachte nicht mehr daran und würde überhaupt nicht mehr daran gedacht haben. Indessen vor ein paar Wochen räumte meine Frau Sir Charles’ Arbeitszimmer auf – es war seit seinem Tod nichts darin angerührt worden –, und da fand sie hinten am Kaminrost die Asche von einem verbrannten Brief. Sein größerer Teil war in kleine Stückchen zerfallen, aber ein kleiner Streifen vom unteren Ende einer Seite hing noch zusammen, und die Schriftzüge waren zu lesen, indem sie sich grau von dem schwarzen Grund abhoben. Wir hielten es für eine Nachschrift zu dem Brief, und die Worte lauteten folgendermaßen: ›Bitte, bitte! Da Sie ein Gentleman sind, verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn an der Pforte!‹ Unterzeichnet war dieser Satz mit den Buchstaben L. L.«
»Haben Sie den Streifen aufbewahrt?«
»Nein, Herr, er fiel uns unter den Händen in Asche zusammen.«
»Hatte Sir Charles schon früher Briefe mit derselben Handschrift erhalten?«
»Hm, ich sah mir sonst seine Briefe nicht an und achtete nicht besonders darauf. Ich hätte auch auf diesen Brief nicht geachtet, wenn er nicht eben allein gekommen wäre.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer L. L. ist?«
»Nein, Herr – so wenig wie Sie selber! Aber ich nehme an, wenn wir die Dame ausfindig machen könnten, würden wir mehr über Sir Charles’ Ende erfahren!«
»Ich begreife nicht, Barrymore, wie Sie dazu kamen, einen so wichtigen Umstand zu verheimlichen.«
»Nun, Sir Henry, wir fanden den Brief gerade in jenen Tagen, als wir selber durch meinen Schwager in eine so fatale Verlegenheit versetzt wurden. Und dann, Herr – wir hatten alle beide Sir Charles sehr lieb gehabt – wie es ja nach allem, was er für uns getan hatte, gar nicht anders sein konnte. Wenn wir die Geschichte wieder aufrührten, konnte das unserem armen alten Herrn nichts nützen – und wenn irgendwo eine Dame im Spiel ist, dann ist es besser, vorsichtig zu sein. Auch der beste Mensch ...«
»Sie meinten, es könnte seinem guten Ruf schaden?«
»Nun, jedenfalls dachte ich, es könnte nichts Gutes daraus entstehen! Aber jetzt sind Sie so gut zu uns gewesen, und ich fühle, es wäre nicht recht von mir gewesen, wenn ich Ihnen nicht alles gesagt hätte, was ich von der Geschichte weiß.«
»Sehr gut, Barrymore! Sie können gehen.«
Nachdem der Mann hinausgegangen war, wandte Sir Henry sich zu mir und sagte:
»Nun, Watson, was meinen Sie zu diesem neuen Licht, das auf meines Onkels Ende fällt?«
»Mir scheint, die Dunkelheit ist nur noch schwärzer geworden, als sie schon war!«
»Das ist auch meine Meinung. Aber wenn wir nur L. L. aufspüren könnten, würde sich die ganze Sache aufklären! Was sollen wir nach Ihrer Meinung tun?«
»Sofort Holmes von allem in Kenntnis setzen! Für ihn wird dies der Anhaltspunkt sein, nach welchem er so lange gesucht hat.«
Ich begab mich sogleich auf mein Zimmer, um für Holmes einen Bericht über das Gespräch dieses Morgens niederzuschreiben. Augenscheinlich musste er in der letzten Zeit mit Arbeit überhäuft gewesen sein, denn ich hatte aus der Baker Street nur ein paar ganz kurze Notizen erhalten, worin von meinen Berichten überhaupt nicht die Rede war; sogar die Aufgabe, die ich auf Baskerville Hall zu erfüllen hatte, war nur ganz obenhin erwähnt. Ohne Zweifel nimmt die Untersuchung wegen der Erpressung alle seine Geisteskräfte in Anspruch.
Aber der heute neu hinzugekommene Umstand muss ganz gewiss seine Aufmerksamkeit fesseln und seine Teilnahme neu beleben. Ich wollte, er wäre hier ...
Den 17. Oktober. – Heute strömte den ganzen Tag der Regen hernieder, raschelte im Efeu des alten Hauses und troff aus den Dachrinnen. Ich dachte an den entsprungenen Sträfling, der obdachlos draußen auf dem öden kalten Moor umherirrt. Der arme Kerl! Wie furchtbar auch seine Verbrechen gewesen sind, er hat gelitten und dadurch wenigstens teilweise gesühnt. Und dann dachte ich an den anderen – den Mann, dessen Gesicht wir in der Droschke sahen, dessen Gestalt sich im Moor gegen die Mondscheibe abhob. War er ebenfalls draußen in der Regenflut – der unsichtbare Späher, der Mann der Finsternis?
Als es Abend wurde, zog ich meinen Regenmantel an und wanderte voll düsterer Gedanken weit hinaus in die regendurchweichte Heide und ließ mir den kalten Regen ins Gesicht schlagen und den Wind um die Ohren pfeifen. Gott sei bei denen, die jetzt in den großen Morast hineingeraten, denn selbst das feste Land ist beinahe schon ein Sumpf. Ich fand die schwarze Felsspitze, auf dessen Höhe ich den einsamen nächtlichen Gesellen gesehen hatte; ich erklomm die schroffe Zacke und blickte von der Höhe aus über die traurig düstere Hügellandschaft hin. Überall nichts als das öde Land, schwere Regengüsse, die die Flanken der Hügel peitschten, und langsam ziehende schiefergraue Wolken. Fern zur Linken ragten, halb verborgen durch den Nebel, die beiden schlanken Türme von Baskerville über den Bäumen auf. Sie waren die einzigen Anzeichen menschlichen Lebens, die ich erblicken konnte; die einzigen Wohnungen weit und breit waren die plumpen prähistorischen Steinhütten auf den Abhängen der Hügel. Nirgends eine Spur von dem einsamen Mann, den ich in der vergangenen Nacht an dieser selben Stelle sah.
Auf dem Rückweg überholte mich Dr. Mortimer in seinem Wägelchen. Er kam auf holperigem Heideweg von dem einsam liegenden Pachthof Foulmire her. Er hat sich uns gegenüber sehr aufmerksam benommen, und es ist kaum ein Tag vergangen, dass er nicht auf Baskerville Hall vorgesprochen und sich nach dem Fortgang unserer Nachforschungen erkundigt hätte. Er bat mich dringend, in seinen Wagen zu steigen, da er mich durchaus nach Hause bringen wollte. Ich fand ihn verstimmt und zerstreut, und die Zerstreutheit rührte von dem Verschwinden seines Hündchens her, das aufs Moor hinausgelaufen und nicht wieder zurückgekommen war. Ich suchte ihn möglichst zu trösten, konnte mich aber innerlich des Gedankens an das Pferd, das ich im Grimpener Sumpf verschwinden sah, nicht erwehren, und ich glaube nicht, dass er seinen kleinen Freund jemals wiedersehen wird.
»Ach, sagen Sie doch mal, Mortimer«, fragte ich, als wir den schlechten Weg entlang rumpelten, »es gibt wohl wenig Leute hier in der Gegend, die Sie nicht kennen?«
»Wohl kaum einen einzigen Menschen.«
»Können Sie mir dann vielleicht den Namen einer weiblichen Person sagen, deren Anfangsbuchstaben L. L. sind?«
Er dachte ein paar Minuten nach und antwortete:
»Nein. Es gibt hier ein paar Zigeuner und einige Leute aus dem Arbeiterstand, von denen ich nicht genau Bescheid weiß, aber unter dem Landvolk oder den Gebildeten gibt es keine, deren Namen diese Anfangsbuchstaben aufweist ... Doch halt! Warten Sie mal!«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Da ist Laura Lyons – das stimmt mit den Buchstaben L. L. überein – sie wohnt jedoch in Coombe Tracey.«
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Mr Franklands Tochter.«
»Was? Vom alten Frankland, dem Rechtsverdreher?«
»Ganz recht. Sie heiratete einen Maler namens Lyons, der hierher aufs Moor kam, um Skizzen zu machen. Nachher stellte es sich heraus, dass er ein Lump war, und er verließ sie. Nach allem, was ich gehört habe, mag indessen die Schuld nicht ausschließlich auf seiner Seite gelegen haben. Ihr Vater weigerte sich, auch nur das Geringste zu tun; sie hatte nämlich gegen seinen Willen geheiratet, und vielleicht hatte er auch sonst noch einige Gründe. Sie hat daher mit dem alten Sünder sowohl wie mit dem jungen einen ziemlich schweren Stand gehabt.«
»Wovon lebt sie?«
»Ich glaube, der alte Frankland hat ihr ’ne Kleinigkeit ausgesetzt; viel kann das jedenfalls nicht sein, denn mit seinen eigenen Verhältnissen steht es ziemlich faul. Mag sie nun auch an ihrem Unglück selber schuld sein, jedenfalls konnten wir nicht ruhig mit ansehen, dass sie hoffnungslos unter die Räder kam. Man beschäftigte sich mit ihrer Lage, und verschiedene von den Leuten hier in der Gegend sprangen ihr bei, um ihr einen anständigen Erwerb zu ermöglichen. Stapleton tat etwas und Sir Charles ebenfalls; ich steuerte auch eine Kleinigkeit bei. Sie schaffte sich eine Schreibmaschine an und lebt nun von der Anfertigung von Abschriften.«
Er wollte wissen, warum ich fragte, doch gelang es mir, seine Neugier zu befriedigen, ohne ihm allzu viel zu sagen, denn wir haben durchaus keinen Anlass, jedermann ins Vertrauen zu ziehen. Morgen früh werde ich mich nach Coombe Tracey aufmachen, und wenn es mir gelingt, diese Mrs Laura Lyons von etwas zweifelhaftem Ruf zu sprechen, bringt uns dies der Aufklärung von einem der vielen geheimnisvollen Ereignisse um ein gutes Stück näher. Ich kann von mir sagen, dass ich heute klug wie eine Schlange gewesen bin, denn als Dr. Mortimer mit seinen Fragen ein bisschen gar zu unbequem wurde, fragte ich ihn so ganz nebenbei, zu welchem Typus eigentlich Franklands Schädel gehöre. Die Folge davon war, dass ich während des ganzen Restes unserer Fahrt nichts als Schädellehre zu hören bekam. Ja, ich habe nicht umsonst jahrelang mit Sherlock Holmes zusammen gelebt!
Von dem heutigen trüben Regentag habe ich nur noch einen einzigen Vorfall zu verzeichnen. Ich hatte nämlich gerade eben eine Unterhaltung mit Barrymore und bekam dabei eine Trumpfkarte in die Hand, die sich gewiss als wertvoll erweisen wird, wenn der rechte Zeitpunkt da ist.
Mortimer blieb bei uns zu Tisch, und nach dem Essen spielten der Baronet und er Ecarté. Ich ging ins Bibliothekszimmer und ließ mir dorthin von Barrymore meinen Kaffee bringen. Da die Gelegenheit günstig war, benutzte ich sie, ein paar Fragen an ihn zu richten.
»Na?«, sagte ich. »Ist denn nun Ihr braver Verwandter fort oder haust er noch auf dem Moor?«
»Ich weiß es nicht, Herr. Ich hoffe zu Gott, dass er fort ist, denn er hat uns nichts als Verlegenheiten bereitet. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seitdem ich ihm das letzte Mal Speisen brachte, und das war vor drei Tagen.«
»Sahen Sie ihn denn damals?«
»Nein; aber das Essen war verschwunden, als ich das nächste Mal nach jener Stelle ging.«
»Dann muss er also ganz bestimmt dagewesen sein?«
»Man sollte das annehmen; indessen wäre es auch möglich, dass der andere es genommen hätte.«
Ich wollte gerade die Kaffeetasse an meine Lippen führen, hielt aber auf halbem Weg inne und starrte Barrymore an.
»Der andere? Sie wissen also, dass noch ein anderer Mann da ist?«
»Ja, Herr; es ist noch einer auf dem Moor.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie denn etwas von ihm?«
»Selden erzählte mir von ihm; es mag etwa eine Woche her sein, vielleicht auch etwas länger. Er hält sich ebenfalls versteckt, ist aber kein entsprungener Sträfling, nach allem, was ich erfahren konnte. Es gefällt mir nicht, Herr Doktor – ich muss Ihnen aufrichtig sagen, die Sache gefällt mir ganz und gar nicht.«
Es lag plötzlich ein seltsam eindringlicher Ernst in dem Ton, womit Barrymore sprach.
»Nun, Barrymore, hören Sie mal, was ich Ihnen sage! Ich verfolge bei dieser ganzen Angelegenheit kein Interesse als das Ihres Herrn. Ich bin nur zu dem Zweck hierhergekommen, ihm beizustehen. Sagen Sie mir also frei und offen: Was ist bei dieser Sache, das Ihnen nicht gefällt?«
Barrymore zögerte einen Augenblick, als bedauerte er, dass er sich zu einem Gefühlsausbruch habe hinreißen lassen, oder als wüsste er nicht die rechten Worte zu finden. Endlich aber rief er, indem er mit der Hand nach dem aufs Moor hinausgehenden Fenster deutete, gegen dessen Scheiben der Regen peitschte:
»Es sind alle diese Vorgänge, Herr! Irgendwo ist ein Verbrechen im Spiel, und es wird irgendein fürchterlicher Schurkenstreich ausgebrütet, darauf will ich schwören! Ich wäre wirklich von Herzen froh, wenn ich Sir Henry erst wieder auf der Rückreise nach London wüsste!«
»Aber was ist es denn, das Sie beunruhigt?«
»Nehmen Sie nur Sir Charles’ Tod! Die Umstände waren ja schlimm genug, nach allem, was der Vorsitzende bei der Leichenschau sagte! Dann die Töne nachts auf dem Moor! Kein Mensch hier in der Gegend würde wagen, nach Sonnenuntergang übers Moor zu gehen, und wenn er noch so viel dafür bezahlt bekäme. Dann dieser Fremde, der sich da draußen versteckt hält und überall herumschleicht und herumschnüffelt! Was sucht er? Was bedeutet das alles? Sicherlich nichts Gutes für jeden, der den Namen Baskerville trägt – und ich will mich aufrichtig freuen, wenn Sir Henrys neue Dienerschaft hier in Baskerville Hall einzieht und ich nichts mehr damit zu tun habe.«
»Aber was ist’s denn mit diesem Fremden?«, fragte ich. »Können Sie mir irgendetwas über ihn sagen? Was sagte Selden Ihnen? Hatte er das Versteck des Mannes herausbekommen, oder wusste er, welche Zwecke dieser verfolgte?«
»Er sah ihn ein- oder zweimal – aber er ist ein verschlossener Charakter und durchaus nicht mitteilsam. Zuerst dachte er, es wäre einer von der Polizei, doch merkte er bald, dass jener seine eigenen Absichten verfolgte. Worin diese aber beständen, das konnte er nicht entdecken, nur meinte er, es wäre wohl ein feiner Herr.«
»Und wo hauste dieser Mann nach Seldens Angabe?«
»In den alten Häusern am Hügel – in einer von den Steinhütten aus der Vorzeit.«
»Aber wie verschaffte er sich sein Essen?«
»Selden bemerkte, dass er einen Jungen hat, der ihm alles besorgt und ihn mit dem Notwendigsten versieht. Höchstwahrscheinlich holt er dieses aus Coombe Tracey.«
»Schön, Barrymore. Wir können gelegentlich mal wieder darüber sprechen.«
Nachdem der Diener gegangen war, trat ich an das schwarze Fenster und sah durch die vom Regenwasser trüben Scheiben nach den ziehenden Wolken und den Baumwipfeln, die sich vor dem Sturmwind bogen. Eine unbehagliche Nacht hier drinnen – und wie muss sie erst draußen sein auf dem Moor in einer Steinhütte! Welch ein leidenschaftlicher Hass muss den Mann beseelen, der sich in dieser Jahreszeit in solchen Verstecken verbirgt! Und welchen Zweck muss einer verfolgen, der sich solchen Strapazen unterzieht? Jedenfalls einen ernsten und wichtigen! Dort, in der Steinhütte auf dem Moor, liegt der wahre Mittelpunkt des Problems, das mich so fürchterlich gemartert hat. Und ich schwöre, es soll kein Tag mehr vergehen, und ich werde alles tun, was in Menschenkräften steht, um dem Geheimnis auf den Grund zu kommen.
Der Auszug aus meinem Tagebuch, den ich im letzten Kapitel mitgeteilt habe, reicht bis zum 18. Oktober. An diesem Tag begannen die seltsamen Ereignisse sich schnell zu ihrem entsetzlichen Ende zu entwickeln. Die Vorfälle der nächsten Tage haben sich unauslöschlich meinem Gedächtnis eingegraben, und ich brauche, um sie zu erzählen, nicht meine damaligen Aufzeichnungen zu Hilfe zu nehmen.
Ich hatte, wie bereits berichtet, am 17. Oktober zwei Tatsachen von großer Bedeutung festgestellt: erstens, dass Mrs Laura Lyons in Coombe Tracey an Sir Charles Baskerville geschrieben und ihm ein Stelldichein gegeben hatte, und dass dieses Zusammentreffen genau an dem Ort und zu der Stunde seines jähen Todes hatte stattfinden sollen; zweitens, dass der Mann, der sich auf dem Moor versteckt hielt, in den Steinhäusern am Hügelabhang zu finden war. Da ich von diesen beiden Tatsachen Kenntnis hatte, musste ich unbedingt neues Licht in die noch dunklen Rätsel hineinbringen, falls nicht etwa meine Intelligenz oder mein Mut mich im Stich ließen – und das befürchtete ich nicht.
Ich hatte keine Gelegenheit gefunden, den Baronet noch im Laufe des Abends von den neuen Mitteilungen betreffs Mrs Lyons in Kenntnis zu setzen, denn Doktor Mortimer blieb bis tief in die Nacht hinein mit ihm am Spieltisch sitzen. Beim Frühstück jedoch teilte ich ihm meine Entdeckung mit und fragte ihn, ob er Lust hätte, mich nach Coombe Tracey zu begleiten. Zuerst war er Feuer und Flamme für diesen Plan; nach reiflicherem Überlegen jedoch schien es uns beiden, ich würde vielleicht mehr ausrichten, wenn ich allein ginge. Es war sehr leicht möglich, dass wir umso weniger erfuhren, je förmlicher wir den Besuch machten. Ich ließ daher, wenngleich nicht ohne einige Gewissensbisse, Sir Henry allein zurück und machte mich auf meinen Weg.
In Coombe Tracey angekommen, befahl ich Perkins, die Pferde einzustellen, und erkundigte mich nach der Dame, der mein Besuch galt. Ich fand ohne Mühe ihre Wohnung, die mitten im Ort lag und gut eingerichtet war. Ein Dienstmädchen ließ mich ohne weitere Förmlichkeiten in das Wohnzimmer eintreten, und eine Dame, die vor einer Remington-Schreibmaschine saß, sprang auf und bewillkommnete mich mit einem freundlichen Lächeln. Dieser Ausdruck von Freundlichkeit verschwand indessen, als sie sah, dass ich ein Unbekannter war; sie setzte sich wieder hin und fragte mich nach dem Anlass meines Besuches.
Auf den ersten Blick machte Mrs Lyons den Eindruck einer außerordentlichen Schönheit. Ihre Haare waren, wie die Augen, von dunkelbrauner Farbe, ihre Wangen waren zwar etwas sommersprossig, aber es lag auf ihnen der köstliche Flaum der Brünetten, jener zartrote Hauch, der sich im Herzen der gelben Rose birgt. Bewunderung war, ich wiederhole es, das erste Gefühl, das sie einflößte; dann aber kam sofort die Kritik. Es lag in ihrem Gesicht ein eigentümlicher, nicht anziehender Ausdruck, vielleicht eine gewisse Härte des Blickes, eine Schlaffheit der Lippen – genug, die Vollkommenheit ihrer Schönheit wurde dadurch beeinträchtigt. Doch diese Gedanken machte ich mir natürlich erst hinterher. In jenem Augenblick hatte ich nur das Gefühl, mich einer sehr hübschen Frau gegenüber zu befinden, die mich fragte, warum ich sie besuchte. Diese Frage brachte mir so recht zum Bewusstsein, wie delikat meine Aufgabe war.
»Ich habe das Vergnügen«, begann ich, »Ihren Herrn Vater zu kennen.«
Dies war nun freilich eine recht linkische Eröffnung des Gespräches, und die Dame gab es mir denn auch sofort zu verstehen.
»Zwischen meinem Vater und mir«, sagte sie, »bestehen keine Beziehungen. Ich bin ihm nichts schuldig, und seine Freunde sind nicht die meinigen. Wäre nicht der verstorbene Sir Charles Baskerville gewesen und hätte ich nicht noch einige andere gütige Herzen gefunden, hätte ich hungern können – mein Vater hätte sich nicht darum gekümmert!«
»Der Anlass meines Besuches bei Ihnen betrifft gerade den verstorbenen Sir Charles Baskerville.«
Die Dame wurde rot, sodass die Sommersprossen auf ihren Wangen deutlich hervortraten.
»Was wünschen Sie von mir in Betreff dieses Herrn zu hören?«, fragte sie, und ihre Finger spielten nervös auf den Tasten der Schreibmaschine.
»Sie kannten ihn, nicht wahr?«
»Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich seiner Freundlichkeit großen Dank schuldig. Wenn ich imstande bin, mein Brot selber zu verdienen, habe ich das in hohem Maße der Teilnahme zu verdanken, die ihm meine unglückliche Lage einflößte.«
»Standen Sie mit ihm in brieflichem Verkehr?«
Sie warf einen raschen Blick auf mich, und in ihren nussbraunen Augen lag ein ärgerlicher Schein.
»Was bezwecken Sie mit diesen Fragen?«, rief sie dann scharf.
»Ich bezwecke damit einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Es ist besser, ich richte diese Frage hier an Sie als an einem anderen Ort, wo die Sache vielleicht eine Wendung nehmen möchte, gegen die wir nichts machen könnten.«
Sie schwieg und ihr Gesicht war sehr blass. Schließlich blickte sie auf, und in ihrer Haltung sprach sich ein gewisser leichtfertiger und herausfordernder Trotz aus.
»Gut, ich will antworten!«, sagte sie. »Fragen Sie!«
»Standen Sie mit Sir Charles in Briefwechsel?«
»Gewiss; ich schrieb ihm ein- oder zweimal, um ihm für sein Zartgefühl und seinen Edelmut zu danken.«
»Wissen Sie die Daten dieser Briefe?«
»Nein.«
»Sind Sie jemals persönlich mit ihm zusammengetroffen?«
»Ja, ein- oder zweimal hier in Coombe Tracey. Er lebte sehr zurückgezogen, und wenn er Gutes tat, liebte er, dass es im Verborgenen geschah.«
»Aber wenn Sie ihm so selten schrieben und ihn so selten sprachen, wie kommt es dann, dass er mit Ihren Angelegenheiten so gut Bescheid wusste, um Ihnen helfen zu können, wie er es doch tat, nach dem, was Sie sagten?«
Auf diesen Einwurf war sie sofort mit einer Erklärung bei der Hand.
»Mehrere Herren kannten meine traurige Geschichte und taten sich zusammen, um mir zu helfen. Einer von ihnen war Mr Stapleton, ein Nachbar und intimer Freund von Sir Charles. Er war außerordentlich freundlich und durch ihn wurde Sir Charles mit dem Stand meiner Angelegenheiten genauer bekannt.«
Ich wusste bereits, dass Sir Charles Baskerville sich bei verschiedenen Gelegenheiten Stapletons als seines Almoseniers bedient hatte; die Angabe der Dame trug daher den Stempel der Wahrheit.
»Schrieben Sie jemals an Sir Charles, um ihn um eine Begegnung zu bitten?«, fuhr ich fort.
Mrs Lyons wurde abermals rot vor Ärger.
»In der Tat, mein Herr, das ist eine höchst eigentümliche Frage!«
»Es tut mir leid, gnädige Frau, aber ich muss sie wiederholen.«
»Dann antworte ich Ihnen: Nein! Ich schrieb ganz gewiss nicht!«
»Auch nicht an eben jenem Tag, als Sir Charles starb?«
Die Röte war augenblicklich verflogen und ein totenbleiches Antlitz starrte mich an. Ihre trockenen Lippen vermochten kaum das ›Nein‹ hervorzubringen, das ich mehr sah als hörte.
»Ihr Gedächtnis täuscht Sie ganz gewiss!«, sagte ich. »Ich könnte Ihnen sogar eine Stelle Ihres Briefes wortgetreu hersagen. Sie lautete: ›Bitte, bitte, da Sie ein Gentleman sind, verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn Uhr an der Pforte!‹«
Ich glaubte, sie fiele in Ohnmacht, aber sie hielt sich mit höchster Anspannung ihrer Willenskraft aufrecht, doch stöhnte sie:
»So gibt es also keinen Gentleman?!«
»Sie sind ungerecht gegen Sir Charles. Er verbrannte wirklich den Brief. Aber ein Brief kann zuweilen noch leserlich sein, selbst wenn er verbrannt ist. Sie erkennen jetzt also an, dass Sie ihn geschrieben?«
»Ja, ich schrieb ihn!«, rief sie, und die ganze Erregung ihrer Seele brach sich in einem Strom von Worten Bahn. »Ich schrieb ihn. Warum sollte ich das leugnen? Ich habe keinen Grund, mich deswegen zu schämen. Ich wünschte von ihm Hilfe zu erhalten. Ich glaubte, wenn ich ein Zusammentreffen erlangte, wäre mir seine Hilfe sicher, und deshalb bat ich ihn um das Stelldichein.«
»Aber warum zu solch einer Stunde?«
»Weil ich gerade erst erfahren hatte, dass er am nächsten Tag nach London reiste und vielleicht monatelang abwesend sein würde. Aus verschiedenen Gründen konnte ich mich nicht früher einfinden.«
»Aber warum ein Stelldichein im Garten statt eines einfachen Besuches im Haus?«
»Sind Sie der Meinung, eine Frau könnte zu solcher Stunde allein in die Wohnung eines unverheirateten Herrn gehen?«
»Nun, was passierte denn weiter, als Sie an der Pforte ankamen?«
»Ich bin gar nicht hingegangen.«
»Mrs Lyons!«
»Nein. Ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir heilig ist. Ich ging nicht. Es kam etwas dazwischen, was mich davon abhielt.«
»Und was war das?«
»Das ist eine Privatangelegenheit. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Sie geben also zu, dass Sie mit Sir Charles am Tag seines Todes eine Verabredung hatten und sogar für die Stunde und den Ort, wo er starb, Sie leugnen aber, diese Verabredung eingehalten zu haben?«
»So ist es!«
Immer und immer wieder fragte ich sie aus wie in einem Kreuzverhör, aber über diesen Punkt gelang es mir nicht hinwegzukommen. Schließlich stand ich auf, um dem langen und ergebnislosen Gespräch ein Ende zu machen.
»Mrs Lyons«, sagte ich, als ich mich erhob, »Sie laden eine sehr große Verantwortlichkeit auf sich und bringen sich selber in eine ganz schiefe Lage, indem Sie nicht frei heraus alles sagen, was Sie wissen. Wenn ich die Hilfe der Polizei anrufen muss, werden Sie finden, wie ernstlich Sie sich bloßgestellt haben. Sind Sie vollkommen unschuldig, warum leugneten Sie denn im ersten Augenblick, dass Sie an jenem Tag an Sir Charles geschrieben hatten?«
»Weil ich fürchtete, es könnten falsche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, durch welche ich mich möglicherweise in einen Skandal verwickelt gesehen hätte!«
»Und warum drangen Sie so sehr darauf, dass Sir Charles Ihren Brief vernichten sollte?«
»Wenn Sie den Brief gelesen haben, werden Sie das ja selber wissen!«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich den ganzen Brief gelesen hätte.«
»Sie zitierten doch etwas daraus.«
»Ja, die Nachschrift. Der Brief war, wie ich bereits sagte, verbrannt worden, und es war nicht mehr alles leserlich. Ich frage noch einmal, warum Sie Sir Charles so dringend baten, diesen Brief zu vernichten, den er an seinem Todestag empfing.«
»Die Angelegenheit ist rein persönlich.«
»Umso mehr sollten Sie bemüht sein, eine öffentliche Untersuchung fernzuhalten!«
»Nun, so will ich’s Ihnen denn sagen! Wenn Sie einiges von meiner unglücklichen Geschichte gehört haben, werden Sie wissen, dass ich mich in unbesonnener Weise verheiratete, und dass ich Ursache hatte, diesen Schritt zu bereuen.«
»Ich habe davon gehört.«
»Seit jenem Augenblick wurde ich unaufhörlich von meinem Mann verfolgt, den ich verabscheue. Das Gesetz steht auf seiner Seite, und jeden Tag sehe ich mich der Möglichkeit gegenübergestellt, dass er mich zwingt, wieder mit ihm zusammenzuleben. Damals, als ich Sir Charles jenen Brief schrieb, hatte ich erfahren, es wäre für mich Aussicht vorhanden, meine Freiheit wiederzuerlangen, wenn ich über eine gewisse Summe Geldes verfügen könnte. Für mich hing alles davon ab: Seelenruhe, Glück, Selbstachtung – mit einem Wort: alles! Ich kannte Sir Charles’ Freigiebigkeit, und ich dachte, wenn er die Geschichte aus meinem eigenen Mund hörte, würde er mir ganz gewiss helfen.«
»Wie kommt es dann aber, dass Sie nicht hingingen?«
»Weil mir in der Zwischenzeit von anderer Seite her Hilfe kam.«
»Aber warum schrieben Sie dies nicht an Sir Charles?«
»Ich hätte das getan, wenn ich nicht am anderen Morgen seinen Tod in der Zeitung gelesen hätte.«
Die Geschichte der Frau war in sich zusammenhängend, und mit all meinen Fragen gelang es mir nicht, ihre Angaben zum Wanken zu bringen. Ich konnte nichts weiter tun, als Nachforschungen anzustellen, ob sie wirklich zu der Zeit, wo die Tragödie von Baskerville Hall sich abgespielt hatte, Schritte getan, um sich von ihrem Gatten scheiden zu lassen.
Es war nicht anzunehmen, dass sie geleugnet hätte, in der Taxusallee von Baskerville Hall gewesen zu sein, wenn sie in Wirklichkeit dort gewesen wäre, denn um dorthin zu gelangen, hätte sie sich unbedingt eines Wagens bedienen müssen, und dieser hätte nicht vor den frühen Morgenstunden wieder in Coombe Tracey anlangen können. Eine solche Ausfahrt ließ sich nicht geheim halten. Es war also anzunehmen, dass sie in dieser Hinsicht die Wahrheit sagte – oder wenigstens einen Teil der Wahrheit. Ich fühlte mich gefoppt und fuhr niedergeschlagen von Coombe Tracey ab. Abermals stand ich vor jener unübersteiglichen Mauer, die anscheinend auf jedem Weg sich erhob, den ich einschlug, um zu meinem Ziel zu gelangen. Und doch, je mehr ich an das Mienenspiel und das Benehmen der Dame dachte, desto stärker wurde der Eindruck, dass sie mir irgendetwas verheimlichte.
Warum war sie so bleich geworden? Warum musste ihr jedes Zugeständnis sozusagen abgekämpft werden? Warum war sie in jenen Tagen, als die Tragödie die ganze Gegend in Aufruhr versetzt hatte, so schweigsam gewesen? Ganz gewiss ließ dies alles sich nicht auf eine so unschuldige Art erklären, wie sie mich glauben machen wollte! Für den Augenblick konnte ich indessen keine weiteren Schritte in jener Richtung tun, sondern musste mich zu der anderen Spur wenden, die in den Steinhütten auf dem Moor zu suchen war.
Und das war eine von sehr ungewisser Art! Es kam mir so recht zum Bewusstsein, als ich auf der Rückfahrt bemerkte, wie Hügel um Hügel die Spuren des Heidenvolkes zeigte. Barrymore hatte nichts weiter sagen können, als dass der Fremde in einer von den verlassenen Hütten hauste, und nun sah ich, dass diese zu Hunderten überall und überall übers Moor zerstreut waren. Immerhin hatte ich mein eigenes nächtliches Erlebnis als Ausgangspunkt, denn ich hatte mit meinen Augen den Mann selber auf dem Gipfel des »Black Tor« stehen sehen. Von diesem Punkt aus musste ich also meine Nachforschungen beginnen. Ich konnte nichts anderes tun, als von diesem Mittelpunkt aus jede Hütte auf dem Moor zu untersuchen, bis ich die richtige traf. War dieser Mann in der Hütte, musste er mir selber gestehen – wenn nötig, vor der Mündung meines Revolvers – wer er war und warum er uns so lange nachgespürt hatte. Im Gedränge der Regent Street konnte er uns wohl entschlüpfen, aber hier auf dem einsamen Moor sollte ihm das doch schwer werden! Sollte ich dagegen die Hütte finden, ihr Bewohner aber nicht anwesend sein – nun, so musste ich dort warten, bis er zurückkehrte, mochte meine Wache auch noch so lange dauern. Holmes hatte ihn in London entwischen lassen. Es wäre in der Tat ein Triumph für mich gewesen, hätte ich den Mann dingfest gemacht, den mein Meister nicht hatte halten können!
Während all unserer Bemühungen war das Glück immer und immer wieder uns feindlich gewesen – nun auf einmal kam es uns zu Hilfe. Und der Glücksbringer war niemand anderes als der alte Frankland, der mit seinem grauen Backenbart und roten Gesicht vor seiner Gartenpforte auf dem Weg stand, den ich entlangfuhr.
»Guten Tag, Doktor Watson!«, rief er mit ungewohntem guten Humor. »Sie müssen wirklich Ihre Pferde ein bisschen ausruhen lassen und mit mir hereinkommen, um ein Glas Wein mit mir zu trinken und mir zu gratulieren.«
Ich empfand durchaus keine freundschaftlichen Gefühle für den Mann, der nach allem, was man mir erzählt, seine Tochter so schlecht behandelt hatte, aber mir lag viel daran, Perkins mit dem Fuhrwerk nach Hause zu schicken, und diese Gelegenheit war günstig. Ich stieg also aus und sagte dem Kutscher, er möchte Sir Henry bestellen, dass ich zur Essenszeit zu Hause sein würde. Dann folgte ich Frankland in sein Speisezimmer.
»Heut ist ein großer Tag für mich, Herr Doktor – einer von den wenigen Tagen in meinem Leben, die ich rot anstreichen kann!«, rief er, unaufhörlich kichernd. »Ich habe einen Doppelsieg! Ja, ich will den Leuten hier beibringen, dass das Gesetz Gesetz ist, und dass es hier einen Mann gibt, der sich nicht fürchtet, es anzurufen! Ich habe ein Wegerecht mitten durch des alten Middleton Park nachgewiesen, mitten durch, Herr Doktor, keine hundert Ellen von seiner Haustür. Was sagen Sie dazu? Wir wollen diesen Magnaten zeigen, dass sie nicht so mir nichts dir nichts sich über die Rechte von uns Bürgerlichen hinwegsetzen können, hol sie der Henker! Dann habe ich den Wald gesperrt, wo die Fernworthyer immer Picknicks hielten Diese Höllenbrut scheint zu glauben, es gebe keine Eigentumsrechte und sie können nach freiem Belieben überall herumschwärmen mit ihren Flaschen und mit ihrem Butterbrotpapier. Beide Prozesse sind entschieden, Doktor Watson, und beide zu meinen Gunsten. Solch einen Tag habe ich nicht gehabt, seitdem ich Sir John Morland verurteilen ließ, weil er in seiner eigenen Fasanerie geschossen hatte.«
»Wie in aller Welt brachten Sie denn das fertig?«
»Lesen Sie’s nur in den Büchern nach, Doktor! Es lohnt sich der Mühe! Frankland gegen Morland, Gerichtshof: Queens Bench. Es kostete mich 200 Pfund, aber ich setzte mein Urteil durch!«
»Hatten Sie irgendeinen Vorteil dabei?«
»Keinen, Herr Doktor, gar keinen! Ich sage es voll Stolz, ich hatte gar kein Interesse an der Sache. Ich handle durchaus nur aus Pflichtgefühl zum allgemeinen Besten. Ich zweifle zum Beispiel nicht, dass die Leute von Fernworthy mich heute Abend in effigie verbrennen werden. Als sie’s das letzte Mal taten, sagte ich der Polizei, sie müsste derartige anstößige Auftritte verhindern. Die Grafschaftspolizei ist in einem skandalösen Zustand, Herr Doktor, und hat mir nicht den Schutz gewährt, auf den ich Anspruch habe. Der Prozess Frankland gegen Reginam wird die Sache vor die Öffentlichkeit bringen. Ich sagte ihnen, es würde ihnen schon noch mal leid tun, mich so behandelt zu haben, und meine Worte haben sich denn auch bereits bewahrheitet!«
»Wieso?«
Der alte Mann machte ein sehr geheimnisvolles Gesicht und flüsterte:
»Weil ich ihnen was sagen könnte, wonach sie sich die Beine abgelaufen haben; aber nichts soll mich dazu bringen, diesen Schuften in irgendeiner Weise beizustehen.«
Ich hatte bereits nach einem Vorwand gesucht, um mich seinem Geschwätz zu entziehen; die letzten Worte erregten jedoch in mir den Wunsch, mehr zu hören. Ich hatte von dem Widerspruchsgeist des alten Sünders genug gesehen, um zu begreifen, dass er seine Herzensergüsse sofort einstellen würde, wenn ich mich irgendwie neugierig zeigte. Ich sagte daher mit möglichst gleichgültiger Miene:
»Jedenfalls handelt sich’s um irgendeine Wilddieberei.«
»Haha, mein Junge! Nein, um etwas viel, viel Wichtigeres! Was meinen Sie wohl? Es betrifft den Sträfling auf dem Moor!«
Ich fuhr in die Höhe und rief:
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie wissen, wo der Mann ist?«
»Ich weiß vielleicht nicht ganz genau, wo er ist, aber ich bin vollkommen sicher, dass ich der Polizei helfen könnte, ihn festzunehmen! Ist es Ihnen niemals eingefallen, dass es kein besseres Mittel gibt, den Mann zu fangen, als indem man ausfindig macht, von wem er seine Nahrungsmittel erhält? Man braucht nur die Spur zu verfolgen und man hat ihn!«
Der alte Herr schien in der Tat in sehr unbequemer Weise dicht bei der Wahrheit zu sein.
»Ohne Zweifel haben Sie recht«, antwortete ich, »aber wie wissen Sie überhaupt, dass er irgendwo auf dem Moor ist?«
»Das weiß ich, weil ich mit eigenen Augen den Boten gesehen habe, der ihm sein Essen bringt.«
Ich bekam Angst um Barrymore. Es war keine Kleinigkeit, in der Gewalt dieses boshaften alten Krakeelers zu sein. Aber als er weiter sprach, fiel mir ein Stein vom Herzen.
»Es wird Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass sein Essen ihm von einem Knaben gebracht wird. Ich sehe ihn jeden Tag durch mein Fernrohr, das oben auf meinem Dach steht. Er geht immer um dieselbe Stunde denselben Weg entlang, und zu wem sollte er gehen als zu dem Sträfling?«
Das war allerdings wirklich Glück! Doch trotz meiner inneren Freude unterdrückte ich jedes Anzeichen von Neugier. Ein Knabe! Barrymore hatte gesagt, unser Unbekannter würde von einem Knaben bedient. Auf dessen Spur und nicht auf die des Sträflings war Frankland geraten! Wenn ich ihn dazu bringen konnte, mir alles zu sagen, was er wusste, so ersparte mir das vielleicht eine lange und mühsame Jagd. Aber das beste Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, waren offenbar zur Schau getragene Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit.
»Meiner Meinung nach dürfte es wahrscheinlicher sein, dass der Junge der Sohn irgendeines Moorschäfers ist und seinem Vater das Mittagessen bringt.«
Bei dem geringsten Widerspruch sprühte der alte Autokrat sofort Feuer und Flammen. Er sah mich mit einem giftigen Blick an und seine grauen Barthaare sträubten sich wie die eines wütenden Katers.
»Was Sie nicht sagen!«, rief er, und damit streckte er den Finger in Richtung Moor aus. »Sehen Sie dahinten den Black Tor? Sehen Sie darunter den niedrigen Hügel mit dem Dornbusch drauf? Es ist der steinigste Teil des ganzen Moores. Würde wohl ein Schäfer da sein Standquartier aufschlagen? Ihre Meinung, Herr, ist im höchsten Grad abgeschmackt!«
Ich antwortete ganz kleinlaut, ich hätte gesprochen, ohne alle diese Tatsachen zu kennen. Meine Unterwürfigkeit gefiel ihm und veranlasste ihn zu weiteren vertraulichen Mitteilungen.
»Verlassen Sie sich darauf, Doktor, ich habe meine guten Gründe, bevor ich mir eine Meinung bilde. Ich sah den Jungen wieder und immer wieder mit seinem Bündel. Jeden Tag und oft sogar zweimal täglich konnte ich – aber warten Sie doch mal, Doktor Watson! Täuschen meine Augen mich oder bewegt sich gerade in diesem Augenblick etwas den Hügel hinauf?«
Die Entfernung betrug mehrere Meilen, aber ich konnte ganz deutlich auf dem dunkelgrauen und grünen Grund einen schwarzen Fleck sich abheben sehen.
»Kommen Sie, kommen Sie!«, rief Frankland und rannte dabei die Treppe hinauf. »Sie sollen mit Ihren eigenen Augen sehen und selber urteilen.«
Das Fernrohr, ein riesiges Instrument auf einem dreibeinigen Gestell, stand auf dem flachen Dach des Hauses. Frankland legte das Auge an das Glas und stieß einen Schrei der Genugtuung aus.
»Schnell, Doktor Watson, schnell! Sonst verschwindet er über dem Hügelgipfel!«
Richtig, da ging ein Junge mit einem kleinen Bündel auf der Schulter. Er stieg langsam den Hügel hinauf, und als er oben war, sah ich einen Augenblick lang die zerlumpte Gestalt sich gegen den kalten blauen Himmel abheben. Er sah sich mit scheuem Wesen um, wie einer, der verfolgt zu werden fürchtet. Dann verschwand er jenseits des Hügels.
»Na, hab ich recht?«
»Jedenfalls ging da ein Junge, der irgendeine geheime Besorgung zu machen scheint.«
»Und was das für eine Besorgung ist, das könnte sogar ein Grafschaftspolizist erraten! Aber kein Wort sollen sie von mir darüber erfahren, und ich verlange auch von Ihnen Verschwiegenheit, Doktor Watson. Kein Wort! Verstehen Sie?«
»Ganz, wie Sie wünschen.«
»Sie haben mich schändlich behandelt – schändlich! Wenn im Prozess Frankland gegen Reginam die Tatsachen ans Licht kommen, wird – das darf ich wohl annehmen – ein Schrei der Entrüstung durchs Land gehen! Nichts könnte mich dazu bringen, der Polizei in irgendeiner Weise beizustehen. Die hätte ja ruhig mit zugesehen, wenn ich selber anstatt meines Abbildes von den Schurken da auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre ... Aber Sie gehen doch nicht schon? Sie werden mir doch noch helfen, zu Ehren dieses großen Anlasses die Karaffe zu leeren?«
Aber ich blieb allen Einladungen gegenüber standhaft und schließlich gelang es mir auch, ihn von seiner Absicht abzubringen, mich nach Baskerville Hall zu begleiten. Solange er mir noch mit den Augen folgen konnte, blieb ich auf der Straße; dann aber bog ich vom Weg ab in das Moorland hinein und schritt auf den Felsenhügel zu, auf dessen Kuppe der Junge verschwunden war. Alle Umstände hatten sich zu meinen Gunsten gewandt, und ich schwor mir selber zu, wenn der glückliche Zufall mir keinen Erfolg brächte, sollte dies jedenfalls nicht an Mangel an Tatkraft oder Ausdauer von meiner Seite liegen.
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als ich den Gipfel des Hügels erreichte, und die langgestreckten Schluchten zu meinen Füßen glänzten auf der einen Seite in goldigem Grün und waren auf der anderen in graue Schatten gehüllt.
Aus dem Nebelstreifen, der in der Ferne den Horizont verbarg, ragten die phantastisch geformten Umrisse des Belliver und des Viren Tor hervor. Auf der ganzen weiten Fläche kein Laut, keine Bewegung! Ein großer grauer Vogel, eine Möwe oder ein Brachvogel, schwebte hoch über mir in der blauen Luft. Er und ich schienen die einzigen lebenden Wesen zwischen dem Riesengewölbe des Himmels und der weiten Wüste zu sein. Die traurige Landschaft, das Gefühl der Einsamkeit, das Geheimnisvolle und Dringliche meiner Aufgabe – dies alles ergriff mein Herz mit einem kalten Schauer. Der Junge war nirgends zu sehen. Aber tief unter mir in einer Schlucht war ein Kreis der alten Steinhütten, und in ihrer Mitte bemerkte ich eine, die noch hinreichend gut erhalten war, um gegen die Unbilden des Wetters Schutz bieten zu können. Das Herz klopfte mir, als ich sie sah. Dies musste das Versteck sein, worin der Fremde hauste. Endlich berührte mein Fuß die Schwelle seiner Zufluchtsstätte – sein Geheimnis lag greifbar vor mir.
Vorsichtig näherte ich mich der Hütte – ich musste an Stapleton denken, wenn er mit seinem Netz sich an den Schmetterling heranschlich, der sich auf eine Pflanze niedergelassen – und ich bemerkte mit Befriedigung, dass die Stätte wirklich als Wohnung benutzt worden war. Ein kaum erkennbarer Fußweg führte zwischen den Granitblöcken hindurch zu dem verfallenen Eingang der Hütte. Drinnen war alles still. Vielleicht hielt der Unbekannte sich dort versteckt, vielleicht aber streifte er auf dem Moor umher. Die Erregung der Abenteuerlust hielt meine Nerven auf das höchste gespannt. Ich warf meine Zigarette weg, umspannte mit der Faust den Kolben des Revolvers und ging schnellen Schrittes auf die Tür zu. Ich sah hinein. Der Raum war leer.
Aber es waren Anzeichen in Hülle und Fülle vorhanden, die dafür sprachen, dass ich auf keiner falschen Fährte war. Ganz bestimmt musste der Mann hier wohnen. In einen wasserdichten Regenmantel eingewickelt lagen mehrere Wolldecken auf der Steinplatte, die schon den Heiden der Vorzeit als Schlummerstätte gedient hatte. Auf einem primitiven Feuerrost lag ein Haufen Asche. Daneben bemerkte ich einige Küchengeräte und einen halbvollen Wassereimer. Eine Anzahl aufeinander geworfener leerer Zinnbüchsen bewiesen mir, dass die Hütte schon seit einiger Zeit bewohnt sein müsse, und als meine Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich in der Ecke eine Pfanne und eine angebrochene Flasche Branntwein.
Mitten im Raum lag ein flacher Stein, der als Tisch diente, und auf diesem lag, in ein Tuch eingewickelt, ein kleines Bündel – ohne Zweifel dasselbe, das ich durch das Fernrohr auf der Schulter des Jungen bemerkt hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Büchse mit Zunge und zwei Dosen mit eingemachten Pfirsichen. Ich prüfte alle diese Gegenstände sorgfältig, und als ich sie wieder hinsetzte, bemerkte ich plötzlich mit Herzklopfen, dass unter dem Bündel ein Blatt Papier lag, worauf etwas geschrieben war. Ich nahm es in die Hand und las folgende Worte, die in unbeholfenen Zügen mit Bleistift gekritzelt waren:
»Doktor Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.« Eine Minute lang stand ich, das Papier in der Hand haltend, regungslos da. Was bedeutete diese kurze Botschaft? So war ich es also und nicht Sir Henry, der von diesem geheimnisvollen Mann belauert wurde? Er war mir nicht selber gefolgt, sondern hatte mir einen Agenten – vielleicht den Jungen – auf die Spur gehetzt, und dies war der Bericht. Vielleicht hatte ich seit meiner Ankunft auf dem Moor keinen einzigen Schritt getan, der nicht beobachtet und berichtet worden war!
Immer wieder drängte sich mir das Gefühl auf, dass eine unsichtbare Macht uns umgab, dass mit außerordentlicher Geschicklichkeit und Sorgfalt ein feines Netz um uns gespannt war – ein so leichtes und feines Netz, dass wir nur in gewissen, entscheidenden Augenblicken uns bewusst wurden, wirklich in die Maschen desselben verstrickt zu sein.
Wenn der Fremde einen schriftlichen Bericht empfangen hatte, mochten wohl auch deren mehrere vorhanden sein; ich durchsuchte deshalb die ganze Hütte danach, fand indessen nicht das allergeringste Derartige. Ebenso wenig entdeckte ich irgendein Anzeichen, woraus ich auf den Charakter oder die Absichten des Mannes hätte schließen können, der sich eine so ungewöhnliche Wohnung ausgesucht hatte. Nur so viel ergab sich klar und deutlich, dass er ein Mann von spartanischen Lebensgewohnheiten sein musste und dass er sich aus den Bequemlichkeiten der Häuslichkeit wenig machte. Wenn ich an die schweren Regengüsse der letzten Zeit dachte und mir die klaffenden Lücken der Bedachung ansah, konnte ich mich der Überzeugung nicht verschließen, dass nur eine starke und unerschütterliche Willenskraft ihn befähigen konnte, an einem so unwirtlichen Platz zu bleiben. War er unser erbitterter Feind oder etwa unser Schutzengel? Ich nahm mir fest vor, die Hütte nicht eher zu verlassen, als bis ich mir darüber Klarheit verschafft hätte.
Draußen ging jetzt gerade die Sonne unter, und über den westlichen Himmel ergoss sich eine Glut von Rot und Gold. Ihr Widerschein lag in rötlichen Flecken auf den Wasserlachen im fernen großen Grimpener Sumpf. Ich sah die beiden Türme von Baskerville Hall, und eine undeutliche Rauchsäule zeigte mir den Ort an, wo das Dorf Grimpen lag. Zwischen diesen beiden Punkten, hinter dem Hügel, sah ich das Stapletonsche Haus. So sanft und friedlich lag das alles da in der goldenen Abendsonne, und doch, als mein Blick darüber hinschweifte, da fühlte meine Seele nichts von dem Frieden der Natur, sondern sie erbebte nur in einem unbestimmten Grauen vor dem Zusammentreffen, welchem jede Minute mich näher brachte. Aufgeregt, aber fest entschlossen, saß ich im finsteren Versteck der Hütte und erwartete mit düsterer Geduld die Heimkehr ihres Bewohners.
Endlich hörte ich ihn. Ein scharfes Klappen von einem Stiefel, der fest auf den Felsgrund auftrat. Und noch ein Klappen und wieder und wieder eins, näher und immer näher. Ich zog mich ganz in die dunkelste Ecke zurück und spannte den Revolver in meiner Tasche, fest entschlossen, meine Anwesenheit nicht eher zu verraten, als bis es mir gelungen wäre, einen Blick auf den Fremden zu werfen. Dann kam eine lange Pause; ich hörte nichts mehr – offenbar war er stehen geblieben. Dann kamen wieder die Fußtritte näher, und ein Schatten fiel quer über die Türöffnung.
»’s ist ein schöner Abend, mein lieber Watson«, sagte eine wohlbekannte Stimme. »Ich glaube wirklich, Sie sitzen hier draußen angenehmer als drinnen.«
Ein paar Augenblicke saß ich bewegungslos da; mir stockte der Atem, kaum wollte ich meinen Ohren trauen. Dann auf einmal hatte ich das Gefühl, als ob eine erdrückende Last von Verantwortlichkeit mir plötzlich von der Seele genommen würde. Diese kalte, schneidende, ironische Stimme konnte auf der ganzen Welt nur einem einzigen Mann angehören. Und ich rief:
»Holmes! ... Holmes!«
»Kommen Sie heraus«, sagte er, »und seien Sie vorsichtig mit dem Revolver.«
Ich bückte mich und kroch unter dem roh behauenen Steinblock durch, der quer über der Türöffnung lag. Richtig, da saß Holmes draußen auf einem Stein, und seine grauen Augen tanzten vor Vergnügen, als sein Blick auf mein erstauntes Gesicht fiel. Er war mager und abgezehrt, dabei aber frisch und gesund, sein scharf geschnittenes Gesicht war von Sonne und Wind gebräunt. Seiner Kleidung nach sah er aus wie ein gewöhnlicher Tourist, der das Moor besucht, und mit seiner katzenmäßigen Vorliebe für persönliche Sauberkeit hatte er es fertig gebracht, dass sein Kinn so glatt und seine Wäsche so sauber waren, wie wenn er in seiner Wohnung in der Baker Street gewesen wäre.
»Nie in meinem Leben habe ich beim Anblick eines Menschen eine solche Freude empfunden!«, rief ich, als ich ihm die Hand schüttelte.
»Und noch nie solches Erstaunen, nicht wahr?«
»Ja, das muss ich freilich zugeben.«
»Die Überraschung war durchaus nicht einseitig, das kann ich Ihnen versichern. Ich hatte keine Ahnung davon, dass Sie meinen derzeitigen Schlupfwinkel herausgefunden hätten und noch viel weniger, dass Sie in eigener Person darin säßen, als bis ich zwanzig Schritte von meiner Tür entfernt war.«
»Sie bemerkten wahrscheinlich meine Fußspur?«
»Nein, Watson, so weit geht denn doch meine Beobachtungsgabe nicht, dass ich Ihre Fußspur unter allen Fußspuren der ganzen Welt herausfinden könnte. Wenn Sie im Ernst wünschten, mich in eine Falle zu locken, müssen Sie sich einen anderen Tabaklieferanten anschaffen; denn wenn ich einen Zigarettenstummel finde, worauf die Firma ›Bradley, Oxford Street‹ steht, weiß ich, dass mein Freund Watson in der Nähe ist. Sie können den Stummel dort neben dem Fußweg sehen. Ohne Zweifel warfen Sie ihn im letzten Augenblick weg, als Sie Ihren Angriff auf die leere Hütte machten.«
»Ganz recht.«
»Das dachte ich mir wohl – und da ich Ihre bewunderungswürdige Ausdauer kenne, war ich überzeugt, dass Sie, mit einer Schusswaffe in Griffweite, im Hinterhalt säßen und auf die Heimkehr des Hüttenbewohners lauerten. Sie glauben also wirklich, ich sei der Verbrecher?«
»Ich wusste nicht, wer der Mann war, aber ich war fest entschlossen, das herauszubekommen.«
»Ausgezeichnet, Watson! Und wie machten Sie meine Wohnstätte ausfindig? Sahen Sie mich vielleicht in jener Nacht, wo Sie auf der Jagd nach dem Sträfling waren? Ich war damals so unvorsichtig, den Mond hinter mir aufgehen zu lassen.«
»Ja, ich sah Sie in jener Nacht.«
»Und haben ohne Zweifel alle Hütten durchsucht, bis Sie zu dieser hier kamen?«
»Nein, Ihr Junge war beobachtet worden, und dadurch bekam ich einen Anhaltspunkt, wo ich zu suchen hätte.«
»Jedenfalls von dem alten Herrn mit dem Fernrohr! Ich konnte erst gar nicht herausbekommen, was es war, als ich das Sonnenlicht von der Linse seines Instruments zurückgeworfen sah.« Holmes stand auf und warf einen Blick in die Hütte. »Ah, ich sehe, Cartwright hat mir wieder einige Vorräte gebracht. Doch was bedeutet denn dieser Zettel? Sie sind also in Coombe Tracey gewesen, wirklich?«
»Ja.«
»Und haben Mrs Laura Lyons besucht.«
»Ganz recht.«
»Ausgezeichnet! Unsere Nachforschungen haben sich offenbar in parallelen Richtungen bewegt, und wenn wir unsere Erlebnisse zusammenhalten, werden wir, davon bin ich überzeugt, eine ziemlich vollständige Kenntnis vom ganzen Fall besitzen!«
»Nun, jedenfalls bin ich von Herzen froh, dass Sie hier sind, denn die Verantwortlichkeit und das Geheimnisvolle der Sache, das beides zusammen wurde wirklich allmählich zu viel für meine Nerven. Aber warum in aller Welt kamen Sie denn hierher und was haben Sie hier getrieben? Ich glaubte, Sie säßen in der Baker Street und zerbrächen sich den Kopf über jener Erpressungsgeschichte.«
»Das sollten Sie auch glauben.«
»Dann benutzten Sie mich also für Ihre Zwecke und trauen mir doch nicht?«, rief ich ziemlich bitter. »Ich glaube, ich habe Besseres von Ihnen verdient, Holmes!«
»Mein lieber Watson, Sie sind bei diesem wie bei vielen anderen Fällen für mich von unschätzbarem Wert gewesen, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, wenn ich Ihnen anscheinend einen kleinen Streich gespielt habe. In Wirklichkeit geschah das hauptsächlich in Ihrem eigenen Interesse und eben weil ich die Größe der Gefahr kannte, von der Sie bedroht waren, kam ich her, um den Fall ganz in der Nähe zu prüfen. Wäre ich bei Sir Henry und Ihnen gewesen, hätte ich augenscheinlich von demselben Standpunkt geurteilt wie Sie beide, und meine Anwesenheit würde unsere höchst gefährlichen Gegner gewarnt haben, sodass sie auf der Hut gewesen wären. Indem ich auf meine eigene Faust handelte, konnte ich mich in einer Weise frei bewegen, wie es nicht möglich gewesen wäre, hätte ich im Schloss gewohnt. Ich bin und bleibe bei der Entwicklung der Angelegenheit ein unbekannter Faktor, der im gegebenen Augenblick mit seiner ganzen Bedeutung einspringen kann.«
»Aber warum ließen Sie mich im Dunkeln?«
»Hätten Sie gewusst, dass ich auf dem Moor war, konnte uns das nichts nützen, möglicherweise aber zu meiner Entdeckung führen. Sie hätten den Wunsch gehabt, mir irgendetwas mitzuteilen oder mir in Ihrer Gutherzigkeit die eine oder andere Bequemlichkeit herausgebracht, und das alles wären ganz überflüssige Wagnisse gewesen. Ich habe mir Cartwright mitgenommen – Sie erinnern sich wohl: der kleine Bursche von der Expressgesellschaft – und er hat für meine einfachen Bedürfnisse gesorgt: ein Laib Brot und ein reiner Kragen – was braucht ein Mann mehr? An ihm hatte ich ein zweites Paar Augen und ein Paar sehr flinker Füße, und beides ist für mich von unschätzbarem Wert gewesen.«
»Dann waren also alle meine Berichte zu gar nichts gut?«
Mein Stimme zitterte unwillkürlich, denn ich dachte an die große Mühe, die ich mir gegeben, und an den Stolz, womit ich sie ausgearbeitet hatte.
Holmes zog ein Päckchen Papiere aus der Tasche und sagte:
»Hier sind Ihre Berichte, meine lieber Watson, und ganz gehörig durchgearbeitet, das können Sie mir glauben. Ich hatte ausgezeichnete Vorkehrungen getroffen, und die Berichte gelangten nur um einen einzigen Tag verspätet in meine Hände. Ich muss Ihnen meine allergrößten Komplimente machen zu dem Eifer und der Intelligenz, die Sie bei einem so ungewöhnlich schwierigen Fall bewiesen haben.«
Ich war immer noch etwas empfindlich wegen der Komödie, die Holmes mit mir gespielt hatte, aber sein warmes Lob verscheuchte doch meinen Ärger. Ich fühlte auch innerlich, dass er mit dem, was er sagte, im Grunde genommen völlig recht hatte, und dass es in der Tat für unsere Absichten besser gewesen war, dass ich von seiner Anwesenheit auf dem Moor nichts gewusst.
»So ist’s besser!«, sagte Holmes, als er den Schatten von meinen Gesichtszügen verschwinden sah. »Und nun erzählen Sie mir, was Sie mit Ihrem Besuch bei Mrs Laura Lyons ausgerichtet haben – dass Sie bei ihr gewesen waren, konnte ich unschwer erraten, denn sie ist in Coombe Tracey die einzige Person, die in dieser Angelegenheit für uns von Nutzen sein kann. In der Tat, wären Sie nicht heute bei ihr gewesen, wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach morgen selber zu ihr hingegangen.«
Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung senkte sich auf das Moor herab. Die Luft war kühl geworden und wir zogen uns daher in die Hütte zurück, wo es wärmer war. Dort saßen wir im Zwielicht nebeneinander und ich berichtete Holmes meine Unterhaltung mit der Dame. Sie interessierte ihn in so hohem Grad, dass ich manche Stelle wiederholen musste, ehe er sich für befriedigt erklärte.
»Dies ist von höchster Wichtigkeit!«, rief er, als ich fertig war. »Eine Lücke in diesem sehr verwickelten Fall, die ich nicht überbrücken konnte, ist jetzt ausgefüllt. Sie wissen vielleicht, dass zwischen der Dame und diesem Stapleton eine sehr innige Vertraulichkeit besteht?«
»Von enger Vertraulichkeit war mir nichts bekannt.«
»In dieser Beziehung kann kein Zweifel obwalten. Sie kommen zusammen, sie schreiben sich, es herrscht zwischen ihnen ein vollkommenes Einverständnis. Nun, durch Ihre Unterredung haben wir eine sehr wirksame Waffe in unsere Hände bekommen. Wenn ich diese nur anwenden könnte, um seine Frau von ihm abzubringen ...«
»Seine Frau?«
»Ja, jetzt bekommen Sie von mir etwas Neues zu hören zum Austausch für all das, was ich durch Sie erfahren habe. Die Dame, die hier für Miss Stapleton gegolten hat, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
»Um Himmels willen, Holmes! Sind Sie auch dessen sicher, was Sie da sagen? Wie hätte er Sir Henry erlauben können, sich in sie zu verlieben?«
»Wenn Sir Henry sich in sie verliebte, konnte das keinem Menschen etwas schaden als nur dem Baronet selber. Er passte mit ganz besonderer Sorgfalt darauf auf, dass Sir Henry seine Liebe zu ihr nicht in Handlungen umsetzte; das haben Sie ja selber bemerkt. Ich wiederhole, die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.«
»Aber wozu diese umständliche Täuschung?«
»Weil er vorausgesehen hatte, dass sie ihm im Charakter einer Unverheirateten von viel größerem Nutzen sein würde.«
Alle meine unausgesprochenen instinktiven Verdachtsgründe nahmen plötzlich bestimmte Formen an, und alles sprach gegen den Naturforscher. In diesem leidenschaftslosen blassen Mann mit seinem Strohhut und dem Schmetterlingsnetz glaubte ich jetzt ein furchtbares Wesen zu sehen – ein Geschöpf voll unendlicher Geduld und Geschicklichkeit, mit lächelndem Antlitz und einem Mörderherzen.
»So ist also er unser Feind – er war es, der uns in London nachspürte?«
»Das halte ich für des Rätsels Lösung.«
»Und die Warnung – die muss dann von ihr gekommen sein!«
»Ganz gewiss.«
Ein furchtbares Schurkenwerk, halb gesehen, halb nur geahnt, trat aus der Dunkelheit hervor, die mich so lange umfangen gehalten hatte.
»Aber sind Sie auch Ihrer Sache sicher, Holmes? Woher wissen Sie, dass sie seine Frau ist?«
»Weil er sich so weit vergessen hatte, Ihnen beim ersten Zusammentreffen ein Stück seiner wirklichen Lebensgeschichte zu erzählen, und verlassen Sie sich darauf, das hat ihm seither schon manches Mal leid getan. Er hatte wirklich früher eine Schule in Nordengland. Nun kann man über keinen Menschen leichter etwas erfahren als über einen Schullehrer. Es gibt Stellenvermittlungsagenten für Lehrer, durch die man die Identität eines jeden feststellen kann, der einmal diesem Beruf angehört hat. Durch eine kleine Nachforschung erfuhr ich, dass eine Schule unter entsetzlichen Umständen zugrunde gegangen und dass ihr Eigentümer – dessen Name anders lautete – mit seiner Frau verschwunden war. Die Personalbeschreibungen passen. Als ich erfuhr, dass der Flüchtling sich ganz besonders für Schmetterlingskunde interessiert hatte, war kein Zweifel mehr möglich.«
Das Dunkel lichtete sich – aber noch immer lag gar vieles im Schatten.
»Wenn die Frau wirklich seine Gattin ist«, fragte ich, »wie kommt dann diese Mrs Laura Lyons mit ins Spiel hinein?«
»Das ist einer von den Punkten, die durch Ihre Nachforschungen aufgehellt worden sind. Ihr Gespräch mit der Dame hat die Situation bedeutend geklärt. Ich wusste nicht, dass eine Scheidung von ihrem Mann in Aussicht genommen war. Wenn aber dies der Fall ist, rechnete sie ohne Zweifel darauf, dass Stapleton sie heiraten werde, da sie ihn für einen unverehelichten Mann ansah.«
»Und wenn sie über ihre Täuschung aufgeklärt wird?«
»Ja, dann werden wir in der Dame vielleicht ein nützliches Werkzeug für uns finden. Das Erste, was wir morgen zu tun haben, ist, dass wir sie aufsuchen – und zwar wir beide zusammen ... Glauben Sie nicht, Watson, dass Sie schon ziemlich lange von Ihrem Posten fort sind? Ihr Platz sollte in Baskerville Hall sein.«
Die letzten roten Streifen waren am westlichen Himmel verblichen, und nächtliches Dunkel hatte sich auf das Moor herniedergesenkt. Ein paar schwache Sternpünktchen glommen am violetten Himmel auf.
»Noch eine letzte Frage, Holmes!«, sagte ich, indem ich aufstand. »Ganz gewiss brauchen doch wir beide keine Geheimnisse voreinander zu haben. Was bedeutet dies alles? Was will er?«
Flüsternd antwortete Holmes mir:
»Es ist Mord, Watson – abgefeimter, kaltblütiger, hartherziger Mord! Fragen Sie mich nicht nach Einzelheiten! Mein Netz schwebt über ihm, so wie sein Netz über Sir Henry schwebt, und dank Ihrer Hilfe ist er bereits sozusagen ohne Gnade in meine Hand gegeben. Nur eine Gefahr kann uns noch drohen: dass er seinen Streich führt, bevor wir so weit sind. Noch einen Tag – höchstens zwei! – und ich habe mein Material vollständig beisammen –, aber bis dahin seien Sie auf Ihrem Posten und halten Sie so sorgsam Wacht wie eine Mutter bei ihrem kranken Kind. Ihr heutiges Tagewerk war durch die Umstände berechtigt, und doch möchte ich beinahe wünschen, Sie wären ihm nicht von der Seite gewichen – – Hören Sie! Was ist das?«
Ein furchtbarer Schrei – ein langer gellender Schrei voll Angst und Entsetzen drang aus der Einsamkeit des schweigenden Moors zu uns herüber. So entsetzlich war der Ton, dass das Blut in meinen Adern zu Eis erstarrte. »O mein Gott!«, stöhnte ich. »Was ist das? Was kann das bedeuten?«
Holmes war aufgesprungen, und ich sah die dunklen Umrisse seiner athletischen Gestalt sich in der Öffnung der Hütte abzeichnen. Die Schultern gebeugt, den Kopf vorgeneigt, mit scharfen Augen in die Finsternis hineinspähend – so stand er da!
»Psst!«, zischelte er. »Psst!«
Der Schrei war laut zu uns herübergedrungen, weil er mit ungeheurer Heftigkeit ausgestoßen war, aber als er in einem Stöhnen erstarb, da erkannten wir, dass er in weiter Ferne irgendwo auf der dunkeln Ebene erschollen war. Dann drang ein neuer Schrei an unser Ohr – näher, lauter, dringender als der erste.
»Wo ist es?«, flüsterte Holmes, und ich erkannte an dem Zittern seiner Stimme, dass er, der Mann von Stahl und Eisen, bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert war.
»Wo ist es, Watson?«
»Dort, glaube ich!« Und ich wies in die dunkle Landschaft hinein.
»Nein, dort!«
Wieder durchbrach der Todesschrei die nächtliche Stille – wieder lauter und näher als die vorigen. Und ein neuer Laut mischte sich mit ihm, ein tiefer, grollender Ton, klangvoll und doch drohend, steigend und fallend wie das unablässige tiefe Rauschen des Meeres.
»Der Hund!«, schrie Holmes. »Kommen Sie, Watson, vorwärts! Großer Gott, wenn wir zu spät kämen!«
Er war hinausgesprungen und rannte schnell über das Moor dahin. Ich folgte ihm unmittelbar auf den Fersen. Aber auf einmal kam irgendwo aus der Wirrnis der unmittelbar vor uns liegenden Schluchten und Klüfte ein letzter, verzweiflungsvoll aufgellender Schrei, und dann ein dumpfer, schwerer Schlag. Wir standen still und lauschten. Aber kein Laut durchbrach mehr das drückende Schweigen der windstillen Nacht.
Ich sah, wie Holmes sich wie ein Wahnsinniger mit der Faust vor die Stirn schlug. Er stampfte mit dem Fuß auf und rief:
»Er hat uns geschlagen, Watson! Wir sind zu spät gekommen!«
»Nein, nein, gewiss nicht!«
»Tor, der ich war, dass ich nicht zuschlug! Und Sie, Watson, da sehen Sie die Folgen davon, dass Sie von Ihrem Posten gegangen sind! Aber, beim himmlischen Gott, wenn das Schlimmste eingetreten ist, werden wir ihn rächen.«
Blindlings rannten wir in die Finsternis hinein; wir stießen uns an Granitblöcken, brachen uns durch Ginsterbüsche Bahn, keuchten Hügel hinauf und sprangen mit großen Sätzen in Schluchten hinunter, doch gelang es uns im Großen und Ganzen die Richtung einzuhalten, aus der die fürchterlichen Schreie gekommen waren. Jedes Mal, wenn wir auf einer Höhe waren, warf Holmes einen schnellen Blick um sich, aber die Schatten lagen dick auf dem Moor und nichts bewegte sich auf der öden Fläche.
»Sehen Sie etwas?«
»Nichts.«
»Aber, hören Sie, was ist das?«
Ein leises Stöhnen war an unser Ohr gedrungen. Und noch einmal – es war zu unserer Linken! Dort lief ein Felsengrat in eine steile Wand aus, die eine mit Steinblöcken besäte Schlucht überragte. Und auf diesem Grund lag etwas Dunkles von eigentümlicher Form. Doch als wir hinzuliefen, nahmen die unbestimmten Linien feste Gestalt an. Es war ein Mann, der, das Gesicht nach unten, auf dem Boden lag; der Kopf stak in einem fürchterlichen Winkel unter dem Leib, die Schultern waren gerundet und der ganze Körper war zusammengezogen, als ob der Mann im Begriff wäre, einen Purzelbaum zu schlagen. So grotesk war die ganze Haltung, dass es mir im ersten Augenblick gar nicht zum Bewusstsein kam, mit jenem letzten Seufzer das Verhauchen seiner Seele gehört zu haben. Kein Flüstern, kein Röcheln ging mehr von der dunklen Gestalt aus, über die wir uns herniederbeugten. Holmes berührte sie mit der Hand und erhob diese sofort wieder mit einem Ausruf des Entsetzens. Er rieb ein Zündholz an; der schwache Schein fiel auf seine blutbedeckten Finger und auf die grausige Blutlache, die langsam dem zerschmetterten Schädel des Opfers entfloss. Und er fiel noch auf etwas anderes, dessen Anblick uns vor Weh krank machte und uns einer Ohnmacht nahe brachte – auf die Leiche von Sir Henry Baskerville!
Keiner von uns beiden konnte einen Augenblick im Zweifel sein; nur zu gut kannten wir den eigentümlich rötlichen, halbwollenen Anzug – denselben, den er an jenem ersten Morgen trug, als wir ihn in der Baker Street kennen lernten. Wir konnten nur den einen flüchtigen, aber untrüglichen Blick darauf werfen. Dann flackerte das Zündholz und erlosch – so wie die Hoffnung in unseren Herzen erloschen war. Holmes stöhnte, und ich sah trotz der Finsternis sein Gesicht, weil es ganz weiß geworden war.
»Die Bestie, die Bestie!«, rief ich mit geballten Fäusten. »Oh, Holmes, niemals werde ich’s mir verzeihen, dass ich Sir Henry seinem Schicksal schutzlos preisgegeben habe!«
»Ich bin mehr zu tadeln als Sie, Watson. Um meinen Fall recht schön abgerundet und vollständig vor mir zu haben, vergeudete ich das Leben meines Klienten! Es ist der härteste Schlag, der mich jemals während meiner ganzen Laufbahn getroffen hat. Aber wie konnte ich wissen – wie konnte ich wissen –, dass er, allen meinen Warnungen zum Trotz, allein! aufs Moor gehen würde, wo er sein Leben riskierte?«
»Ach, und wir hörten seine Schreie – o mein Gott, und was für Schreie – und waren doch nicht imstande, ihn zu retten. Wo ist die Bestie von Hund, die ihn in den Tod hetzte? Vielleicht liegt sie in diesem selben Augenblick zwischen den Felsen hier verborgen. Und Stapleton, wo ist er? Er soll für seine Tat Rechenschaft ablegen!«
»Das soll er! Dafür will ich sorgen. Onkel und Neffe sind ermordet worden. – Der eine zu Tode geängstigt durch den bloßen Anblick einer Bestie, die er für übernatürlich hielt, der andere in seiner wilden Flucht vor eben demselben Tier ins Verderben gejagt! Aber jetzt haben wir zu beweisen, dass zwischen dem Mann und dem Tier eine Verbindung besteht. Das Letztere haben wir allerdings gehört, aber auf die Existenz desselben können wir vor Gericht nicht einmal schwören, denn Sir Henrys Tod ist augenscheinlich infolge seines Sturzes erfolgt. Aber, bei Gott im Himmel!, so schlau der Bursche auch ist –, er soll in meiner Gewalt sein, ehe vierundzwanzig Stunden vergangen sind!«
Die Herzen von Bitterkeit erfüllt standen wir zu beiden Seiten des zerschmetterten Leichnams, überwältigt von diesem plötzlichen und nie wieder gut zu machenden Unglück, das all unserer langen und mühseligen Arbeit ein so plötzliches Ende bereitet hatte. Dann, als der Mond aufgegangen war, kletterten wir zum Gipfel des Felsens empor, von dessen Höhe unser armer Freund abgestürzt war; von dort aus spähten wir über das weite Moor, auf welchem silbernes Mondlicht und düstere Schatten wechselten. In meilenweiter Ferne, in der Richtung des Dorfes Grimpen leuchtete ein einzelnes gelbes Licht immer auf derselben Stelle. Es konnte nur das einsame Wohnhaus der Stapletons sein. Mit einem hasserfüllten Fluch schüttelte ich meine Fäuste nach jener Richtung.
»Warum sollten wir ihn nicht sofort festnehmen?«
»Unsere Beweise sind nicht vollständig. Der Bursche ist über alle Maßen vorsichtig und schlau. Nicht darauf kommt es an, was wir wissen, sondern darauf, was wir beweisen können. Wenn wir einen einzigen falschen Schritt tun, kann der Schurke uns vielleicht selbst jetzt noch entwischen!«
»Was können wir tun?«
»Morgen werden wir Arbeit in Hülle und Fülle haben. Heute Abend können wir nur noch unserem armen Freund die letzten Dienste erweisen.«
Wir stiegen wieder den jähen Abhang hinunter und näherten uns dem Leichnam, der als dunkler Fleck sich scharf von den mondlichtübergossenen Steinen abhob. Beim Anblick dieser im Todeskampf verrenkten Glieder überwältigte mich der Schmerz und heiße Tränen schössen mir in die Augen.
»Wir müssen Hilfe heranholen, Holmes! Wir können ihn nicht den ganzen Weg bis zum Schloss allein tragen. Gott im Himmel, sind Sie wahnsinnig geworden?«